# taz.de -- Neues Buch über Psychoanalyse: Streiter für das Mitgefühl | |
> Empathie ist das Lebensthema von Arno Gruen. Der Analytiker und Autor hat | |
> darüber ein neues Buch veröffentlicht. | |
Bild: Ritualisiertes Mitgefühl: Zum Gedenken der Opfer von Fukushima. | |
Unsere rationale, profit- und zweckorientierte Welt ohne Mitgefühl beklagte | |
Papst Franziskus bei seinem Besuch der Migrantenunterkünfte auf Lampedusa. | |
Empathie, Einfühlungsvermögen, ist die bedeutendste Fähigkeit in der | |
interkulturellen Begegnung, denn sie kann selbst kulturelle Differenzen | |
überwinden. | |
Und sie ist auch die größte Herausforderung für den Therapeuten. Ob sie nun | |
über die Spiegelneuronen im Hirn, eine geglückte Kindheit oder beides | |
gefördert wird – Empathie ist der Schlüssel für Menschlichkeit und | |
Mitgefühl. | |
„Ohne Empathie keine Demokratie“, behauptet Arno Gruen, der | |
Psychoanalytiker aus Zürich. Er wurde 1923 in Berlin als Sohn jüdischer | |
Eltern geboren, 1936 emigrierte er in die USA. Seit 1958 arbeitet Gruen als | |
Psychoanalytiker, zunächst in New York, heute in Zürich. Empathie ist sein | |
Lebensthema. | |
Der 90-jährige Gruen hat nun ein neues Buch veröffentlicht. „Dem Leben | |
entfremdet. Warum wir wieder lernen müssen zu fühlen“. Sein Buch | |
beschäftigt sich mit der verkümmerten Empfindungsfähigkeit unserer Kultur. | |
Gruen greift in seinem neuen Buch die Grundthesen seiner vorausgegangen | |
Bücher auf. Beispielsweise die These, dass mangelnde Liebe in der Kindheit | |
Menschen mit einer fragilen Identität erzeugt. „Empathie führt zur inneren | |
Stärke“, sagt Gruen. „Menschen, die zu den kalten Verbrechen der Nazis | |
fähig sind, haben zu wenig Mitgefühl und Liebe erfahren.“ | |
Der Faschismus ist das Lebensthema von Gruen. Für das Buch „Der Fremde in | |
uns“, das sich mit der die Psyche von Nazis auseinandersetzt, bekam er 2001 | |
den Geschwister-Scholl-Preis. 2002 erschien sein Buch „Der Kampf um die | |
Demokratie“. | |
## Emphatie führt zu innerer Stärke | |
Fehlte dem Terrortrio um Beate Zschäpe die Empathie? „Sicher“, sagt Gruen | |
beim Gespräch in seiner Züricher Praxis. „Das sind Leute, die eigentlich | |
keine menschlichen Gefühle haben, die voller Hass sind. Am anderen hassen | |
sie dass, was sie gelernt haben, an sich selbst zu hassen. Ob sich diese | |
Feindseligkeit gegen Roma, Türken oder Araber richtet ist gleich.“ | |
Sind sie gefühllos, weil sie in ihrer frühesten Kindheit keine Liebe | |
erfuhren? „Wahrscheinlich und weil sie eigene Vernachlässigung und Schmerz | |
nicht spüren. Das fängt ganz früh an. In den ersten Tagen nach der Geburt. | |
Wenn die Bedürfnisse eines Kindes nicht erwidert werden.“ | |
Immer wieder bezieht sich Gruen auf Ethnologen und deren Forschung in | |
anderen Zivilisationen, jenseits der Hochkulturen, die sich, so behauptet | |
er, ihren Kindern emphatischer widmen, die nicht auf Leistung, sondern auf | |
Kooperation setzen. Diese ethnologische Forschungen zitiert er zahlreich, | |
sie liefern Gruen den Beweis für ein denkbares anderes System, ein anderes | |
Menschenbild. „Wir leben in einer Kultur des Wettbewerbs. Und Kinder werden | |
dazu systematisch herangezogen.“ | |
## Fundamentalkritik an unserer Zivilisation | |
Die Welt, in der wir leben, sei bestimmt von Kampf, Wettbewerb, Profit und | |
Isolation. Dieser Kampf fange mit der Entwicklung von Besitz und Macht an. | |
„Aber unsere Evolution wurde nicht durch Kampf und Wettbewerb | |
hervorgebracht, sondern durch Kooperation“, behauptet er. Empathie ist nach | |
Gruen eine angeborene Fähigkeit. Liebe und Wärme braucht es, um sie zu | |
erhalten. | |
Idealisiert er die menschliche Natur? „In unserer Zivilisation“, sagt | |
Gruen, „drängen wir das Empathische systematisch zurück. Die Welt aus der | |
Sicht eines anderen zu sehen – das haben wir verlernt, das macht uns | |
krank.“ Doch es formierten sich neue soziale Bewegungen. Die Kritik an der | |
klaffenden Schere zwischen Arm und Reich wachse. Empathie habe eine | |
politische Dimensionen. Warum wählen dann die Armen Amerikas häufig | |
Republikaner? „Weil wir uns mit denen identifizieren, die erfolgreich sind | |
und die Macht haben. Mit denen, die uns Schmerzen zufügen.“ | |
Nach Gruen leben wir in einer durchkonstruierten Welt. Und sind unfähig, | |
lebendig, mitfühlend und empathisch die Wirklichkeit wahrzunehmen. „Der | |
Gehorsam engt uns ein.“ Er führe dazu, dass wir genauso werden, wie die, | |
die Macht über uns haben. Und das verewige dieses System. Aber ist – | |
zumindest in Mitteleuropa – der autoritätshörige, gehorsame Charakter nicht | |
am Verschwinden? Leben wir nicht im Zeitalter des fröhlichen Narzissten, | |
der aus reiner Bequemlichkeit opportunistisch ist? „Wie erklären sie sich | |
dann, dass die Nazis in manchen Regionen Deutschlands achtzehn Prozent | |
haben?“, fragt Grün. Auch die Nazis seien narzisstisch. | |
## Vom kalten Nazi zum profitorientierten Banker | |
Dennoch: Ist das repressive, autoritäre Erziehungsmodell, das er im | |
Faschismus erlebte und das er in seinen Bücher immer wieder kritisiert, | |
nicht längst auf dem Rückzug? Werden Kinder heute nicht eher verwöhnt? | |
„Wenn Sie glauben, autoritäre Strukturen seien auf dem Rückzug, was sagen | |
Sie dann zur republikanischen Teaparty-Bewegung in den USA?“, fragt Gruen. | |
Der Psychoanalytiker beharrt auf seinen Thesen, die seinem | |
Gesellschaftsbild, seiner gesellschaftlichen Erfahrung verhaftet sind. Er | |
wiederholt sich. Er bietet die immer gleichen Antworten, Erfahrungen und | |
Anekdoten auf neue, sich verändernde gesellschaftliche Realitäten, die er | |
holzschnittartig einordnet. | |
Das mindert nicht die Bedeutung der Empathie, für die Gruen streitet. Aber | |
die Neugier auf seine Bücher. Statt kalter Nazi, müssen heute berechnende, | |
profitgesteuerte Banker seiner These vom gefühllosen Charakter standhalten. | |
Arno Gruen plädiert für eine „emotionale Intelligenz“. Meint er damit eine | |
Kultur der Achtsamkeit, wie sie heute in Mittelschichtskreisen modern ist? | |
„Achtsamkeit? Das macht Sinn“, sagt Gruen. „Aber Empathie ist kein | |
kognitiv-rationaler Prozess. Es ist eine natürliche Wahrnehmung, die viel, | |
viel tiefer geht.“ | |
9 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
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