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# taz.de -- Grüner Kapitalismus: Im Öko-Paradies
> In Finnland wird am nachhaltigeren Leben gearbeitet. Auch Profitgier
> steckt dahinter. Die Frage lautet: Ist das schlecht?
Bild: Finnland – der Himmel auf Erden für Bio-Fans?
Yväskylä taz | Maija Suutarinen nimmt den ganzen Raum für sich ein – wenn
sie lacht und über ihre Schaffarm spricht, ja, sogar in den seltenen
Momenten, in denen sie schweigt. „Ich will den Leuten zeigen, was wir tun
und warum“, sagt sie bestimmt. Tatsächlich verdeutlicht die Schaffarm
Hakamaa sehr gut, was nachhaltige Landwirtschaft und Tourismus zusammen
leisten können.
Suutarinens Hof liegt in Mittelfinnland, in der Region Jyväskylä, nur etwa
drei Stunden mit dem Zug von Helsinki entfernt, aber weit genug weg, um
eine völlig andere Welt zu eröffnen. Entlang der Bahngleise erstrecken sich
scheinbar endlose Birken- und Kiefernwälder, im finnischen Spätsommer
schimmern hier erste Schattierungen von Gelb durchs tiefe Grün. Diese
Wälder sind von seltsam glatten Felsen durchzogen, poliert und gerundet von
der Eiszeit sind sie, außerdem gibt es viel Weißmoos und absurd blaue Seen.
Der Hof selbst hat etwas Astrid-Lindgren-haftes mit seinen traditionellen,
dunkelroten Holzhäusern und weißen Fensterrahmen. Seltene Hühner wuseln
durch die Beete, 170 Schafe grasen auf der Weide. Suutarinen steht am
Gatter, ihre Tiere fressen Gras, kein Getreide, kein Kraftfutter.
„Wir geben ihnen die Zeit, die sie brauchen. Zuallererst kümmern wir uns um
die Schafe.“ Sie betont das Wort „kümmern“ und strahlt dabei Kraft und
Begeisterung aus.
Die Farmerin zeigt auf den Stall, den haben sie selbst gebaut, mit Lücken
im Dach für die Ventilation. „Dadurch haben die Tiere keine
Atemwegserkrankungen mehr.“ Auf den Weiden lässt sie die Tiere rotieren,
mal die Ponys hier und die Schafe dort, dann wieder umgekehrt. Diese alte
Vorgehensweise mindere den Parasitenbefall, sie brauchen zudem weniger
Medikamente.
„Wir haben seit zwei Jahren kein Antibiotikum genutzt.“ Und wann sie
rausgehen, wann sie grasen, das entscheiden die Schafe selbst. „Auch Tiere
haben das Recht, zu wählen.“ Neue Wege mit traditionellen Mitteln,
Revolution und Wärme in einem.
Doch Hakamaa ist kein Streichelzoo. Die Böcke werden größtenteils
geschlachtet, ihr Fleisch wird vom Hof weg verkauft. „Die Leute sollen
wissen, woher es kommt.“ Auch, wenn Suutarinen, das Stadtkind, immer noch
heult, wenn sie ein Tier zum Schlachter bringt. So erzählt sie es.
## TouristInnen packen mit an
Und TouristInnen machen hier keinen [1][Urlaub auf dem Bauernhof], sondern
erleben einen „Tag auf der Farm“, wo mit angepackt wird. Oder sie essen in
dem neu eröffneten Restaurant, wo es abgesehen von lokalen Fleischgerichten
vor allem vegetarische Kost gibt: selbst angebautes Gemüse, Beeren aus dem
Wald, frische Kräuter oder Güter von anderen lokalen HerstellerInnen. Fragt
man Suutarinen, die Ökologie studiert hat, woher sie all ihre Ideen nimmt,
antwortet sie: „Ich lese viel, ich habe tolle TierärztInnen, und weil ich
nicht vom Land komme, ist es einfacher für mich, dumme Fragen zu stellen.“
Fragt man sie, warum so wenige Menschen dasselbe tun, sagt sie, für die
Bauernkinder auf den konventionellen Farmen im Umland sei der Druck sehr
groß. „Dann heißt es: Das hat schon Opa so gemacht.“ Und darüber sei in
Vergessenheit geraten, was Ur-Opa viel besser gemacht habe. Vielleicht ist
Hakamaa auch deshalb ein überregionaler Magnet geworden, die Menschen
kommen jetzt selbst aus Helsinki, Familien und junge Paare vor allem.
Von einem Boom will Maija Suutarinen zwar nicht sprechen, aber es sei
spürbar, [2][dass TouristInnen Nachhaltigkeit heute mehr wertschätzten].
Und sie ist selbst baff, dass in Zeiten, wo ein Hof vor allem als
finanzielle Belastung gilt, so ein Konzept dermaßen gut funktioniert.
So etwas wie die Hakamaa-Farm, ist das die Zukunft für nachhaltigen
Tourismus auf dem Land? In ganz Finnland wird auch von Seiten des Staates
an der Nachhaltigkeit gearbeitet. Mit der „Agenda 2030“ soll Finnland schon
2035 klimaneutral sein, ein Vorreiter. Und im Jahr 2020 hat die
Organisation „Visit Finland“ ein neues Label auf den Markt gebracht,
„Sustainable Travel Finland“ (STF).
Wer es haben will, muss einen Sieben-Punkte-Plan durchlaufen, inklusive
Entwicklungsplan und regelmäßiger Überprüfung. Damit eine ganze Region als
nachhaltig gilt, müssen über die Hälfte der Tourismusbetriebe, inklusive
derer mit dem größten Umsatz, das Label erwerben. Jyväskylä ist eine
Pilotregion. Johanna Maasola, Tourismus-Koordinatorin bei Visit Jyväskylä
Region, sagt: „Viele Zertifikate schauen vor allem aufs Ökologische, das
STF-Label schaut auch auf kulturelle und sozioökonomische Aspekte. Wie
werden die Leute in der Region eingebunden, wie sind die
Arbeitsbedingungen?“
Ein ambitioniertes Vorhaben. Ironischerweise hat dabei der Vorzeigebetrieb
Hakamaa das Label noch nicht erworben. Maija Suutarinen fehlte bisher die
Zeit.
## Nachhaltigkeit und Marketing eng verwoben
Und doch bewegt sich dieser grüne Kapitalismus auch auf einem schmalen
Grat. In einem Café einer regionalen Kette in der Stadt Jyväskylä, das
Bio-Lebensmittel nutzt und von lokalen LieferantInnen bestellt, lässt die
Managerin keine Minute aus, zu erzählen, wie „super inspirierend“ ihr
Unternehmen, ihr Chef, ihr Handeln und überhaupt alles sei. In unserer
Gegenwart, [3][wo verkaufte Ware immer einen Mehrwert haben muss],
vermengen sich Marketing und Nachhaltigkeit oft bis zur Unkenntlichkeit.
Das merkt man auch in der Säynätsalo Town Hall, einem modernen Ensemble aus
roten Ziegeln, vor vielen Jahren entworfen von dem berühmten Architekten
Alvar Aalto. Nach der Eingemeindung Säynätsalos in Jyväskylä 1993 hatte es
seine Funktion verloren, schließlich hat es der Unternehmer Harri Taskinen
für TouristInnen geöffnet, mit Führungen und ein paar kleinen Gästezimmern.
Man habe die „We Speak Gay“-Plakette, weil man hoffe, dass es in der
Zielgruppe gut ankomme, erklärt Taskinen freimütig, es gebe ja viele
schwule Architekten. Die queere Community nennt er „LB-was weiß ich“. Nicht
immer erzählen die bunten Aufkleber die ganze Geschichte.
Dass Nachhaltigkeit und Liberalismus sich jetzt verkaufen, lässt sich aber
auch als Fortschritt betrachten. Das Beispiel von Harri Taskinen ist
interessant. Ein Unternehmer, der einräumt, sich vorher nie für Alvar Aalto
interessiert zu haben, bewahrt ein Bauwerk für die breite Masse und muss
dabei auf die AnwohnerInnen zugehen. „Die Leute vor Ort machen sich Sorgen:
Werden die Preise teurer, wenn so viele TouristInnen kommen? Gibt es keine
Parkplätze mehr?“
Also richtete er ein Wochenende pro Jahr ein, wo die Säynätsalo Town Hall
nur den AnwohnerInnen gehört, ohne Eintrittsgeld. Außerdem bietet er
lokalen KünstlerInnen eine Ausstellungsfläche an und es gibt Werkzeuge für
Fahrräder, Ladestationen für E-Bikes und auf der Website einen CO2-Rechner
für die Anreise. Das STF-Label hat er jetzt übrigens auch.
## Die Magie von Beeren, Pilzen, Pferden
Und dann gibt es die, die sich ohnehin ihren ökologischen Traum erfüllen.
Wie das Ehepaar Pipsa und Fränz Wagner auf der Purola Farm, einem Biohof
mit Islandpferden. Wieder so ein entlegenes Gehöft an einer Schotterpiste,
wieder liebevoll restaurierte dunkelrote Holzbauten. Eineinhalb Jahre lang
haben die Wagners das verfallene Gebäude instandgesetzt, umgeben von Wald,
an einem tiefblauen See. Hierher lädt Pipsa Wagner zum Ausritt.
Die geduldigen Islandpferde bewegen sich trittsicher über die Halbinsel,
und Wagner sagt, sie kenne nichts Schöneres, als diesen Wald zu Pferd zu
entdecken. Sie mag recht haben. Hier ist der finnische Spätsommer mit allen
Sinnen zu spüren: Riesige Pilze säumen den Weg, überall hängen reife Beeren
an den Büschen, und in der Luft hängt noch etwas warme Feuchtigkeit, die
sich mit der Kühle des herannahenden Herbstes mischt. „Wir wussten sofort,
das ist unser Ort“, sagt sie. „Für mich ist das Magie.“
Die Wagners wussten früh, dass sie nachhaltigen Tourismus machen wollen.
Seit sieben Jahren ist ihr Hof ein zertifizierter Biohof. Geheizt wird mit
eigenem Holz, für warmes Duschwasser sorgen Solarplatten, gekocht wird
vorwiegend lokal und bio. Es ist vielleicht kein Zufall, dass auch sie
Zugezogene sind, Fränz ist Luxemburger, Pipsa zwar Finnin, aber nicht aus
der Region. Sie seien dennoch herzlich empfangen worden.
Jedoch: Unterschiede beim Lebensstil gebe es. „Die Region ist nicht
wohlhabend“, sagt Fränz Wagner. „Bio-Essen ist für Leute eine Kostenfrage…
Sie wollen der Region etwas zurückgeben, mit Angeboten, die es vorher hier
nicht gab. Pipsa Wagner unterrichtet therapeutisches Reiten, etwa für
Kinder mit emotionalen Problemen, ADHS oder Essstörungen. Und dieses
Programm richtet sich explizit auch an die Mädchen und Jungen aus den
ärmeren Familien.
Transparenzhinweis: Diese Geschichte entstand mit der Unterstützung von
Visit Finland und dem Solo Sokos Hotel Paviljonki, das sich ebenfalls der
Nachhaltigkeit verschrieben hat.
11 Dec 2021
## LINKS
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[3] /Klimaschutz-im-Kapitalismus/!5786111
## AUTOREN
Alina Schwermer
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