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# taz.de -- Sexualisierte Gewalt im Bosnienkrieg: Gegen das Vergessen
> Überlebende sexualisierter Gewalt im Bosnienkrieg werden in ihrer Heimat
> kaum beachtet. Im Bundestag fordern sie eine bessere Erinnerungskultur.
Bild: Jeder Ballon trägt den Namen eines Todesopfers: Gedenken im ehemaligen K…
Midheta Kaloper sitzt im Bundestag und sagt: „Ich spreche hier als Opfer.
Ich war 20. Ich wurde vergewaltigt und misshandelt, wie fast alle Mädchen
und Frauen in Foča. Doch eine Gedenktafel gibt es nicht.“ Die Präsidentin
der Vereinigung [1][der Kriegsopfer] „Foča 92–95“ kämpft seit fast 20
Jahren für die Aufarbeitung und [2][Erinnerung der Kriegsverbrechen] und
des Genozids an den Bosniaken im Bosnienkrieg.
Dieser Kampf führt Kaloper nach Berlin. Gemeinsam mit Ajna Jusić, Nusreta
Sivac, Nedim Mustačević und Ajna Mahmić eilt sie im März von Gespräch zu
Gespräch. Auf Einladung der Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoğuz
berichtet die Delegation über die schleppende Aufarbeitung der
Kriegsverbrechen. Bei Treffen mit deutschen Politiker*innen, NGOs und
renommierten Anwält*innen fordern sie politische Unterstützung.
Kaloper sitzt neben Özoğuz, als sie über die [3][Vergewaltigung als
billigste Kriegswaffe] spricht, „die den größtmöglichen Schaden
hinterlässt“. „Wir müssen uns nicht schämen“, sagt sie im Bundestag. E…
Blicke wandern durch den Großen Saal. Nach zwei Stunden unterbricht Özoğuz
die Runde – das Mittagessen mit dem Ausschuss feministische Außenpolitik
wartet. Gutgelaunt geht die Gruppe zur Kantine. „Man darf nicht erwarten,
dass die Opfer immer gebeugten Hauptes gehen. Sie sind selbstbewusst und
stehen für ihre Rechte ein“, sagt Özoğuz der taz.
In ihrer Heimat kämpfen sie gegen zögernde Staatsanwaltschaft,
Stigmatisierungen und Nationalist*innen. Ihre Schicksale und Kämpfe sind so
ähnlich wie unterschiedlich. Nusreta Sivac war Richterin, als sie im
Konzentrationslager Omarska zwei Monate lang gefangen genommen wurde. „Wir
waren tausende Männer und 37 Frauen. Fünf Frauen haben nicht überlebt“,
erzählt sie.
## Keine Entschuldigung, keine Distanzierung
Auf dem Gelände des Konzentrationslagers steht ein Kreuz als Denkmal –
jedoch nur für die gefallenen Soldaten der Republika Srpska. „Dieses
Denkmal soll es auch geben, aber eben an dem Ort, an dem Soldaten gestorben
sind. Die Dinge werden verdreht. Man gewinnt den Eindruck, serbische
Soldaten wären dort gefallen“, sagt Sivac.
Am meisten schmerze es, dass sich die Stadt und Region Prijedor seit 20
Jahren nicht entschuldigt oder von den Gräueltaten distanziert habe.
Prijedor liegt in der Republika Srpska, einer Teilrepublik in Bosnien und
Herzegowina. Präsident Milorad Dodik leugnete öffentlich den Genozid in
Srebrenica, viele serbischen Nationalist*innen leben dort. „Da
triumphiert das Verbrechen“, sagt Sivac.
Die Täter-Opfer-Umkehr in den Westbalkanstaaten und der Republika Srpska
bekommt auch Nedim Mustačević auch zu spüren. Mustačević ist Präsident der
Vereinigung der Lagerinsassen. 2007 verklagte er seine Peiniger vor
Gericht. „Ich habe einen halben Monat im Konzentrationslager verbracht. Ich
gehöre einer Population an, die immer noch Tortur erleben muss.“ Für die
Gerichtskosten muss Mustačević selbst aufkommen.
Schließlich sagte man Mustačević, die Verbrechen seien verjährt. „Wir sind
das einzige Land, in dem die Opfer für die Täter zahlen“, sagt er. Einer
der Angeklagten sitzt heute im Gefängnis. „Er sei arm, sagte die Richterin,
und befreite ihn von den Gerichtskosten. Er hat mich verprügelt, ich wurde
sexuell misshandelt – und ich soll zahlen?“, fragt Mustačević.
Von den 20.000 Überlebenden von Vergewaltigungen konnten nur wenige die
Täter schließlich vor Gericht bringen oder auch nur eine Entschädigung
erhalten. Das zeigt ein Gutachten, das Özoğuz in Auftrag gab. Die
Verurteilungsquote liegt zumindest in der Föderation Bosnien und
Herzegowina oder im Brčko-Distrikt bei 80–90 Prozent, in der Republika
Srpska zwischen 2004 und 2016 nur bei rund 50 Prozent. Dabei ist die
Aufarbeitung der Kriegsverbrechen Voraussetzung für den EU-Beitritt von
Bosnien und Herzegowina.
## Klare Benennung von Opfer und Täter
„Die Erinnerungskultur ist unsere wichtigste Aufgabe. Bis die Fragen der
Kriegsopfer nicht geklärt sind, kann Bosnien der EU nicht beitreten“, sagt
Midheta Kaloper. Auch Özoğuz stellt klar: „Aufarbeitung eines Krieges
bedeutet auch, klar zu benennen, wer Opfer und wer Täter ist.“
Dazu gehört es auch, in der Region sichtbare Erinnerungsorte zu schaffen.
Leider arbeitet auch die Justiz oft nicht so, wie es der Sache eigentlich
angemessen wäre. Das ist etwas, was wir auch im EU-Beitrittsprozess immer
wieder ansprechen sollten“.
Bosnien und Herzegowina hat seit Dezember 2022 den
EU-Beitrittskandidatenstatus. Dass er vorgezogen wird, um aufgrund des
Ukraine-Krieges Zusammenhalt in Europa zu zeigen, versteht Ajna Jusić,
Präsidentin der Organisation “Vergessene Kinder des Krieges“.
Nur ausruhen dürfe sich Bosnien und Herzegowina auf diesem Status nicht.
Jusić wurde 1993 als erstes Kind im Frauenschutzhaus Medica geboren und
setzt sich für die Rechte von Menschen ein, deren Mütter von Soldaten
vergewaltigt wurden. „Wir waren eine unsichtbare Kategorie und sind
Diskriminierungen ausgesetzt. Wir wurden als Kriegswaffe genutzt, aufgrund
ethnologischer Ideologien angegriffen und als Kinder des Feindes verpöhnt.
Es ist eine große Belastung“, sagt Jusić und fordert: „Sie sollten die
gleichen Rechte kriegen wie Kinder von gefallenen Soldaten.“ Außerdem
wünscht sie sich das Recht auf kostenlose psychologische und juristische
Betreuung. „Ich will nichts verschönern. Ich glaube nicht, dass wir ein
solches Gesetz kriegen.“ Als Beispiel führt sie an, dass noch nicht überall
in Bosnien und Herzegowina das Gesetz, welches die „Kinder des Krieges“ als
zivile Kriegsopfer anerkennt, in Kraft getreten ist.
## Gute Chancen für Aussöhnung
Jusić sieht in der Arbeit mit Jugendlichen eine Chance, die Länder des
ehemaligen Jugoslawiens zusammenzubringen. „Man darf nicht glauben, dass
allein durch Justiz die Aufarbeitung eines Krieges möglich ist“, sagt
Özoğuz. Tatsächlich zeigt das besagte Gutachten, dass Konzepte für eine
innergesellschaftliche Aussöhnung und Förderung der friedlichen Koexistenz
der ehemaligen Konfliktparteien fehlen.
Ein Problem sei jedoch, dass noch viele Täter frei herumliefen, so Jusić.
„Aus unserem Unmut entsteht Angst, da wir bedroht werden“, sagt sie. Trotz
aller Widrigkeiten wird sie weiter auf das Schicksal der Kinder hinweisen.
„Und auf die Schwierigkeit der Zwangsmutterschaft. Vergewaltigungen
hinterlassen tiefe Folgen – auf das Individuum und auf die Gesellschaft.
Ein angemessener Umgang mit Kindern des Krieges ist kein bosnisches
Phänomen. Auch in Deutschland gibt es nur wenig Aufarbeitung geschweige
denn Denkmäler für Kinder, die während des Zweiten Weltkriegs aufgrund von
Vergewaltigungen geboren worden sind.
21 Mar 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Anton Kämpf
## TAGS
Bosnien und Herzegowina
Sexualisierte Gewalt
Bosnienkrieg
Serbien
Erinnerungskultur
Nationalismus
Bosnien
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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