# taz.de -- Buch über die Nürnberger Prozesse: Banalität und Grauen | |
> Hunderte von Schriftstellern und Reporterinnen berichteten über die | |
> Nürnberger Prozesse. Uwe Neumahr erzählt das in einem aufregenden Buch. | |
Bild: Journalist:innen während der Nürnberger Prozesse, es waren Hunderte zug… | |
Der Nationalsozialismus und seine Untaten erwiesen sich nach dem Ende des | |
Zweiten Weltkriegs als ein Konglomerat historisch bisher ungekannter, ja | |
sogar ungeahnter Gräueltaten. Dem in irgendeiner Weise gerecht zu werden, | |
war kaum möglich – gleichwohl versuchten die sich einander mehr und mehr | |
entfremdenden Alliierten dem irgendwie zu entsprechen: mit den bereits 1946 | |
beginnenden [1][Nürnberger Prozessen], bei denen Hitlers Stellvertreter | |
Hermann Göring als Hauptangeklagter schließlich zum Tode verurteilt wurde. | |
Seit Anbeginn der Prozesse war die internationale Aufmerksamkeit groß, | |
weshalb Hunderte von Journalistinnen und Berichterstattern in jener Zeit in | |
Nürnberg zugegen waren; sehr viele von ihnen – Männer und Frauen getrennt �… | |
wurden im Schloss der Familie Faber-Castell untergebracht. | |
Viele von ihnen waren bereits bekannte Autorinnen und Autoren, teils aus | |
dem alliierten Ausland, teils remigrierte Deutsche wie Erika Mann, Erich | |
Kästner, Wolfgang Hildesheimer, Willy Brandt oder Markus Wolf. Unter den | |
ausländischen KorrespondentInnen fanden sich zudem später berühmt gewordene | |
Persönlichkeiten wie William Shirer, der Romancier John dos Passos, aber | |
auch [2][Frauen wie Martha Gellhorn], Else Triolet oder Rebecca West. | |
Da es für „normale“ Menschen zunächst kaum erträglich war, täglich von | |
derartigen Gräueltaten zu hören, bauten die Männer und Frauen, die von dem | |
Prozess berichteten, einen psychischen Schutzwall auf – einen Schutzwall, | |
der es ihnen ermöglichte, von all dem Ungeheuerlichen zu berichten und | |
dabei gleichwohl ein soziales Leben mit ihresgleichen zu führen. | |
## Trinkgelage und Liebschaften | |
Und so entwickelte sich unter den internationalen – auch sowjetischen – | |
Journalistinnen bald ein reges, intensives gesellschaftliches Leben: mit | |
Trinkgelagen, heftigen Auseinandersetzungen, aber auch mit Liebschaften. | |
Bei alledem herrschte zudem eine nicht unerhebliche Spannung zwischen | |
zurückgekehrten Emigranten wie Peter de Mendelssohn sowie „inneren | |
Emigranten“ wie dem keineswegs nur als Kinderbuchautor bekannten Erich | |
Kästner. | |
Beispielhaft für diese Konstellation steht die Beziehung zwischen Thomas | |
Manns Tochter Erika sowie dem in Deutschland verbliebenen | |
Sonderberichterstatter Wilhelm Emanuel Süskind, der für die Süddeutsche | |
Zeitung schrieb und der vor der NS-Zeit und dem Krieg eng mit Klaus und | |
Erika Mann befreundet war. | |
Süskind, der sich – anders als die Manns – mit dem NS Regime arrangiert | |
hatte, wurde nämlich Mitherausgeber der nach Kriegsbeginn erscheinenden | |
Krakauer Monatshefte, einer nationalsozialistischen Propagandazeitschrift. | |
Ohne jede Reue wandelte er sich geschickt zu einem Vertreter des | |
„erneuerten Deutschlands“, als dessen Vertreter er sich während der | |
Berichterstattung aus Nürnberg gerierte – was ihm den besonderen Hass der | |
von ihm einstmals verehrten Erika Mann eintrug. | |
Nicht zuletzt deshalb, weil Erika Mann für Süskind noch in der Weimarer | |
Zeit der Inbegriff der von ihm so genannten „tänzerischen Generation“ war. | |
Trotz aller Versuche Süskinds, ihre ehemalige Freundschaft wiederzubeleben, | |
blieb Erika Mann unversöhnlich. | |
## Den Geist des Schlosses beleidigen | |
Es waren keinesfalls nur spätere Historiker wie William Shirer, sondern | |
Frauen, die in herausragender Weise von dem Prozessgeschehen berichteten: | |
außer Erika Mann nämlich Janet Flanner, Else Triolet sowie Rebecca West. | |
Schrieb West doch über den Aufenthaltsort der weiblichen | |
Berichterstatterinnen: „Nichts kann den Geist des Schlosses mehr | |
beleidigt haben als diese Korrespondentinnen. Seine Hallen waren für Frauen | |
entworfen worden, die in ihren Korsagen wie in Gefängnistürmen lebten [….], | |
deren Füße in Schuhe eingesperrt waren, die sie vom schnellen Gang | |
abhielten und verkündeten, dass ihre Trägerinnen sich im Genuss ewiger Muße | |
befanden.“ | |
Und in der Tat waren die Berichterstatterinnen aus Nürnberg genau das | |
Gegenteil von alledem: Das zeigt nicht nur die ruhelose Aktivität der Erika | |
Mann, sondern auch das Leben von Martha Gellhorn, die mit Ernest Hemingway | |
verheiratet war, von Else Triolet, der Gattin des französischen Kommunisten | |
Louis Aragon, sowie von Janet Flanner, die für den New Yorker aus Nürnberg | |
berichtete. | |
Nicht zu vergessen die – für damalige Zeiten – radikal feministische Britin | |
Rebecca West, die doch tatsächlich in ihren Aufzeichnungen notierte, dass | |
die Angeklagten in Nürnberg dieselbe Hoffnung hegten wie die vielen | |
Liebenden unter den Berichterstatterinnen und Berichterstattern: dass | |
nämlich die Prozesse niemals enden sollten; ging es doch in Wests Fall um | |
eine Affäre mit einem der Nürnberger Richter, mit George Biddle, der im | |
Juli 1946 in seinem Tagebuch notiert hatte: „Morgen Abendessen, werde | |
Rebecca West sehen und mit der Engländerin schlafen, wenn sie nicht zu dick | |
geworden ist.“ | |
## Gott, der Mensch und die Welt | |
Es mutet auf den ersten Blick eigentümlich an, eine derart banale | |
Lebenswelt neben der Dokumentation des schlimmsten welthistorischen | |
Menschheitsverbrechen zur Kenntnis zu nehmen. | |
Doch ist es genau diese Diskrepanz, die Neumahrs Studie über eine bloße | |
Dokumentation hinaustreibt und zu einem moralischen Lehrstück macht; einem | |
Lehrstück ganz im Sinne des zwischen der Tochter Thomas Manns und dem ihr – | |
auch nach dem Krieg – zugewandten opportunistischen Autor Süskind immer | |
wieder diskutierten Goethe, der in seinen italienischen Epigrammen einmal | |
schrieb: „Ist’s denn so groß, was Gott, der Mensch und die Welt sei – ne… | |
– doch keiner will’s hören, drum bleibt es geheim …“ | |
10 Apr 2023 | |
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## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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