# taz.de -- Autor über sexuelle Revolution im Osten: „Das machten nur böse … | |
> Eine sexuelle Revolution hat es in der DDR nicht gegeben. Trotzdem waren | |
> die Ossis immer unbefangener beim Sex. Wie kommt das? | |
Bild: FKK im Osten war reine Pseudo-Lockerheit, meint Jürgen Lemke. | |
taz: Herr Lemke, wenn es um die sexuelle Revolution geht, ist der Westen | |
gemeint. Gab es so etwas auch im Osten? | |
Jürgen Lemke: Nein. Das, was in der DDR immer so gern als sexuelle Freiheit | |
gepriesen wurde … | |
FKK und so … | |
… war reine Pseudolockerheit, nach dem Motto: Die im Westen sind so | |
verklemmt, die gehen immer mit Badehose schwimmen. | |
War die FKK-Bewegung staatlich verordnet? | |
Nein, das nicht. Die hat eher mit einer traditionellen Arbeiterkultur zu | |
tun: am Wochenende raus aus der Stadt, rein ins Grüne, an die frische Luft, | |
hin zum Ursprünglichen. Es spricht ja auch nichts dagegen, nackt baden zu | |
gehen. Aber das wurde dann von der Obrigkeit gern so hingestellt, dass der | |
Osten sexuell nicht verklemmt war. | |
War der Osten das? | |
Mitnichten. Sexuelle Spielarten jenseits des Heterosexuellen gab es | |
offiziell nicht. Nehmen Sie Homosexualität: Bis in die 80er Jahre hinein | |
galten Schwule und Lesben als Rudimente bürgerlicher Moral. | |
Frauen im Osten waren durch ihre ökonomische Unabhängigkeit vielfach freier | |
als Frauen im Westen, die mitunter lebenslang an ihre Männer gekettet | |
waren. Wirkte sich das auf die sexuelle Befreiung in der DDR aus? | |
Den großen Befreiungsschlag brachte in der DDR die Pille. Frauen konnten | |
selbst bestimmen, ob und wann sie ein Kind bekommen. Und aus ökonomischer | |
Sicht mussten sie nicht mit einem Mann zusammenbleiben, nur weil es Kinder | |
gab. Das war das eigentlich Revolutionäre bei der Befreiung der Sexualität. | |
Die Pille hat mehr bewirkt als jede Debatte über Sex – sowohl im Osten als | |
auch im Westen. Und machen wir uns nichts vor: Die sexuelle Revolution im | |
Westen wurde auch nur von einer Minderheit getragen. | |
Trotzdem wurde der Osten immer immer als sexuelles Paradies angesehen. | |
Frauen waren leicht ins Bett zu kriegen, Männer haben erst recht nicht lang | |
gefackelt. | |
Vereinfacht gesagt: In der Zeit, in der im Westen wilde Debatten geführt | |
wurden, hat man im Osten gevögelt. Nach Italien durfte man auch nicht, da | |
blieb viel Zeit für die angeblich schönste Sache der Welt. | |
Ist das nicht ein Widerspruch: Es gab keine sexuelle Revolution im Osten | |
und doch war der Osten sexuell freier? | |
Das hatte wirklich viel mit den Frauen zu tun, die über sich selbst anders | |
bestimmen konnten als die Frauen im Westen. Das spiegelte sich | |
beispielsweise in Defa-Spielfilmen der 60er Jahre wider. Vergleicht man | |
Filme aus dem Osten und aus dem Westen, wundert man sich. In den Ostfilmen | |
gab es moderne, aufgeklärte Frauen, es ging um Gleichberechtigung und die | |
Macht zwischen den Geschlechtern. All das wurde in den Werken aus dem | |
Westen nicht behandelt. Da gab es vor allem Heimat- und Bergfilme, Caterina | |
Valente und Peter Alexander haben von der Treue und von der ewig währenden | |
Liebe gesungen. Leider war das mit dem Fortschritt im Film und in der Kunst | |
mit dem Kulturplenum 1965 vorbei. In dem Jahr wurden so gut wie alle | |
emanzipatorischen Filme verboten. | |
Eine sexuell freie Gesellschaft wird also vor allem von der Lust der Frauen | |
getragen? | |
Selbstverständlich. 68 im Westen war ja auch ein Aufstand gegen eine | |
patriarchale Gesellschaft, aus der sich vor allem Frauen, aber auch Männer | |
befreien wollten. Dass es im Anschluss daran Auswirkungen gab, die wiederum | |
eine Art Backlash darstellten, wie beispielsweise die Männerfeindlichkeit | |
des damaligen Feminismus, das steht auf einem anderen Blatt. Aber | |
grundsätzlich haben Frauenbewegung und Feminismus ganz wesentlich zu einer | |
Demokratisierung der Geschlechter und der gesamten Gesellschaft | |
beigetragen. Eine Schattenseite der sexuellen Revolution im Westen waren | |
die pädosexuellen Auswüchse. | |
Wie meinen Sie das? | |
Über die Köpfe der Kinder und Jugendlichen hinweg haben ein paar Pädos | |
entschieden, dass Sex zwischen Kindern und Erwachsenen gut ist für die | |
kindliche Entwicklung. Gemäß der Vorstellung: Wenn Kinder das nicht tun, | |
dann haben sie was verpasst. Aus meiner Praxis als Psychotherapeut kenne | |
ich einen Fall, da war die Mutter stolz darauf, dass ihr Sohn ein | |
Verhältnis mit seinem Lehrer hatte. Der Mutter kann man nicht mal einen | |
Vorwurf daraus machen. Sie sagte, sie habe sich dabei zwar immer unwohl | |
gefühlt, aber sie wollte keine dieser „Gestrigen“ sein, sie wollte alles | |
richtig machen. | |
Das gab es im Osten so nicht? | |
Zumindest nicht mit dieser Konnotation. Klar gab es im Osten Pädosexuelle | |
und Pädokriminelle. Immer mal wieder wurde bekannt, wenn ein Kind | |
missbraucht wurde, der Täter wurde dann verurteilt. Das letzte Todesurteil | |
in der DDR wurde gegen einen Mann verhängt, der Jungs missbraucht und | |
anschließend ermordet hatte. | |
Das klingt so, als ob das Bewusstsein, dass Sex mit Kindern nicht richtig | |
ist, im Osten stärker ausgeprägt war. | |
Das Westpaket sexuelle Revolution war im Osten nicht massenkompatibel. Das | |
hat sicher viele davor geschützt, Dinge zu sagen oder zu tun, die sie heute | |
als falsch ansehen. | |
Was meinen Sie damit? | |
Mich hat der Fakt, dass ich im Osten lebte, vermutlich davor bewahrt, dem | |
Gedanken zu folgen, dass zur ordentlichen Entwicklung eines Kindes Sex mit | |
Erwachsenen gehört. Wäre ich im Westen aufgewachsen, wäre ich | |
möglicherweise auch in diese Falle gerannt – so wie viele im Westen. Dafür | |
gibt es heute ein Wort: Zeitgeist. | |
Gab es im Osten nicht eher das Stigma, dass alle Schwulen Kinderficker | |
sind? | |
Das gab es. Und es passte nicht ins sozialistische Menschenbild. Weswegen | |
es bis in die 80er Jahre hinein ja offiziell auch keine Schwulen gab. | |
Welche Rolle spielte die ostdeutsche Schwulenbewegung für die sexuelle | |
Befreiung im Osten? | |
Anfang der 80er Jahre gründeten sich unter dem Dach der evangelischen | |
Kirche die ersten sogenannten Homosexuellen-Gesprächskreise, Mitte und Ende | |
der 80er wurde an der Humboldt-Uni ein Arbeitskreis Homosexualität | |
gegründet, der Sonntags-Club ins Leben gerufen, die erste vom Staat | |
unterstützte Organisationsform für Schwule und Lesben. Der Staat konnte | |
nicht mehr leugnen, dass es nicht nur Heteros gab. Die Ausreiseanträge von | |
Frauen und Männern häuften sich, die als Begründung für ihren Weggang | |
angaben: Ich kann meine Homosexualität hier nicht leben. Die Homo-Bewegung | |
im Osten war damals sehr politisiert, viel politischer, als sie im Westen | |
damals war. | |
War der Kampf der Schwulen im Westen gegen den § 175, der Homosexualität | |
unter Strafe stellte, denn unpolitisch? | |
Diesen Kampf fochten nur wenige. Im Westen ging es vor allem um die | |
schicksten Ausgehmöglichkeiten, um Lack und Leder. Als ich mit meinem Buch | |
über homosexuelle Männer „Ganz normal anders“ das erste Mal in den Westen | |
reisen durfte zu Lesungen, Ende der 80er, fragte ich zum Beispiel nach | |
Dingen wie Adoptionsrecht für Lesben und Schwule, was heute so allgemein | |
debattiert wird. Das hat die Homo-Bewegung damals im Osten schon | |
interessiert. Aber die Schwulen im Westen winkten nur ab. | |
Warum entwickelte sich im Osten kein Kommunenleben so wie im Westen? | |
Dafür war die DDR zu spießig. Das erlaubte auch die SED nicht. Wenn ein | |
hoher Parteifunktionär fremdging und das rauskam, musste der damit rechnen, | |
ein Parteiverfahren zu bekommen. Sexuelle Fantasien, Begehren generell | |
richten sich allerdings selten nach Parteivorgaben. | |
Wurden die Fantasien ausgelebt? | |
Natürlich. Ein Mann mit mehreren Frauen im Bett, das war nun nicht | |
unbedingt tägliche Praxis. Aber das gab es. Viele erschraken aber | |
angesichts ihrer sexuellen Vorlieben, beispielsweise anderen beim Sex | |
zuzuschauen. Das machten doch nur böse Kapitalisten. Andererseits musste | |
niemand fürchten, für seine sexuellen Spielchen zur Rechenschaft gezogen zu | |
werden, solange er nach außen nach dem sozialistischen Moralkodex lebte. | |
Ich kannte einen Dokumentarfilmer, der extrem sozialistische | |
Propagandafilme drehte. Als Gegenleistung durfte er sich in seinem Haus | |
einen SM-Keller einrichten, der legendär war. | |
6 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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