# taz.de -- Missbrauch und sexuelle Revolution: „68 hat mich gerettet“ | |
> Winfried Ponsens wurde in einem katholischen Internat Opfer sexueller | |
> Gewalt. Trotz ihrer Widersprüche befreite ihn die 68er-Bewegung. Ein | |
> Protokoll. | |
Bild: Sexuelle Revolution in den 60er Jahren; Szene aus dem Film „Pornorama�… | |
Wenn 68 nicht gewesen wäre, würde ich heute wahrscheinlich ein anderer | |
sein. Vielleicht jemand ohne Sexualität, vielleicht mit einer, die nicht | |
gesund zu nennen ist. Jemand, der gebrochen wurde durch Willkür, Gewalt, | |
sexuellen Missbrauch. Aber es gab die 68er Bewegung, sie hat mich gerettet. | |
Als ich zehn Jahre alt war, kam ich ins Internat Collegium Josephinum in | |
Bonn. Das CoJoBo, wie die private katholische Jungenschule mit Internat bis | |
heute genannt wird, war in den 60er Jahren eine Möglichkeit für Söhne nicht | |
vermögender Eltern, Abitur zu machen. Ich war von 1960 bis 1969 dort. Meine | |
Eltern bezahlten 90 Mark im Monat für allumfassende Bildung, Kost und | |
Logis. Alle glaubten, dieses Geld sei gut investiert in die Zukunft des | |
Jungen, der Priester werden wollte. Das Internat war der Ort meiner | |
Kindheit und meiner Jugend, der Ort meiner Sehnsüchte. Und doch so | |
erbärmlich. Später war es die Hölle. | |
Der Alltag glich dem einer Kaserne und nicht einem fröhlichen Ort für | |
Kinder. Morgens um 6 Uhr schrillte der Weckruf. Wir schliefen in einem | |
Schlafsaal mit 60 Betten. Wir hatten sofort aufzuspringen und ein Gebet zu | |
halten. Pater S. drangsalierte uns alle. Den einen schrie er an, den | |
anderen packte er beim Kragen, der Nächste bekam, kaum dass er wach war, | |
die erste Ohrfeige. Beim Waschen nebeneinander an der Waschrinne hatten wir | |
zu schweigen. Wer spritzte, wurde bestraft: alleine sitzen beim Essen, | |
alleine beten in der Kapelle. | |
Wenn wir im Haus oder auf dem Gelände einem der Patres begegneten, hatten | |
wir mit leichter Verneigung zu grüßen: „Grüß Gott, Hochwürden.“ Mich h… | |
vor allem Pater S. spielend unter seine Kontrolle gebracht. Sechs Jahre | |
lang war er mein Präfekt, mein Erzieher. Er war der erste Erwachsene, der | |
seine Versprechen hielt, zum Beispiel von meinen Eltern zu verlangen, | |
regelmäßig Briefe zu schreiben. Ich schaute zu ihm auf, ich liebte und | |
verehrte ihn. Er war aber auch der Erste, der mich demütigte, der Erste, | |
der mir meine Würde nahm. | |
## Griff unter die Decke | |
Eines Nachts kam Pater S. an mein Bett im Gruppenschlafsaal, griff unter | |
meine Decke und machte mir den ersten Samenerguss. Ich lag stocksteif da, | |
atmete kaum und ließ mich vom rauschenden Gefühl des ersten Orgasmus | |
überwältigen. Er flüsterte mir zu, dass ich jetzt ruhigen Gewissens | |
schlafen könne, am nächsten Morgen solle ich noch mal zu ihm kommen. Er | |
sagte mir dann, wenn er das mache, sei das keine Sünde. Und knöpfte mir | |
gleich noch einmal die Hose auf. Danach tat er es immer und immer wieder. | |
Jeden zweiten Tag musste ich zu ihm. Die anderen Jungs auch, manche weniger | |
oft, andere mehr. | |
Er rief uns einzeln zu sich. Gespräche, Verhöre. Auch Sexualaufklärung, so | |
nannte er das. Wir mussten vor ihm masturbieren, bis kurz vor dem Orgasmus, | |
dann sollten wir aufhören. Wir sollten trainieren, der Versuchung zu | |
widerstehen. Ein Orgasmus war nur „erlaubt“, wenn er ihn uns verschaffte. | |
Untereinander sprachen wir nie darüber, was der Pater mit uns anstellte. | |
Darüber habe ich 45 Jahre lang geschwiegen. Heute bin ich 64 und | |
pensioniert. Bis vor kurzem leitete ich eine Schule für | |
verhaltensauffällige Kinder. Die meisten von ihnen kommen aus Familien, in | |
denen Gewalt und Missbrauch an der Tagesordnung sind. Als Lehrer und Opfer | |
wollte ich der Retter dieser Kinder sein. Ich war gefangen im Dramadreieck, | |
meine zerstörte Kindheit und Jugend haben mein gesamtes Leben bestimmt. | |
Um überleben zu können, musste ich den Missbrauch von mir abspalten. Ich | |
verlegte ihn in den hintersten Winkel meiner Seele. Ich wollte meine | |
Beschädigung verbergen und vor allem verbergen, dass ich ständig damit | |
beschäftigt war, sie zu verbergen. Ich wollte gesund sein, attraktiv und | |
lebensfroh, mindestens wollte ich so erscheinen. Ich wollte Frauen haben | |
und lieben, ich wollte Sex haben dürfen. Ich wollte einfach leben. | |
Im Internat gab es nur das Frommsein, jeden Tag die heilige Messe, beten, | |
schweigen, studieren. Es gab fast nichts zum Spielen, nichts Kindgerechtes. | |
Die einzigen Momente, in denen ich eine Ahnung davon bekam, dass auch ich | |
wichtig war, das waren die sexuellen Kontakte mit dem Täter. | |
Ja, ich bekenne mich schuldig: Ich wollte Nähe, ich wollte liebevolle | |
Berührung, ich wollte in den Arm genommen werden. Die Küsse, die wollte ich | |
nicht. Aber irgendwann identifizierte ich mich mit den Übergriffen des | |
Paters – geschah doch alles zu „meinem Heil“. Ich machte mich zum Mittät… | |
indem ich die Verantwortung dafür in mir suchte und nicht im Erwachsenen. | |
## 1968 – als die Freiheit begann | |
Und dann kam 68. Im letzten Jahr im Internat, 1969, bekam ich von dieser | |
neuen gesellschaftlichen Bewegung der Hippies und Studenten nur Bruchstücke | |
mit. Aber die reichten für meinen radikalen Schritt: Sofort nach dem Abitur | |
trat ich aus der Kirche aus und verweigerte den Kriegsdienst. | |
Mit dem Zivildienst begann meine Freiheit, zum ersten Mal hatte ich ein | |
eigenes Zimmer. Fortan ließ ich das Leben auf mich regnen. Ich schaute | |
diese aufregenden Filme von Oswalt Kolle, dem Sexaufklärer der Nation. Ich | |
las Bücher über die Befreiung der Sexualität, ich hörte die Musik aus | |
Woodstock und steckte mir Blumen in die Locken. Ich hatte die erste | |
Freundin, ich durfte mich trennen und wieder neu verlieben. Ich lebte den | |
kompletten Gegenentwurf zu dem, was vorher war. | |
Dieses neue Leben hat mich gerettet, 68 hat mich befreit. Vorher war | |
Sexualität etwas Schmutziges, etwas, das nicht sein durfte. Jetzt war | |
Sexualität etwas Schönes, etwas, das man gestalten durfte. Meine Befreiung | |
aus den Klauen der Kirche und aller sonstigen Autoritäten brauchte einen | |
radikalen Gegenentwurf. Den hat 68 geliefert. | |
## Missbrauchsaufruf unter dem Namen der sexuellen Befreiung | |
Während meines Lehrerstudiums Anfang der 70er Jahre las ich Texte zur | |
sogenannten befreienden Sexualerziehung. Die Bücher stehen heute noch in | |
meinem Regal. Wenn ich jetzt da reinschaue, erschrecke ich. Die Schriften | |
rufen ungeniert zu sexuellen Übergriffen auf. So „übergriffig“ habe ich | |
damals wohl selber gedacht. Und geredet. Aber ich habe es nicht so | |
empfunden. Im Gegenteil: Ich habe diese aneinandergereihten komplizierten | |
und gestelzten Worthülsen wie „Solidarisierung hebt die Vereinzelung auf | |
und ermöglicht die Produktion erotischer Beziehungen gegen die | |
pädagogischen Verhinderer“ gar nicht richtig verstanden. Ich konnte sie | |
nicht übersetzen ins Leben, schon gar nicht in meins. | |
Mit sexueller Gewalt habe ich diese Texte nicht in Zusammenhang gebracht, | |
eher mit der Rettung der Menschheit und der Zukunft einer schönen neuen | |
Welt. Mir selbst ist massive sexuelle Gewalt angetan worden, ich war hoch | |
sensibilisiert gegenüber Grenzüberschreitungen, vor allem als Lehrer. Aber | |
ich habe nicht verstanden, dass in diesen Texten zum Sex zwischen Kindern | |
und Erwachsenen aufgerufen wurde. Ich selbst bin nie auf die Idee gekommen, | |
das selber zu tun. Aber ich habe zugelassen, dass Kollegen im | |
Sportunterricht Schüler mit Massagespielen belästigten. Absurd. | |
Vielleicht war es auch einfach so: Die 68er waren „die Guten“, diejenigen, | |
die die Gesellschaft vom Mief der 50er Jahre und vom Autoritarismus | |
befreien wollten, sie waren die Retter. Da passte Missbrauch schlicht nicht | |
rein, zumindest nicht für mich. | |
Heute erschreckt mich, dass ich damals das Machtgefälle zwischen | |
Erwachsenen und Kindern nicht durchdacht habe. Heute erscheint mir sogar | |
das juristische Schutzalter für Jugendliche von 14 Jahren als zu niedrig. | |
Heute kann ich reden über das, was mir damals vor fünfzig Jahren angetan | |
wurde, heute erkenne ich Zusammenhänge. Es ist wichtig, darüber zu | |
sprechen, weil es nicht nur um mich geht, sondern auch um alle anderen, | |
denen so etwas passiert ist. Damals wie heute – ob im Internat, in der | |
Familie, in der Kommune oder sonst wo. | |
5 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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