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# taz.de -- Autofiktionaler Roman und Alkoholsucht: Die Fassade runterreißen  
> Die Autorin Christine Koschmieder hat ihre Erfahrungen mit Sucht
> öffentlich gemacht. Nun ist ihr autofiktionaler Roman „Dry“ erschienen.
> Ein Besuch.
Bild: Christine Koschmieder: „Jetzt habe ich den absoluten Kontrollverlust ge…
Christine Koschmieder hat nach außen hin immer alles mit Bravour
gemeistert. Die Krebserkrankung ihres Mannes und den Umgang mit seinem
frühen Tod, Karriere im Kulturbetrieb und Kindererziehung. Ihr heimlicher
„Helfer“: Alkohol. Erst mit Ende vierzig, als ihre Eltern gestorben und
ihre drei Kinder beinahe erwachsen sind, merkt sie, dass sie nicht länger
funktionieren kann.
In einer Suchtklinik sucht sie in ihren Erinnerungen, sowie in ihrer
Familiengeschichte nach Antworten auf die Frage, was sie mit dem Trinken zu
bewältigen versucht hat. Ob ihre Angst vor Kontrollverlust und ihre
Schwierigkeiten, sich langfristig zu binden, auf dem Verlust ihrer großen
Liebe beruhen, oder welche Rolle ihre Kindheit mit einem hochfunktionalen
Alkoholiker als Vater sowie einer emotional unerreichbaren, nach der
Scheidung auch physisch abwesenden Mutter spielt.
Das ist die Geschichte in Christine Koschmieders Roman „Dry“, der weniger
von Alkoholismus als vielmehr von Verlust und Trauer handelt.
Es ist auch die Geschichte Koschmieders. Denn im Gegensatz zu anderen
autofiktionalen Werken ist bei „Dry“ klar: Fiktional sind nur die Namen der
Kinder. Es sind die Auslassungen und die Anordnung, die den Roman vom
Memoir unterscheiden. Das steht im Vorwort. Aber auch auf Facebook hat die
Autorin seit März 2021 radikal offen über ihr Leben geschrieben. Was hat
sie dazu veranlasst, aus der Suchtklinik zu posten und knapp 800 Menschen
von ihrem Trinken zu erzählen? Von ihren größten Ängsten und
Unsicherheiten?
## Raus aus der Tabu-Ecke
Sie habe, meint sie an einem Sonntagmittag bei einem Treffen in Dessau im
Außenbereich des Bauhaus-Cafés, das Trinken aus der Tabu-Ecke holen und
nicht länger Teil des Problems sein wollen: „Dass man hierzulande nicht
über Trauer spricht“. Dass niemand öffentlich die Fassade runterreißen und
seine Wunden zeigen wolle.
Sie nippt an ihrem Kaffee und erzählt, sie hätte auch erst ihre Angst
überwinden müssen: „Ich wusste ja, das sehen Leute, mit denen ich arbeite,
Verleger.“ Die Reaktionen bestärkten sie: „Durch meine Offenheit ist alles
einfacher geworden.“ Sie habe Zuspruch bekommen: „Nicht mehr nur: ‚Siehst
gut aus.‘, sondern echte Freundschaftsangebote.“
Und nicht nur das. Gleich mehrere Verlage bekundeten Interesse an einem
Buch auf Basis des Geteilten. Wenige Tage nach diesem Treffen ist „Dry“ im
Kanon Verlag erschienen. Der Roman regt zum Nachdenken an.
Denn so außergewöhnlich die fragmentarisch erzählte Lebensgeschichte, so
eigen die Ich-Erzählerin auch ist: Die Überforderung der alleinerziehenden
Mutter, die zu kämpfen hat, Beruf und Kinder unter einen Hut zu bringen,
und das im Roman geschilderte Trinkverhalten sind es nicht. Koschmieder ist
keine Alkoholikerin, wie man sie sich vorstellt: Ihre Sucht ist für andere
nicht sichtbar. Sie trinkt nicht mehr als in ihrem Arbeitsumfeld, dem
Kulturbetrieb, üblich.
## Alkohol ist nur die Waffe
Und doch ist sie Alkoholikerin: „Weil Abhängigkeit“, wie sie in „Dry“
schreibt, „sich nicht an Menge, Häufigkeit oder Regelmäßigkeit des
Alkoholkonsums festmachen lässt. Und schon gar nicht an seiner
Auffälligkeit. Weil er viel hinterlistigere Schäden anrichtet, Schäden, die
sich oft erst Jahre später zeigen, die viel mit Ehrlichkeit und
Beziehungsgestaltung und Vertrauen und Verlässlichkeit und
Bindungsfähigkeit zu tun haben.“
„Alkohol“, so heißt es im Roman an einer weiteren von nur 13 Stellen, an
der das Wort auftaucht, „ist nie das Thema. Alkohol ist die Waffe der Wahl,
unser jeweiliges Thema niederzuringen.“ Aus dem Grund wollte sie auch keine
Quit-Lit schreiben, also Literatur über das Trinken: „Mir ging es darum,
Zeugnis abzulegen. Meine Wunden anzusehen und die Scham zu überwinden, von
ihnen zu erzählen.“
Nun, da der Roman fertig ist, muss sie entscheiden, wo die Grenze zwischen
Sharing und Oversharing liegt. Was sie preisgeben soll. Schließlich geht es
in „Dry“ nicht nur um ihr Leben, sondern auch um das ihr Nahestehender,
nicht zuletzt das ihrer drei Kinder.
Wenn sie im Buch schonungslos von sich als Mutter erzählt, schreibt sie
auch über sie: „Wie diese andere Mama von der eigentlichen Besitz ergreift,
mit ihrer Stimme furchtbare Dinge sagt, mit ihren Händen zu fest zupackt,
aus ihren Augen Hass und Wut schleudert. Und dann stehst du da und hast
keinen Zauberspruch, kein richtiges Wort, um die richtige Mama aus der
falschen zu befreien.“
## Wo die Grenzen liegen
Gleich zu Beginn des Gesprächs klärt sie, wo ihre Grenze liegt: „Meine
Kinder sind tabu.“ Sie wolle weder darüber reden, wie ihre Kinder auf das
Buch reagiert hätten, noch, wie es ihnen jetzt gehe. Sie habe lange
überlegt, ob die zitierte Stelle ins Buch müsse: „Aber man kann nicht über
Überforderung schreiben, ohne die realen Auswirkungen zu zeigen.“ Der
Kaffee ist ausgetrunken, die Autorin drängt zum Aufbruch. Sie will noch
etwas von Aken zeigen, der Kleinstadt vor Dessau, in der sie vor zwei
Jahren ein unsaniertes Fischerhaus gekauft hat.
Im Auto schwärmt die Wahlleipzigerin von ihrem Zweitwohnsitz. „Über die auf
dem Land wird immer nur gemutmaßt.“ Es gebe zig Vorurteile: „Sie seien
unreflektiert, rechts“. Bei der Fahrt auf der Landstraße, vorbei an
Feldern, erzählt sie, dass es die AfD in Aken nicht ins Parlament geschafft
habe und der örtliche Fußballverein von einem Dönerbuden-Besitzer
gesponsert werde.
Und von ihrem neuesten Projekt: Sie möchte sich in das kulturelle Leben der
Kleinstadt einbringen und mithilfe von Demokratie- und Kulturfördertöpfen
in der alten Werft einen nachhaltigen Ort der Begegnung und des Austausches
schaffen, ohne dafür „nur Kultur aus der Stadt anzukarren“. Bislang sei es
erst eine Idee, sie suche noch Mitwirkende: „Ich sehe mir erst einmal an:
Wie wird hier gelebt? Wer lebt hier? Wo fehlt vielleicht was? Wo gibt es
Anknüpfungspunkte?“
Bei einem Zwischenstopp auf dem Flohmarkt auf der alten Landebahn hinter
Dessau sucht Koschmieder nach einem Espressokocher: „Meiner hat einen
kaputten Deckel.“ Als sie an einem Stand näher rangeht, um die Aufschrift
einer Tafel neben einem Honecker-Bild zu entziffern, meint der Verkäufer:
„Der grinst einen so nett an, oder?“ Koschmieder entgegnet ironisch: „War
ja auch so ein netter Mensch.“
Die einstige Theatermacherin dreht sich um und lacht ein trockenes Lachen:
„Das ist alles inszeniert. Ich war vorab hier und habe mit ihnen
ausgemacht, wo sie das Bild hinstellen und was sie sagen sollen.“
## Die Kontrolle behalten
In Aken angekommen führt die Autorin durch ihr Schifferhäuschen, das sie
liebevoll ihre Baustelle nennt, obgleich von einer Baustelle keine Rede
mehr sein kann. Sie lächelt: „Ich würde nie auf eine echte Baustelle
einladen. Es muss schon eine schöne Baustelle sein.“ Und fügt nach einer
Pause hinzu: „Ich habe immer offen getrauert. Aber ich wollte eine schöne
Trauernde sein.“
Sie habe stets die Kontrolle behalten wollen, was andere von ihr zu sehen
bekommen. Bei gleichzeitigem Bedürfnis nach Nähe und Gesehenwerden immer
Angst vor Kontrollverlust gehabt: „Jetzt habe ich den absoluten
Kontrollverlust gewagt.“
Es riecht nach dem Holzöl, mit dem Christine Koschmieder die gerade schwarz
gestrichenen Treppenstufen gebohnert hat. Auf dem oberen Treppenabsatz
steht ein Abzug des Schwarz-Weiß-Bildes ihres verstorbenen Mannes und ihres
ältesten Sohnes im ersten gemeinsamen Urlaub.
In ihrer Küche überlegt die Autorin bei der Antwort auf die Frage, warum
die Passagen über ihren Mann in der Du-Form geschrieben sind, eine Weile:
„Es war die einzig mögliche Form. Ich rede noch oft mit ihm.“ Sie schluckt.
Dann steht sie auf, setzt auf dem Espressokocher mit dem defekten Deckel
Espresso auf und erzählt, wie sie beim Sanieren des Hauses Schicht um
Schicht abgetragen hat.
## Jederzeit die Flucht antreten
Jetzt sei es fast fertig: „Ich habe den Rausch immer dazu genutzt, die
Übermacht in meinem Kopf zu stoppen. Die geht durch die Nüchternheit leider
nicht weg. Im Gegenteil.“ Das Werkeln an dem Haus sei ein Ersatz:
„Irgendetwas gibt es immer zu tun.“ Und dann ist da ja auch noch ihr Roman.
Vom NDR wurde sie aufs rote Sofa eingeladen. Auf dem Flohmarkt hat sie für
den Auftritt eine rote Tasche gesucht, passend zu den roten Schuhen, die
sie dafür auch noch finden wolle. Eine Tasche fürs Fernsehen? Sie lacht:
„Ich habe immer eine Tasche dabei, in der sich alles Wichtige befindet,
damit ich jederzeit die Flucht ergreifen kann.“
Eine Flucht aus dem Fernsehstudio ist Tage später nicht nötig: Die Autorin
überwindet schnell ihre Kamerascheu und zeigt sich im Scheinwerferlicht
genau wie in „Dry“ als souveräne und eloquente Erzählerin.
18 Sep 2022
## AUTOREN
Eva-Lena Lörzer
## TAGS
Autofiktion
Roman
Sucht
Trauer
Kurzfilm
Leben mit Behinderung
Buch
Roman
Klassengesellschaft
Schwerpunkt Emmanuel Macron
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