# taz.de -- „Oh Boy“-Anthologie über Männlichkeit: Lügen und Wunden | |
> „Oh Boy: Männlichkeit*en heute“ versammelt Autor:innen | |
> verschiedener sozialer Herkünfte. In vielen Texten kommen | |
> Kindheitserinnerungen hoch. | |
Bild: Welche Männlichkeitsrolle wird hier eingeübt? | |
Klaus Theweleits 1978 erschienene „Männerfantasien“ gelten als Meilenstein | |
der Männerforschung. Vor ein paar Jahren wurden sie neu aufgelegt, denn es | |
hat sich viel getan. So gibt es heute eine Schwemme von Büchern zum Thema. | |
Zuletzt machten etwa Christian Dittloff mit „Nachdenken über Männlichkeit“ | |
oder Frédéric Schwilden und sein Roman „Toxic Man“ von sich reden. Von | |
einer Krise der Männlichkeit ist hier wie dort und anderswo die Rede. | |
Valentin Moritz und Donat Blum schließen sich an, wollen aber bewusst mehr | |
Fragen aufwerfen als Antworten auf die olle Grönemeyer-Formel „Wann ist ein | |
Mann ein Mann?“ liefern. Naturgemäß geht es auch um Frauen, sie berufen | |
sich gar auf die [1][Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux], die gesagt | |
hat: „Wenn sich die Männer ihrer Art zu leben nicht bewusst werden, wird | |
die Befreiung der Frau nie stattfinden.“ | |
Für ihre Anthologie animierten Moritz und Blum 16 Kolleg:innen, über | |
Männlichkeit nachzudenken. Darunter der letztjährige [2][Gewinner des | |
deutschen Buchpreises Kim de l]’Horizon, der das Thema vom Tisch wischt wie | |
schönen Schmutz: „[…] ich glaube voll ungelogen einfach nicht mehr an das | |
Konzept von Geschlecht auf diesem Stern, ich bin AGNOSTISCH WAS GENDER | |
ANGEHT, nach dem Wort MÄNNLICH oder WEIBLICH oder GESCHLECHT können nur | |
Lügen kommen, die durch die Wunden sprechen, die mit diesen Wörtern | |
geschlagen wurden […]“. BAM. Was für ein Auftakt. | |
Ein paar Seiten später schreibt der [3][diesjährige Gewinner des Preises | |
der Leipziger Buchmesse Dinçer Güçyeter] über männliche Zu- und | |
Abrichtungen. Er tut dies in einer bewährt waghalsigen Mischung aus Lyrik | |
und Prosa, die sich dafür einsetzt, den weichen Kern unter der harten | |
Schale freizulegen. | |
## Dandy und Peter Struck | |
Ganz anders, an den witzigen Oberflächen entlang, formuliert der | |
deutsch-isländische Autor Kristof Magnusson. Er widmet sich | |
unterschiedlichen Rollenmodellen: „Dandy-Männlichkeit einerseits, | |
Peter-Struck-Männlichkeit andererseits.“ | |
Jayrôme C. Robinet, der vor Kurzem beim Wettlesen in Klagenfurt reüssierte, | |
wenn er auch keinen Preis gewann, steuert einen erstklassigen Text zur | |
Frage „Was für ein Mann bin ich?“ bei. Bekannt wurde er mit seinem Memoir | |
„Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit | |
Migrationshintergrund“. Jetzt lauten die Optionen Krieger oder Loser. Sein | |
elegant erzählter Text fragt nach Privilegien, die sich mit dem Mannsein | |
verbinden, womöglich kann man die nur als Transmann so unverklemmt | |
ansprechen. | |
Die Auswahl der Autor:innen ist ein Treffer, verschieden alt, | |
unterschiedlich Mann, unterschiedliche sexuelle Vorlieben, verschiedene | |
soziale und kulturelle Herkünfte, sehr andere Schreibweisen, ein Comic über | |
eine Transition ist mit dabei. Der Dramatiker [4][Thomas Köck] fällt auf | |
mit einem rauschhaften Monolog, der fordert, Hingabe neu zu denken. Wer | |
solches fordert, stellt immer auch die Systemfrage. Der dazugehörige | |
Schlachtruf lautet bei Köck „no more use for useless concepts“. | |
## Kleinstadtzwänge und Geschlechterrituale | |
Bis das alle erreicht, sind Häutungen vonnöten. Heulsuse darf kein | |
Schimpfwort bleiben. In vielen der Texte kommen Kindheitserinnerungen hoch | |
wie Unverdautes. Kleinstadtzwänge und Geschlechterrituale. Der strenge | |
Vorsatz, nicht werden zu wollen wie der eigene Vater, zieht sich durch | |
viele der Erzählungen. Nicht nur Gewalt und das, was man unter toxischer | |
Männlichkeit wahlweise verherrlicht oder verachtet, spielt eine Rolle, | |
sondern vielmehr die mangelnde Redebereitschaft. Die Gretchenfrage lautet: | |
„Was ist Männlichkeit – und was ist Charakter“? | |
Peter Wawerzinek schüttet dann alles ins selbe Wasser und das Kind mit dem | |
Bade aus, indem er Biden, Putin und Scholz in eine Tonne tritt, herrje, | |
vielleicht sollte man nicht alles drucken beziehungsweise lesen. Dann doch | |
viel lieber Hernán D. Caros berührende Vatersuche, die Fragen stellt, auch | |
wenn es dazu längst zu spät ist, oder Deniz Utlus zugleich leichte und | |
schwere teenspiritgetränkte Strandgeschichte. [5][Mithu M. Sanyal] bedient | |
sich für ihr Nachwort bei Simone de Beauvoir und schlussfolgert etwas lahm: | |
„Man wird nicht als Mann geboren, man wird dazu gemacht.“ Wohl wahr. | |
7 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Literaturnobelpreis-fuer-Annie-Ernaux/!5882551 | |
[2] /Deutscher-Buchpreis-fuer-Kim-de-lHorizon/!5889249 | |
[3] /Leipziger-Buchpreis-fuer-Dincer-Guecyeter/!5930997 | |
[4] /Theater-und-Klimakrise/!5826298 | |
[5] /Sammelband-ueber-Cancel-Culture/!5921330 | |
## AUTOREN | |
Shirin Sojitrawalla | |
## TAGS | |
wochentaz | |
Politisches Buch | |
Männlichkeit | |
Klaus Theweleit | |
Geschlechterrollen | |
Annie Ernaux | |
Mannsein | |
Literatur | |
Männlichkeit | |
deutsche Literatur | |
Greta Thunberg | |
Literaturkritik | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
„Oh Boy“ und kritische Männlichkeit: Der große Fehlschluss | |
„Aber das ist doch Literatur!“ Dieser Hinweis reicht nicht aus, um Texte | |
gegen Canceln zu verteidigen. Grundsätzliche Anmerkungen zum „Oh | |
Boy“-Desaster. | |
Lackierte Fingernägel bei Männern: Desillusionierte Symbolpolitik | |
Manche sehen lackierte Nägel als feministische Praxis. Tragen kann sie | |
jede*r, doch ein Kampf gegen das Patriarchat ist das nicht. | |
Martin Walser gestorben: Das hemdsärmelige Bild aufbrechen | |
Er war der unwahrscheinliche Autor der Bundesrepublik: rauflustig, | |
männlich, heroisch – und Walser schwamm täglich im Bodensee. Ein Nachruf. | |
Neuer Roman von Arnold Stadler: Mit Silberglanz nach Ithaka | |
Zwischen Odysseus-Feier und Greta-Thunberg-Unbehagen: Arnold Stadlers neuer | |
Roman nimmt die Figur des alten weißen Mannes auf die Schippe. | |
Heinz Strunks Band „Der gelbe Elefant“: Lost in Neandertal | |
Unangenehme Männerwelten sind Heinz Strunks Metier. Seine neuen Erzählungen | |
lesen sich zum Teil wie Kafka mit Befall von Hamburger Humor. |