# taz.de -- Im Bett mit der Corona-Erkrankung: Die Verschwörung der Verlierer | |
> Paul B. Preciado, europäischer Kultautor des Queer- und Transaktivismus, | |
> erkrankte vor Kurzem an Covid-19. In seinem neuen Buch erzählt er davon. | |
Bild: Orientiert an Würde und Autonomie: der spanische Philosoph Paul B. Preci… | |
Krank wurde ich am 11. März in Paris, noch bevor die französische Regierung | |
die [1][Ausgangssperre] anordnete, und als ich knapp eine Woche später, am | |
19. März, mein Bett wieder verließ, war die Welt eine andere geworden. Als | |
ich mich hingelegt hatte, war die Welt noch nah, gemeinschaftlich, viskos | |
und dreckig gewesen. | |
Als ich aufstand, war sie weit weg, vereinzelt, ausgetrocknet und klinisch | |
sauber. Während der Krankheit war ich zunächst nicht in der Lage gewesen, | |
die Ereignisse unter politischen oder ökonomischen Gesichtspunkten zu | |
durchdenken, weil das Fieber und das Unwohlsein meine Lebensenergie | |
überstiegen. Niemand ist ein Philosoph, während gerade sein Kopf | |
explodiert. Hin und wieder schaute ich Nachrichten, aber das trug nicht | |
gerade zu einer Verbesserung meiner Lage bei. | |
Die Realität glich einem bösen Traum, die Titelseiten der Zeitungen waren | |
so verwirrend wie die Visionen, die mich während des Fiebers überfielen. | |
Ich entschied mich, zwei Tage lang keine einzige Website zu öffnen. | |
Wahrscheinlich war es dieses selbstverordnete Rezept gegen die Angst | |
zusammen mit dem Oregano-Öl, das schließlich zu meiner Genesung führte. | |
Atemprobleme hatte ich zunächst nicht, aber es fiel mir schwer, mir | |
vorzustellen, dass ich auch weiterhin würde atmen können. Todesangst | |
verspürte ich nicht. Aber Angst davor, allein zu sterben. | |
## Alles hat sich verschoben | |
Zwischen Fieberschüben und Angstattacken sagte ich mir, dass sich die | |
Parameter des Sozialen für immer verändert hätten und dass es von nun an | |
unmöglich sein würde, sie noch einmal zu modifizieren. Der Gedanke bohrte | |
sich mit der Gewalt einer Epiphanie in meine Brust, während mir das Atmen | |
wieder leichter fiel. Alles würde von nun an in der neuen Form verharren, | |
die die Dinge plötzlich angenommen hatten. Wir würden Zugang zu noch | |
exzessiveren Formen digitalen Konsums haben, aber unsere Körper, unsere | |
physischen Organismen blieben aller Kontakte und aller Vitalität beraubt. | |
Die Mutation würde zu einer Kristallisation des organischen Lebens führen, | |
zu einer Digitalisierung der Arbeit und des Konsums, zu einer | |
Entmaterialisierung des Begehrens. Verheiratete wären von nun an gezwungen, | |
rund um die Uhr eingesperrt zusammenzuleben, ob sie sich nun hassten oder | |
liebten oder beides zugleich (was wohl, nebenbei bemerkt, ohnehin die | |
häufigste Konstellation ist, werden Paare doch von einem | |
quantenphysikalischen Gesetz regiert, gemäß dem es keine Gegensätze gibt, | |
sondern allein die Gleichzeitigkeit dialektischer Tatsachen). | |
In dieser neuen Realität würden jene von uns, die die Liebe vor der großen | |
Covid-19-Mutation verloren oder noch gar nicht gefunden hatten, dazu | |
verdammt sein, den Rest ihres Lebens in totaler Einsamkeit zu verbringen. | |
Wir würden überleben, aber ohne Berührungen, ohne Haut. Wer es zuvor nicht | |
gewagt hatte, einer geliebten Person seine Liebe zu gestehen, würde diese | |
Person auch dann nicht wiedersehen, wenn er plötzlich den Mut fände, seinen | |
Gefühlen Ausdruck zu verleihen. | |
Er würde von nun an in der Erwartung einer physischen Begegnung leben, die | |
sich nie realisieren würde. Wer vor der Mutation zu einer Reise | |
aufgebrochen war, müsste für immer jenseits der Grenze leben, und die | |
Großbürger, die sich ans Meer oder aufs Land zurückgezogen hatten, um die | |
Tage des Ausgangsverbots in ihren komfortablen Zweitwohnsitzen zu | |
verbringen, könnten nie in die Stadt zurückkehren (die Armen!). | |
## Alles bliebe eingefroren | |
Man würde ihre Häuser beschlagnahmen, um darin Obdachlose unterzubringen, | |
die im Gegensatz zu den Reichen auch weiterhin in der Stadt lebten. Alles | |
bliebe bis in alle Ewigkeit in dem Zustand eingefroren, den die Dinge mit | |
dem Ausbruch des Virus angenommen hatten. | |
Was als vorübergehende Ausgangssperre begonnen hatte, würde für die Dauer | |
unseres gesamten Lebens verlängert. Gut, vielleicht würden sich die Dinge | |
doch noch einmal ändern, aber sicher nicht für jene von uns, die bereits | |
über vierzig waren. Das war die neue Realität. Das Leben nach der großen | |
Mutation. Und ich fragte mich, ob es die Mühe wert wäre, so zu leben. | |
Als ich nach der Woche, die ich mit dem Virus im Bett verbracht hatte – | |
eine Woche, so unermesslich und sonderbar wie ein neuentdeckter Kontinent | |
–, aufstand, stellte ich mir als Erstes folgende Frage: Unter welchen | |
Bedingungen würde sich das Weiterleben lohnen? Und auf welche Weise sollte | |
man weiterleben? | |
Als Nächstes, und noch bevor ich eine Antwort gefunden hatte, machte ich | |
mich daran, einen Liebesbrief zu schreiben. Von all den | |
Verschwörungstheorien, die ich mittlerweile gelesen hatte, gefiel mir jene | |
am besten, laut welcher das Virus von einem Labor erfunden worden war, | |
damit alle Verlierer auf der Welt ihre Expartner zurückerobern konnten – | |
allerdings ohne dazu verpflichtet zu sein, dann auch wirklich wieder mit | |
ihnen zusammenzukommen. | |
## Angst und Zweifel | |
Das Pathos und die Angst, die Sorgen und die Zweifel, die sich während der | |
Woche aufgestaut hatten, flossen nun in diesen Brief. Das Dokument geriet | |
nicht allein zu einer so poetischen wie verzweifelten Liebeserklärung, | |
sondern beschämte vor allem denjenigen, der schließlich seine Unterschrift | |
daruntersetzte. | |
Aber wenn die Dinge sich ohnehin nicht mehr ändern würden, wenn die, die | |
sich nun fern waren, sich nie wieder berührten – welche Rolle spielte es da | |
schon, wenn man sich auf diese Weise blamierte? War es nicht völlig egal, | |
jetzt, da die geliebte Person, der man seine Liebe gestand, einen | |
wahrscheinlich eh längst vergessen oder ersetzt hatte? Wenn man sie ohnehin | |
nie wiedersehen würde? | |
Dieser Text ist erschienen als Vorabdruck aus dem Buch von Paul B. Preciado | |
mit dem Titel „Ein Apartment auf dem Uranus. Chroniken eines Übergangs“ | |
(Suhrkamp, 368 Seiten, 20 Euro). | |
4 May 2020 | |
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[1] /Coronavirus-in-Frankreich/!5679530&s=corona+frankreich/ | |
## AUTOREN | |
Paul B. Preciado | |
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