# taz.de -- Eine Wanderung am deutschen Limes: Unterwegs durch Raum und Zeit | |
> In mehr als 30 Jahren ist unser Autor den kompletten Limes abgewandert | |
> und hat dabei viel gelernt – über die alten Römer und die heutigen | |
> Deutschen. | |
LIMES taz | Vielleicht war es doch keine so gute Idee, sich nach Monaten am | |
Homeoffice-Schreibtisch und ohne jede Vorbereitung wieder auf den Weg zu | |
machen. Vielleicht hätte ich vorher weitere Wanderungen als nur bis zur | |
nächsten Bäckerei unternehmen sollen. Aber dafür ist es jetzt zu spät. | |
Der Weg vom Sportplatz am Rand von Segendorf ist asphaltiert und führt | |
stetig bergan, langsam nur, aber doch deutlich. Rings um uns herum stehen | |
einzelne Obstbäume zwischen Feldern, rechts rückt der Wald näher. Je länger | |
es bergan geht, desto weiter geht der Blick hinunter ins Rheintal mit den | |
Städten Koblenz und Neuwied und darüber hinaus, bis in die Eifel. Es ist | |
ein klarer, aber kalter Frühlingsmorgen, kein Grund für Schweißausbrüche. | |
Aber trotzdem muss ich ab und an stehen bleiben und Luft holen. Die Beine | |
sind solche Anstiege nicht mehr gewöhnt. Ja, es ist großartig, endlich | |
wieder unterwegs sein zu können, aber auch ziemlich anstrengend. | |
Es wird der letzte Tag einer langen Wanderung werden. Einer Wanderung, die | |
vor über 30 Jahren begonnen hat. | |
Endlich taucht der Weg in den Wald ein, und hinter einem Gehöft endet die | |
Asphaltdecke. Es geht weiter bergan, aber die Steigung verringert sich. Wir | |
folgen den quadratischen weißen Schildern mit dem Turm, denen wir schon | |
immer gefolgt sind. Sie kennzeichnen die Wanderwege entlang des Limes, | |
dieser 550 Kilometer langen, beinahe zwei Jahrtausende alten römischen | |
Grenzbefestigung. Nur noch ein paar Kilometer, und wir haben es geschafft. | |
In der ersten Zeit nach der Eroberung des heutigen Südwestdeutschland | |
hatten es die Römer gar nicht nötig, an der nordöstlichen Grenze ihrer | |
Provinzen Germania superior und Raetia eine befestigte Barriere zu | |
errichten. Zu stark war ihre Übermacht. Gebaut wurde der | |
Obergermanisch-Raetische Limes dann ab dem Ende des 1. Jahrhunderts nach | |
Christus, unter den Kaisern Domitian und Trajan, zunächst als einfache | |
Schneise, unterbrochen von hölzernen Türmen. In der ersten Hälfte des 2. | |
Jahrhunderts entstand eine Palisade aus Baumstämmen, den Holztürmen folgten | |
allmählich solche aus Stein. Manche Ortsbezeichnungen erinnern noch daran, | |
etwa Pfahldorf in Bayern oder Pfahlheim in Baden-Württemberg. | |
Zwischen Hienheim an der Donau und dem baden-württembergischen Lorch, am | |
Raetischen Limes, ersetzte um das Jahr 200 herum eine steinerne Mauer die | |
Absperrung nach Osten, 1,20 Meter breit und 3 bis 4 Meter hoch. | |
„Teufelsmauer“, so nannten die Menschen seine Reste in späteren | |
Jahrhunderten, weil sie es sich nicht anders vorstellen konnten, als dass | |
nur der Beelzebub dieses gewaltige Bauwerk errichtet haben könnte. | |
In welchem Jahr wir – meine damalige Freundin und heutige Frau und ich – | |
unseren Weg begonnen haben, weiß ich nicht mehr genau. Es gibt keine | |
Tagebücher. Die Notizen, die sich in den zerlesenen Limeswanderbüchern | |
wiederfinden, sind rar: alte Busfahrscheine, ein paar Hotelprospekte, | |
Eintrittskarten für Museen. Es gibt einige Fotos, aber meist ohne | |
Datierung. Aber es muss um das Jahr 1987 gewesen sein, im Sommer, in | |
Bayern, in einem kleinen Dorf mit dem Namen Zandt, an einem Waldrand, das | |
weiß ich noch genau. Wir trugen völlig ungeeignete Halbschuhe und | |
schleppten Plastiktüten und winzige Rucksäcke mit uns. Ein Zelt und | |
Schlafsäcke waren auch dabei. Und nein, wir planten keine Fernwanderung. | |
Wir wollten nur mal für zwei Tage spazieren gehen. | |
Es kam ganz anders. Immer wieder sind wir zum Limes zurückgekehrt, um ihn, | |
von Südosten nach Nordwesten, für ein paar Tage abzulaufen, mal 30, mal 50 | |
oder auch 90 Kilometer weit. | |
Warum? Darum. Wegen der Römer, ja, auch. Wegen des Weges – ganz gewiss. In | |
manchen Jahren fielen diese zum Ritual gewordenen Wanderungen | |
Auslandsaufenthalten oder maladen Knien zum Opfer. Aber es ging irgendwann | |
weiter, ganz gewiss. | |
Der Weg entlang des Limes entwickelte sich zu einer Wanderung nicht nur | |
durch den Raum, sondern auch durch die Zeit. Letzteres gleich doppelt: Drei | |
Jahrzehnte sind eine kurze Zeit, wenn man sie mit der Geschichte der | |
römischen Grenzsperre vergleicht, die rund 150 Jahre lang ihre Funktion | |
erfüllte. Aber für ein Menschenalter sind 30 Jahre ziemlich lang. Und auch | |
Deutschland hat sich in dieser Zeit gewaltig verändert. Wiedervereinigung | |
und Internet, der Euro und die Bahnreform, Kriege, Flüchtlingsströme, | |
Klimakrise, Homo-Ehe, Waldsterben, Regierungswechsel, Kohl, Schröder, | |
Merkel. | |
Das längste Bodendenkmal Deutschlands bedarf in weiten Teilen der | |
Imagination. Denn nach dem Ende der römischen Herrschaft im 3. Jahrhundert | |
verfielen Wall, Palisaden und Mauer. Aus den Teufelsmauern wurden die | |
Steine herausgebrochen, sie dienten dem Bau von Kirchen und anderen | |
Gebäuden, der Pflug erledigte in den Feldern den Rest. Vom Limes ist | |
oberflächig betrachtet heute an den meisten Stellen nichts mehr übrig als | |
bisweilen eine Hecke oder eine Wegmarkierung. Auf dem Gelände von nahen | |
Kastellen wuchsen Dörfer und Städte. | |
Mit die größten Zerstörungen entstanden erst nach dem Zweiten Weltkrieg, | |
als der Bau von Neubausiedlungen für die Vertriebenen keinen Aufschub wegen | |
ein paar oller Steine und Scherben duldete, als schöne breite Straßen | |
verlangt wurden und sich die Pflüge der Bauern immer tiefer in die Erde | |
wühlten. | |
Und doch befindet sich an der befestigten Grenze Roms keine einzige | |
Großstadt. Eine Wanderung entlang ihrer Überreste ist deshalb auch eine | |
Reise durch die deutsche Provinz. Der Weg führt durch Dörfer und über | |
Feldwege, unter Autobahnen hindurch und über Bahnstrecken hinweg, entlang | |
von Ackerflächen und Bauernhöfen. Vor allem aber geht es durch Wald, der | |
immer noch ein knappes Drittel dieses Landes bedeckt. Und hier, wo die | |
Zivilisation trotz aller Fichtenmonokulturen nur gebremst zum Zuge gekommen | |
ist, ist die Geschichte nicht verschwunden. | |
Ein Buckel, bisweilen meterhoch, manchmal an die Überreste einer | |
stillgelegten Eisenbahnstrecke erinnernd, zieht sich schnurgerade durch das | |
Gehölz und lässt Wegmarkierungen als überflüssig erscheinen. Wir entdecken | |
die verwunschenen Reste einstiger Kleinkastelle und stoßen auf die | |
Standorte der regelmäßig angelegten Wachtürme, die sich, längst | |
aufgegebenen Bauvorhaben gleich, in kleinen Hügeln im Waldboden | |
manifestieren, von Moos überwachsen. | |
Andere Menschen klettern auf Bergspitzen oder durchstreifen den | |
südamerikanischen Regenwald. Wir folgen einer mal höheren, mal kaum mehr | |
sichtbaren Bodenwelle. Immer geradeaus, durch das platte Land der | |
hessischen Wetterau, hinauf in den Taunus und wieder herunter. Es gibt da | |
keine Sensationen zu entdecken. Weder haben wir einen römischen Goldschatz | |
gefunden, noch sind wir von Wegelagerern ausgeraubt worden. Dafür lernen | |
wir bei der An- und Abfahrt die Pünktlichkeit des deutschen | |
Personennahverkehrs schätzen und fluchen zugleich über die überaus seltene | |
Taktung an regionalen Busstationen. Hinweisen von Einheimischen sollte man | |
in diesem Zusammenhang nicht vertrauen. Sie besitzen schließlich ein Auto | |
und haben keine Ahnung. Busse sind etwas für Schulkinder. | |
Die Vorstellung, dass es sich beim römischen Limes um eine Grenzsperre | |
ähnlich der innerdeutschen Mauer oder Donald Trumps Bollwerk an der Grenze | |
zwischen den USA und Mexiko handeln würde, ist übrigens grundfalsch. Der | |
Limes bildete zwar eine deutliche Markierung der Grenze und war in seiner | |
Endphase auch gut bewacht. Doch zugleich war das Bauwerk ein Durchgangsraum | |
zwischen zwei Zivilisationen: einer höher entwickelten mit Kurbädern und | |
Fußbodenheizungen auf römischer und einer ursprünglicheren mit | |
Holzpfostenarchitektur der Hütten und Gebäude auf germanischer Seite. | |
Archäologen konnten eine große Zahl an Durchgängen nachweisen, wo offenbar | |
Menschen und Waren das Territorium wechselten. | |
Auch waren die hier eingesetzten Soldaten größtenteils gar keine Römer, | |
sondern zählten zu den aus Einheimischen zusammengesetzten Auxiliartruppen. | |
Nach 25 Jahren harten Dienstes winkte diesen Germanen das römische | |
Bürgerrecht und eine Genehmigung zur Eheschließung. Manch einer von ihnen | |
erhielt danach ein Stück Land in der Nähe des Limes, errichtete dort seine | |
villa rustica und versorgte die Truppen mit Lebensmitteln. Die | |
Luftbildarchäologie verrät die untergegangenen Mauern dieser Gutshöfe als | |
dunkle Schatten. | |
Diese durchlässige Grenze muss Händler und Glücksritter geradezu magisch | |
angezogen haben. Wahrscheinlich arbeiteten damals auf römischer Seite | |
germanische Gastarbeiter, und römische Händler durchstreiften Germanien. | |
Vom umfangreichen Technologie- und Ideentransfer zeugen Töpfereien nach | |
römischem Vorbild, die Archäologen weit vom Limes entfernt in Germanien | |
entdeckten. | |
Und auf der römischen Seite des Limes begannen die vormals germanischen | |
Einheimischen Latein zu sprechen, erst nur ein paar Brocken, dann | |
flüssiger. Die nächsten Generationen vergaßen schon ihre germanischen | |
Götter. Sie aßen eine Mischung aus mediterranen und germanischen Speisen. | |
Oliven, Wein, ja selbst Austern wurden in die entlegenen Provinzen an der | |
Reichsgrenze importiert. | |
Heute grenzt der Limes höchstens noch Flurgrundstücke voneinander ab. Der | |
Handel bewegt sich auf gut ausgebauten Autostraßen. In den Dörfern und | |
Kleinstädten Süddeutschlands, die wir durchqueren, geht es sauber und | |
ordentlich zu. „Beim Spielen bitte Mittagsruhe beachten“ steht auf | |
Schildern in einer baden-württembergischen Kommune geschrieben. Wiewohl | |
auch dort Einwanderer leben, bleiben die Migranten seltsam abwesend. Die | |
Gaststätten sind Anfang der 1990er Jahre noch durchgehend deutsch, die | |
Metzgereien und Bäckereien sowieso. | |
Erst nach der Jahrtausendwende und im Rhein-Main-Gebiet angekommen, wird | |
sich das ändern. Im hessischen Butzbach gibt es Döner, im Taunus kehren wir | |
bei Rumänen ein, und in Idstein wohnen wir bei Chinesen. Die deutsche | |
Provinz ist von der Anwesenheit der Migranten viel später verändert worden | |
als die größeren Städte. Und sie tut sich bis heute schwerer damit, diese | |
Veränderung als etwas Positives zu akzeptieren. | |
Anfangs waren wir allein. In den 1980er Jahren galt eine Wanderung als | |
gänzlich uncoole Erscheinung, unternommen bestenfalls noch von älteren | |
Herrschaften mit Seppelhut und Wanderstöcken, an denen halbrunde blecherne | |
Plaketten vergangener Touren prangten. Es gab noch keinen Hape Kerkeling, | |
der den Jakobsweg entlanggestiefelt und dabei in tiefgründige Gedanken | |
verfallen wäre. Es fanden sich höchstens von Rostflecken befallene Schilder | |
in der Nähe von Parkplätzen, die auf zugewachsene Trimm-dich-Pfade | |
hinwiesen. Die Verwunderung über unser Tun unter Bäckereifachverkäuferinnen | |
und Gasthausbetreibern war maßlos, ein Empfehlen sauberer Stellplätze für | |
das nicht vorhandene Kraftfahrzeug immer wiederkehrend. Manchmal erinnerte | |
man sich der Schulausflüge in der Jugend an diesen Limes, von | |
römerbegeisterten Geschichtslehrern angeleitet. | |
Später begegneten wir mehr Wanderern, zuletzt, an einem Sonntag in der Nähe | |
von Sayn im Rheintal, sind es Dutzende. Durch den Wald zu laufen ist zum | |
Trendsport geworden. Die hölzernen Wanderstöcke sind durch Trekkingstöcke | |
aus Kunststoff ersetzt, die Funktionskleidung ist von neuester Mode | |
bestimmt. Mountainbiker durchpflügen den Waldboden. Manche Besucher haben | |
keine Karten mehr dabei, sondern GPS-fähige Smartphones, die ihnen | |
metergenau den Weg weisen. Die Digitalisierung hat den deutschen Wald | |
erreicht. Wenn wir die Messtischblätter ausbreiten, kommen wir uns ziemlich | |
altmodisch vor. | |
Die Römer benötigten kein GPS, um ihre Grenze zu markieren. Der Limes | |
verläuft über Dutzende Kilometer schnurgerade wie mit einem Lineal gezogen. | |
Die Baumeister ließen sich auch nicht von Hügeln, Bergen und Tälern stören. | |
Wo heute in Schleifen gelegte Wege Ab- und Aufstieg erleichtern, zogen die | |
Militärstrategen ihren Limes geradezu senkrecht hinunter oder hinauf. Das | |
hat den eklatanten Nachteil, dass, wer nicht eben wie ein römischer | |
Legionär trainiert ist, beim Ablaufen der Grenze mächtig ins Schnaufen | |
geraten kann, zumal die Römer ihre Befestigung gern über die Spitzen der | |
höchsten Erhebungen verlegten, um von dort möglichst weite Fernsicht | |
genießen zu können. | |
Rund 900 solcher Wachtürme konnten Archäologen nachweisen, dazu 120 größere | |
und kleinere Kastellanlagen, meist im unmittelbaren Hinterland gelegen. | |
Zusammen bildeten sie in der letzten Ausbaustufe ein umfassendes | |
Warnsystem. Die Besatzungen der betreffenden Limestürme alarmierten mit | |
Fahnen, Fackeln und Rauchsäulen die Soldaten der Kleinkastelle, die | |
wiederum dafür sorgten, dass Eindringlinge zurückgeschlagen wurden. | |
Was mag das für ein Leben für die drei- bis fünfköpfige Besatzung in den | |
Türmen gewesen sein? Archäologen haben Handmühlen, Keramik und andere | |
Haushaltsgegenstände gefunden. Die Soldaten mussten sich also selbst | |
versorgen. Wie lange sie in den engem Türmen bis zur Wachablösung abwarten | |
mussten, ist nicht sicher bekannt. Vielleicht waren es Wochen, bis sie | |
endlich in eines der Kastelle einrücken durften, wo die Läden der | |
angeschlossenen Dörfer für ein wenig Abwechslung sorgten. | |
Manche dieser Kastellmauern sind konserviert, ein Kastell – die Saalburg im | |
Taunus – ist sogar wiederaufgebaut worden. Und auch Dutzende Römertürme, | |
bisweilen recht eigenwillig und ohne Anlehnung an ihr historisches Vorbild | |
errichtet, recken sich über Anhöhen und plattes Land. | |
Schon im 19. Jahrhundert kamen die Römer in Mode. Altertumsvereine begannen | |
die historische Topografie zu erforschen, häufig von örtlichen Honoratioren | |
geleitet. Bei der Grundsteinlegung der Saalburg im Jahre 1900 war selbst | |
Kaiser Wilhelm anwesend, umkränzt von in Römer verwandelten Statisten und | |
den Mitgliedern des Bad Homburger Turnvereins, die sich mit umgehängten | |
Bärenfellen als Germanen ausgaben. | |
1892 war es, da gründete sich auf Initiative des Historikers Theodor | |
Mommsen in Heidelberg die Reichs-Limeskommission. Sie rückte den Mauern und | |
Pfählen der Grenzbefestigung endlich mit wissenschaftlichen Methoden zu | |
Leibe. Dazu wurde der Limes in 15 Einzelstrecken eingeteilt. Ehrenamtliche | |
Streckenkommissare übernahmen die eigentlichen Grabungsarbeiten. Es dauerte | |
aber bis zum Jahr 1937, bis die gigantische Arbeit beendet und die letzte | |
Veröffentlichung mit dem Titel „Der Obergermanisch-Raetische Limes des | |
Roemerreiches“ fertiggestellt war. | |
Ist nun alles erforscht, vermessen und markiert? Mitnichten. Die modernen | |
Methoden der Wissenschaft wie die Luftbildarchäologie oder die Bestimmung | |
des Inhalts einer Abfallgrube führen bis heute zu immer neuen | |
Erkenntnissen. Das Wissen um das Leben am Limes erweitert sich ständig; | |
ganz besonders, was das Alltagsleben der Menschen betrifft. | |
Geschichte wird gemacht. Aus historischen Überbleibseln lassen sich | |
Nationalbewusstsein wie der Hass auf die Anderen konstruieren. Die | |
Anwesenheit von Kaiser Wilhelm an der Saalburg entsprang keiner Laune, sah | |
sich der Kaiser doch als legitimer Erbe der Römer. Ganz anders agierten die | |
Nationalsozialisten, die in ihrem Geschichtsbild an Hermann den Cherusker | |
anknüpften und heidnische Bräuche der Germanen zu revitalisieren | |
trachteten. Rom – das war mal Vor-, mal Feindbild. Aber immer Bezugspunkt. | |
Heutzutage sind die Mauern und Pfähle der politischen Instrumentalisierung | |
unverdächtig. Der Limes zählt seit 2005 zum Weltkulturerbe der Unesco und | |
hat sich zugleich zu einem Vermarktungsobjekt der Tourismusindustrie | |
gewandelt. Wer es bequem haben möchte, nimmt die Deutsche Limes-Straße | |
unter die Autoreifen. Sportliche Naturen bevorzugen den Limes-Radweg. | |
Kaum ein Dorf oder ein Landkreis, wo die Verantwortlichen bei der | |
Gestaltung bunter Prospekte und Internetauftritte außer auf die waldreiche | |
Umgebung nicht auch auf die römischen Ruinen hinweisen. Nachgestellte | |
Römer- und Germanenkämpfe mit goldenen Helmen und Kopfbedeckungen mit | |
angeschraubten Kuhhörnern zählen in manchen Kleinstädten inzwischen zur | |
Unterhaltungsbranche und verzeichnen, kommt nicht gerade Corona dazwischen, | |
bemerkenswerte Umsätze. Die Zahl der nachempfundenen Palisaden und Gräben | |
hat sich sprunghaft vermehrt. Wenn das so weitergeht, ist der Limes eines | |
Tages im modernen Gewand wiederaufgebaut. | |
So etwas fand sich vor 30 Jahren, von seltenen Ausnahmen abgesehen, nicht. | |
Klar, es gab den Limeswanderweg, ein paar nachgebaute Türme, konservierte | |
Grundmauern von Kastellen – aber sonst? Der Grenzwall war zwar keine Terra | |
incognita, aber doch menschenleer. | |
Für die Archäologen ist diese Entwicklung zwiespältig. Einerseits hilft das | |
Bewusstsein für das historische Erbe ihnen, weil dadurch Forschungen auf | |
mehr Akzeptanz stoßen. Andererseits treibt die Vermarktung bisweilen | |
seltsame Blüten, die mit einer Anknüpfung an historische Vorbilder so viel | |
zu tun haben wie ein Reiterstandbild mit einer Autorennbahn. Vor allem aber | |
machen den Profis in Zeiten, in denen Bodensonargeräte leicht erhältlich | |
sind, die um sich greifenden Raubgrabungen zu schaffen, bei denen Funde | |
nicht nur gestohlen, sondern vor allem aus dem Zusammenhang ihrer Fundorte | |
gerissen werden. | |
Einmal, an den Grundmauern des Kastells Holzhausen an der Grenze von Hessen | |
nach Rheinland-Pfalz angelangt, begegnet uns ein halbes Dutzend dieser | |
Sondengänger. Sie sind mit ihren Autos tief in den Wald gefahren und | |
durchstreifen die Umgebung. Rufe der Begeisterung schallen zwischen den | |
Bäumen, wenn die Geräte mit lautem Piepsen einen im Boden verborgenen | |
metallenen Gegenstand aufgespürt haben. | |
Sondierungen sind in einigen Bundesländern nicht verboten, wenn der Boden | |
unberührt bleibt. Solange wir anwesend sind, hat keiner der Beteiligten | |
eine Schippe angesetzt. Aber wir sind irgendwann gegangen. | |
Um das Jahr 260 nach Christus ist das Kastell Holzhausen untergegangen: | |
niedergebrannt und geplündert von einfallenden Franken- und | |
Germanenstämmen. Da war es gerade um die hundert Jahre alt. Die Tore sind | |
im dichten Wald noch zu erkennen. Vom Holzfachwerk des Stabsgebäudes im | |
Innern aber ist nichts mehr übrig, so wie die Fahnen der Einheit verbrannt | |
sind. Was mag aus den hier eingesetzten Soldaten geworden sein? Konnten sie | |
fliehen, oder wurden sie als römische Helfershelfer gnadenlos umgebracht? | |
Solange es am Limes galt, einzelne Banden abzuwehren, muss das Bauwerk | |
tadellos funktioniert haben. Doch die Zeiten änderten sich. Die auf | |
einseitige Konfliktlösungen durch militärische Auseinandersetzungen | |
orientierte römische Zivilisation geriet mehr und mehr in Bedrängnis. Schon | |
als in den Markomannenkriegen 167 bis 175 eine Koalition germanischer und | |
nichtgermanischer Stämme Rom angriff, wurde die Grenzbefestigung überrannt, | |
ein Heer von 20.000 Mann vernichtend geschlagen. | |
Noch einmal hat man danach die Provinzen wiederaufgebaut, die Toten | |
begraben, Bauernhöfe wieder hergestellt und den Limes verstärkt. Doch schon | |
um 233 erfolgte der nächste Einfall, dieses Mal von den an der mittleren | |
Elbe beheimateten Alamannen. Und um 259/260 war das Schicksal Roms an den | |
östlichen Rändern der Provinzen Germania superior und Raetia besiegelt. Die | |
Prägungsreihen römischer Münzen in den eilig vergrabenen Horten reißen zu | |
diesem Zeitpunkt ab, und kein Besitzer konnte seinen Schatz wieder | |
hervorholen. Es blieben nur die Brandschichten zerstörter Gebäude und | |
Kastelle. | |
Allerdings lebten danach noch lange Römer in der Region. Man darf sich den | |
Limesfall nicht so vorstellen, als sei da ein Gebiet von feindlichen | |
Truppen besetzt und die gesamte Bevölkerung vertrieben worden. Erst zu | |
Beginn des 5. Jahrhunderts endete die römische Präsenz im heutigen | |
Südwestdeutschland endgültig. | |
Als Bollwerk in einem Krieg hat der Limes kläglich versagt – so wie es | |
ähnlichen Bauwerken in der Geschichte auch ergangen ist. Und heutigen und | |
künftigen ergehen wird. | |
Anfangs, in jüngeren Jahren, hatten wir es uns in den Kopf gesetzt, den | |
Mitgliedern der Reichs-Limeskommission gleich tatsächlich auf dem Limes zu | |
laufen, und nicht etwa einfach den bequemeren Wanderweg einzuschlagen, der | |
bisweilen kilometerweit abweichend verläuft. Das war mit blutigen Kämpfen | |
gegen Stachelgewächse und Brennnesseln verbunden, mit dem Durchwaten von | |
Bächen, Morast und kleinen Sümpfen, selbstverständlich unter Einsatz eines | |
Kompasses. | |
Und natürlich liefen wir auch nicht, wie es die Karte gebot, um einen | |
Golfplatz herum, sondern unter dem Protest adrett gekleideter Damen und | |
Herren mit unseren schweren Wanderschuhen mitten über das Green. Behaupte | |
noch einer, in Deutschland seien keine Abenteuer möglich. Freilich | |
bezahlten wir diese konsequente Vorgehensweise damit, uns ständig zu | |
verlaufen, was den letztlich zurückgelegten Weg wohl verdoppelt haben mag. | |
Später wurden wir großzügiger. Vom hessischen Idstein – ein paar Kilometer | |
abseits des Limes gelegen – ließen wir uns mit dem Taxi über die nächste | |
Anhöhe bringen. In Bad Ems nahmen wir den Bus aus dem tiefen Tal hinauf. | |
Die Erinnerung verschwimmt. Die erste Tour, die uns – sozusagen falsch | |
herum, weil in Richtung Südosten – bis nach Stausacker an der Donau führte, | |
gegenüber dem berühmten Kloster Weltenburg gelegen, ist scharf im | |
Gedächtnis geblieben. Die schnurgerade Straße, tiefe Einschnitte und wilde | |
Kletterpartien, der Weg quer durch ein abgesperrtes Wildschweingehege bis | |
nach Altmannstein im Schambachtal, von dort am nächsten Tag hinauf auf die | |
Ebene des Jura, durch den Wald nahe Laimerstadt und dann steil zur Donau | |
hinunter – das ist noch sehr präsent. Auch die zweite und dritte Wanderung | |
sind noch präsent, danach wird es undeutlich, Limesstrecken und Römertürme, | |
Landstraßen und Dörfer, Gasthöfe und Metzgereien quirlen durcheinander. | |
Im August 1999 zur Sonnenfinsternis bewegen wir uns nahe Aalen über die | |
Hügel. 2002, im Jahr der großen Flut an Oder und Elbe, sind wir in Schwaben | |
unterwegs, wo wir völlig durchnässt den auch dort niedergehenden | |
Wassermassen trotzen. In den ersten beiden Jahrzehnten haben wir ein | |
kleines Radio dabei, deshalb weiß ich, dass wir den Main bei Miltenberg im | |
September 2003 erreichen, denn an diesem Tag wird vermeldet, dass der | |
bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber bei den Landtagswahlen die | |
absolute Mehrheit erhält. Ein nutzloses Wissen. | |
Das Radio ist längst durch ein Smartphone ersetzt. Jetzt wissen wir vorab, | |
und ohne lange nachzuschlagen, wann an welchem Ort ein Bus abfährt. Das ist | |
sehr praktisch. Die Reise hat sich durch das Internet aber noch viel | |
deutlicher verändert – einerseits wurde sie erleichtert, andererseits ist | |
sie langweiliger geworden. Früher gab es prinzipiell zwei Möglichkeiten, um | |
eine solche Tour vorzubereiten. Man konnte bei Fremdenverkehrsbehörden (ja, | |
die hießen so!) schriftlich Prospekte anfordern, dort nach Zeltplätzen und | |
Gasthöfen schauen, anrufen oder schreiben und buchen. Oder man ließ das | |
alles sein und lief einfach los. | |
Meistens sind wir einfach losgegangen. Irgendetwas findet sich schließlich | |
immer, und wir sind in Deutschland, bitte schön. Diese Art des Reisens hat | |
uns nachhaltige Einblicke in den Gemütszustand der Deutschen verschafft. | |
Wanderer in nicht immer einwandfreier Bekleidung erschrecken zunächst. Doch | |
das weicht schnell dem Mitleid mit diesen seltsamen Fußgängern. Tatsächlich | |
mussten wir nicht ein einziges Mal auf freiem Feld biwakieren oder eine | |
Bahnhofsmission aufsuchen. Nur einmal zwang uns ein wegen eines Trauerfalls | |
geschlossenes Gasthaus zur Bahnfahrt in die nächste Stadt. | |
Die Reise von mehr als 30 Jahren Dauer hat aber auch deutlich gemacht, wie | |
sehr sich der Wohlstand in der Bundesrepublik gemehrt hat. Einmal, noch | |
ziemlich zu Beginn, nächtigten wir irgendwo in Bayern in einem Dorfgasthof. | |
Die Wirtsstube besaß blanke Dielenbretter, die Stühle waren wacklig, und | |
oben im Zimmer mit seinem Bett aus den 1950ern tropfte ein einsamer Hahn, | |
der nur kaltes Wasser anbot. Selbstverständlich war keine Dusche vorhanden, | |
und zu essen gab es ausschließlich Schnitzel mit Kartoffeln. Diese Art der | |
Beherbergung kommt uns heute museal vor. | |
Aber überall, wirklich überall hieß man uns, manchmal nach einer | |
Schrecksekunde, herzlich willkommen, ob privat im Zimmer der ausgezogenen | |
Tochter oder im großzügigen Gemach eines Dreisternehotels. Wir durften am | |
gemeinsamen Abendessen eines älteren Ehepaars in Rheinland-Pfalz | |
teilnehmen, Beerenwein in Bayern verkosten, wir übernachteten in einem | |
vornehmen Reiterhotel, schliefen im ersten Stockwerk eines Dorfbahnhofs und | |
betteten unsere müden Häupter im Bauernhof. Waren wir erst einmal | |
kläffenden Hofhunden entronnen, bot uns der Bauer anschließend warme Milch | |
frisch aus dem Euter an. Die regionalen Idiome führten bisweilen zu | |
gewissen Verständigungsschwierigkeiten, doch gemeinsames Lachen verbindet | |
in Deutschland ebenso wie in der Syrischen Wüste oder am Stadtrand von | |
Melbourne. | |
Das ist keine schlechte Bilanz für ein Land, dessen Bewohner nicht zu den | |
gastfreundlichsten gezählt werden. Freilich sind wir beide von weißer | |
Hautfarbe und jeglichen Migrationshintergrunds unverdächtig. Wir wissen | |
nicht, was einem oder einer Schwarzen geschähe, machte er oder sie sich auf | |
den Weg entlang des Limes. Meine Frau trägt auch kein Kettchen mit einem | |
Davidstern um den Hals und ich keine Kippa auf dem Kopf. | |
Unterwegs auf der letzten Limesetappe geht es weiter durch den dichten | |
Wald. Keine Siedlung ist auf der Karte bis zum Endpunkt verzeichnet. Aber | |
dann biegen wir auf dem Weg um eine Kurve, die Sonne bricht herein – und | |
wir stehen im gleißenden Licht zwischen abgeholzten Baumstümpfen. Der Wald | |
ist wie wegrasiert. An den Rändern verraten braun gefärbte Fichten, dass | |
dies kein normaler Holzschlag ist. | |
Der Wald stirbt, nicht nur hier; Hitze, Trockenheit und der Borkenkäfer | |
lassen die Stämme im Sturm zu Hunderten, zu Tausenden umknicken. | |
In den letzten zwei, drei Jahren haben sich diese Zerstörungen vermehrt. | |
Manchmal konnten wir den Wanderweg mit dem aufgemalten Turm nicht mehr | |
finden, verschluckt von umgestürzten Bäumen und in der Luft hängenden | |
Wurzeln. Der Klimawandel, dem Städter durch vermehrte Sommertage im Freibad | |
eine angenehme Erscheinung, zeigt im deutschen Wald seine hässliche Fratze. | |
So scheint diese mehr als 30 Jahre währende Wanderung, begonnen zu Zeiten | |
der Warnungen vor saurem Regen, in einer veritablen Katastrophe für dieses | |
Land zu enden. | |
Später, am Nachmittag, geht es in einem Hohlweg steil bergab. Hinunter ins | |
Rheintal. Und dann stehen wir am wiederaufgebauten Turm, der im Verzeichnis | |
die Nummer 1/1 trägt: der erste Turm der ersten von 15 Wegstrecken der | |
Reichs-Limeskommission. Leider, so müssen wir lesen, steht er nicht an der | |
exakt richtigen Stelle. Die Beine sind ein bisschen wackelig. Aber wir sind | |
angekommen. Als „nasser Limes“ verläuft die Grenze Roms von hier aus weiter | |
den Rhein entlang nach Norden. | |
Wir nehmen die Fähre zur anderen Stromseite, nach Brohl. Wir wollen | |
schließlich in Rom bleiben! | |
10 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
## TAGS | |
Reiseland Deutschland | |
Provinz | |
Römer | |
Antike | |
Archäologie | |
Wandern | |
Deutsche Geschichte | |
Geschichte | |
GNS | |
Reisen in Europa | |
Römer | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Reisen in Europa | |
Kalender | |
Fahrrad | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Reiseland Deutschland | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Tourismus in der Antike: „Wer ist denn römisch?“ | |
Die römische Infrastruktur war ideal zum Reisen. Die Historikerin Susanne | |
Froehlich hat ein Buch darüber geschrieben, wer warum wohin unterwegs war. | |
Skywalk über der Elbe: Nach drüben geht es weiterhin nicht | |
Die Dömitzer Eisenbahnbrücke ist ein Industriedenkmal, das Touristen nun | |
auf einem Skywalk begehen können. Überwunden ist die Teilung damit noch | |
nicht. | |
Auf Fernwanderwegen durch Europa: Der Flow auf dem E-path | |
In Europa gibt es zwölf Fernwanderwege, kurz: E-Wege oder E-paths. Ideal | |
für lange Auszeiten. | |
Kinder fragen, die taz antwortet: Warum heißt der Donnerstag so? | |
Wir wollen von Kindern wissen, welche Fragen sie beschäftigen. Diese kommt | |
von einem Kind an einer Bushaltestelle. | |
Mit dem Rad um die Ostsee: Das Meer in unserer Mitte | |
Unser Autor ist auf dem Rad um die gesamte Ostsee gefahren, zwölf Etappen | |
in zwanzig Jahren. Die Reise hat auch seine Vorstellung von Europa | |
verändert. | |
30 Jahre deutsche Einheit an der Grenze: Einheit mit Abstand | |
Vor 30 Jahren ist unser Autor die deutsch-deutsche Grenze entlanggeradelt. | |
Jetzt hat er sich wieder auf den Weg gemacht. Bericht zur inneren Einheit. | |
Auf den Spuren der Nibelungen: Mit Legenden im Rucksack | |
Kulturwandern im deutschen Mittelgebirge: Von Donnersberg nach Worms folgt | |
der Wanderweg historischen Spuren, etwa jenseits des Rheins zum Kloster | |
Lorsch |