| # taz.de -- „Oh Boy“ und kritische Männlichkeit: Der große Fehlschluss | |
| > „Aber das ist doch Literatur!“ Dieser Hinweis reicht nicht aus, um Texte | |
| > gegen Canceln zu verteidigen. Grundsätzliche Anmerkungen zum „Oh | |
| > Boy“-Desaster. | |
| Bild: „Literarisch“ sagt nichts über den Status des Realitätsbezugs aus | |
| Man könnte wütend auf Arthur Rimbaud werden. Dabei kann er an sich nichts | |
| dafür, was seine Aussage „Ich ist ein anderer“ mit ausgelöst hat. Seit | |
| Langem klingt das Bonmot des französischen Dichters unausgesprochen an, | |
| wenn in einem Text ein Ich mit starken Bezügen zur Realität der | |
| schreibenden Person spricht und dennoch unklar ist, ob eine fiktive Figur | |
| erzählt oder die schreibende Person selbst. | |
| Man könnte dabei von Autofiktion sprechen. Oft dient diese Finte aber als | |
| Ausweg, wenn sich Schreibende in die Ecke gedrängt fühlen. | |
| Dass Ich irgendwie ein anderer sei als der Autor selbst und man vom Text | |
| nicht auf die Realität schließen dürfe, wird derzeit häufiger angedeutet, | |
| um den Autor Valentin Moritz in Schutz zu nehmen. Ihm wird vorgeworfen, | |
| einen von ihm selbst begangenen sexualisierten Übergriff in einem Text | |
| thematisiert zu haben – gegen den expliziten Wunsch des Opfers, das nicht | |
| zu tun. [1][Publiziert wurde er in der Anthologie „Oh Boy“, in der sich | |
| Autor*innen] aus männlicher Perspektive mit „Männlichkeit*en heute“ | |
| auseinandersetzen. Inzwischen hat der Kanon Verlag die Auslieferung des | |
| Bands – den Moritz auch mit herausgibt – gestoppt. | |
| Die Anthologie präsentiert sich als eine Sammlung von Texten, in denen | |
| Autor*innen „über ihr Erleben von Männlichkeit“ berichten – mit | |
| „größtmöglicher Freiheit“ und „in bester literarischer Tradition“. W… | |
| Vorwort schon recht vage klingt, wird in der Übersicht der Texte meist | |
| nicht deutlicher: Handelt es sich um fiktionale Texte? Sind die erzählenden | |
| Stimmen identisch mit den Autor*innen? Darf man das Erzählte als faktisch | |
| betrachten? | |
| ## Gegen den Wunsch des Opfers | |
| In den meisten der kurzen Zusammenfassungen wird peinlich genau darauf | |
| geachtet, keine konkrete Verbindung zur schreibenden Person herzustellen, | |
| auch wenn sie immer mitschwingt. Nur bei zwei Texten ist die erzählende mit | |
| der schreibenden Person offensichtlich identisch, bei Hermes Phettberg und | |
| Valentin Moritz. Zu seinem Text „Ein glücklicher Mensch“ heißt es: | |
| „Valentin Moritz schreibt gegen das tief verinnerlichte Schweigen unter | |
| Männern an und gesteht sich die eigene Übergriffigkeit ein.“ | |
| Als aber der Vorwurf, der Autor habe gegen den Willen einer konkreten | |
| Person einen realen Fall geschildert, durch eine Absage des Literaturhauses | |
| Rostock an Aufmerksamkeit gewonnen hatte, warf Mitherausgeber*in Donat | |
| Blum in einer (inzwischen gelöschten) Reaktion auf Instagram ein, Moritz’ | |
| Beitrag sei ein „literarischer (!) Text“. Dabei ging es offenbar darum, den | |
| Kollegen vom Vorwurf, gegen den Wunsch des Opfers gehandelt zu haben, | |
| freizusprechen. | |
| Der Autor selbst verwies ebenfalls auf die Literarizität des Textes. Auch | |
| der Verlag betonte immer wieder die Literarizität des Textes – etwa in dem | |
| Eingeständnis, man hätte den Übergriff „auch nicht in einer fiktionalen“ | |
| Form behandeln sollen. Auch in der Berichterstattung ist immer wieder von | |
| Fiktion und dem Attribut literarisch die Rede. | |
| Die beiden Begriffe werden wie ein Schutzschild gegen eine konkrete | |
| Bezugnahme zur Realität um Text und Autor aufgebaut. „Ich“ ist wohl – mal | |
| wieder – ein anderer. | |
| ## Was heißt Literarizität? | |
| Zunächst ist festzuhalten, dass der Veröffentlichungskontext keinen Anlass | |
| gibt, an der Faktualität des Beitrags zu zweifeln. Weder behaupten die | |
| Herausgebenden, dass es sich um eine Sammlung fiktionaler Texte handelt, | |
| noch deutet der Begleittext zu Moritz’ Beitrag das an. | |
| Wer „Ein glücklicher Mensch“ liest, soll davon ausgehen, dass der Autor | |
| selbst spricht. Der Text zieht seine Kraft zu großen Teilen daraus, dass | |
| man es mit einer kritischen Selbstbetrachtung des Autors zu tun hat. Das | |
| heißt aber nicht, dass er nicht literarisch sein kann. | |
| Es handelt sich um einen Fehlschluss. Mit der Zuschreibung der Eigenschaft | |
| literarisch scheinen die Herausgebenden andeuten zu wollen, dass man das im | |
| Text Berichtete nicht als etwas behandeln dürfe, das einen Bezug zu einem | |
| konkreten Geschehen in der Realität habe. Es sei eben Literatur und kein | |
| Tatsachenbericht. Das Problem dieser Verteidigung besteht darin, dass | |
| Literarizität etwas ganz anderes bedeutet. | |
| Literarizität heißt zunächst einmal, als dass hier Sprache nicht nur zur | |
| Informationswiedergabe dient, sondern einen ästhetischen Wert an und für | |
| sich hat. Daraus folgt, dass literarische Texte faktual und fiktional sein | |
| können. | |
| Die Zuschreibung literarisch sagt nichts über den Status des | |
| Realitätsbezugs aus. Es gibt literarische Reportagen, die an die | |
| beobachtete Realität gebunden sind, wie es auch literarische Texte gibt, | |
| deren Welt und Figuren frei erfunden sind, Fantasyromane zum Beispiel. | |
| Dazwischen entfaltet sich ein Spektrum von Texten, die realistisch, aber | |
| fiktional sein können, mit realen und erfundenen Elementen spielen oder | |
| die wahre Begebenheiten fiktionalisieren. Das Attribut literarisch gilt für | |
| sie alle. | |
| ## Fiktionalität als soziale Praxis | |
| Doch auch der Versuch, den Vorwurf durch das Textattribut fiktional | |
| abzuschwächen, geht ins Leere. Fiktionalität ist kein Status, den man einem | |
| Text im Nachhinein einfach überstülpen kann. Der | |
| [2][Literaturwissenschaftler Johannes Franzen] hat es in einem Kommentar in | |
| den sozialen Medien treffend formuliert: „Fiktionalität ist keine Lampe, | |
| die man je nach Bedürfnis ein- oder ausschalten kann.“ | |
| Fiktionalität ist das Ergebnis sozialer Praxis und von Konventionen. Als | |
| Gemeinschaft von Lesenden entwickeln wir ein Verständnis dafür, wann ein | |
| Text als fiktional zu lesen ist und wann nicht. Das bedeutet auch, dass er | |
| entsprechende Signale aussenden muss. Beispielsweise müssen der Text oder | |
| sein Veröffentlichungskontext darauf hindeuten, dass er fiktional ist. Das | |
| ist hier eindeutig nicht der Fall. Nirgendwo wird angedeutet, dass das Ich, | |
| das klare Bezüge zum Autor hat, nicht er selbst sein soll. | |
| Doch selbst wenn der Kontext auf Fiktionalität hinweisen würde, wäre das | |
| hier nicht ausreichend. Es genügt nicht, einen Text mit außertextuellen | |
| Fiktionalitätssignalen zu umgeben, um jede konkrete Verbindung zur Realität | |
| abzuschalten. Fiktion, die sich auf konkrete Realität bezieht, muss damit | |
| rechnen, von dieser Realität eingeholt zu werden. | |
| Das heißt zumeist, dass sich Menschen wiedererkennen und ihrer Darstellung | |
| widersprechen oder ihre Privatsphäre verletzt sehen. Die | |
| Literaturgeschichte ist voll von Skandalen, die entstanden sind, weil | |
| Autor*innen nicht ausreichend fiktionalisiert haben. Von Goethes „Die | |
| Leiden des jungen Werther“ über Thomas Manns „Buddenbrooks“ bis hin zu | |
| Maxim Billers „Esra“. | |
| ## Das Literarische als Herausforderung | |
| Es ist also letztlich egal, ob „Ich“ ein anderer ist. Es handelt sich um | |
| etwas, das vor allem ausreichend kommuniziert werden muss. Die | |
| Verantwortung dafür liegt beim Autor – vor allem dann, wenn es um ein Thema | |
| wie selbstkritische Männlichkeit geht. Wenn die Ziele also Ehrlichkeit und | |
| kritische Reflexion sind. Dann ist das Literarische als Eigenschaft die | |
| größtmögliche Herausforderung. Literarizität bedeutet – so heißt es im | |
| Vorwort – Freiheit, aber damit geht – so könnte man meinen – auch die | |
| Verantwortung einher, die Literarizität nicht als Ausweg aus der | |
| Selbstkonfrontation zu sehen. | |
| Es ist auffällig, wie stark die Literarizität vieler Texte in „Oh Boy“ | |
| markiert wird. Philipp Winkler schreibt in der dritten Person, aber so, | |
| dass das er jederzeit durch ein Ich ausgetauscht werden könnte; Thomas Köck | |
| inszeniert einen assoziativen Gedankenstrom, der aus dem Moment heraus zu | |
| entstehen scheint; Hermes Phettbergs Beitrag besteht aus kürzeren Szenen | |
| unterschiedlicher Form. | |
| Dadurch sind viele Texte genau das, was die Herausgebenden behaupten: | |
| literarische Annäherungen mit größtmöglicher Freiheit. Diese Literarizität | |
| lässt jedoch Raum, sich nicht festlegen zu müssen, im entscheidenden Moment | |
| nicht ich zu sagen, und wenn doch, dann in einer ästhetisierten Form, die | |
| wieder Distanz zwischen der schreibenden Person und dem Text entstehen | |
| lässt. | |
| Der Umgang mit der Freiheit, die das Literarische bietet, ist ein Grund | |
| dafür, dass die Anthologie nicht das ist, was sie sein könnte: eine | |
| männliche Selbstkonfrontation, die dorthin geht, wo es wehtut. Das ist vor | |
| allem schade. | |
| Dass die Freiheit der Literarizität aber nun auch noch dafür herhalten | |
| musste, das problematische Handeln des Mitherausgebers zu rechtfertigen, | |
| ist ein echtes Ärgernis. | |
| 25 Aug 2023 | |
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| Simon Sahner | |
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