# taz.de -- Kolumne Hier und dort: Ich wäre gern in Syrien geblieben | |
> Sehnsucht schmeckt wie die Frucht der Koloquinte, sie wird mit | |
> zunehmender Reife bitterer – ein Gefühl, das ich mit geflüchteten | |
> Freunden teile. | |
Bild: Noch immer springe ich vor Freude in die Luft, wenn ich Veilchen blühen … | |
„Was ist Heimat?“, werden deutsche Journalisten und Freunde nicht müde zu | |
fragen, wenn ich über Damaskus rede. | |
In meinem Kopf gibt es da kein klares Bild. Mal ist Heimat die Gesamtheit | |
unserer Erfahrungen, Erfolgserlebnisse, Enttäuschungen und Niederlagen. Mal | |
ist es die Familie, die kleinen Dinge des Alltags, die Freunde, die wir uns | |
bewusst suchen, die sich dahinschlängelnden Gassen, der Platz, wo wir auf | |
die erste Liebe gewartet haben. | |
Auch das ist Heimat: Der Kloß im Hals und die feuchten Augen, wenn die | |
Nationalhymne ertönt. Das Verantwortungsgefühl gegenüber einem | |
selbstdefinierten geografischen Gebilde und der penetrante Drang, dieses zu | |
verteidigen und in einem besseren Licht dastehen zu lassen, auch wenn dort | |
Krieg herrscht. | |
Ja, ich wäre gern in Syrien geblieben! | |
Damaskus ist nicht mein Ursprungsort, geboren bin ich in Latakia. Aber in | |
Damaskus konnte ich von Zweifeln unberührt zu meinem Spiegelbild sagen: | |
Hier bin ich richtig. Ich habe Damaskus verlassen, weil ich musste. Der | |
Spiegel ist zersplittert, mit ihm meine Seele. | |
## Details aus Damaskus | |
Seit ich in Berlin angekommen bin, bemerke ich an mir eine Faszination für | |
die kleinen Merkwürdigkeiten dieser Stadt. Jedes Mal, wenn ich ein Detail | |
entdecke, das mich an Damaskus erinnert, frohlocke ich. Anfangs hielt ich | |
das für eine Form von Sehnsucht, deren Heftigkeit mit der Zeit nachlassen | |
würde. Was für ein naiver Gedanke! | |
Tage und Monate vergingen, mittlerweile schon ein ganzes Jahr. Und jetzt | |
sitze ich in einem Straßencafé, auf das meine Wahl allein deshalb gefallen | |
ist, weil es mich an die Cafés in Syrien erinnert hat. Noch immer springe | |
ich vor Freude in die Luft, wenn ich im Park Veilchen blühen sehe, und es | |
bereitet mir Kummer, wenn man den Jasmin in kleine Blumentöpfe zwängt, | |
statt ihn über den Hauseingängen und Fenstern thronen zu lassen, wie das in | |
Damaskus üblich ist. | |
Sehnsucht schmeckt wie die Frucht der Koloquinte, sie wird mit zunehmender | |
Reife bitterer. | |
Meine syrischen Freunde, die über diverse Länder verstreut leben, | |
bombardieren mich mit Neuigkeiten voll kindlichem Staunen: „Heute haben wir | |
einen Laden entdeckt, der uns an die Läden bei uns erinnert hat!“, | |
respektive „ein Restaurant mit syrischen Gerichten“ oder „eine Kneipe im | |
selben Stil wie die bei uns“. Oder eine Straße, die ihnen so vertraut | |
schien, als wären sie dort schon mal entlanggegangen. Oder… | |
## Kollektives Gedächtnis | |
Fern der Heimat setzen wir die Eigenheiten fremder Städte unweigerlich in | |
Relation zu denen unserer Heimatstadt, wie sie uns im Gedächtnis geblieben | |
sind. Hier, in der Ferne definiert sich Heimat nicht nur aus der eigenen | |
Erinnerung heraus, sondern aus dem kollektiven Gedächtnis von uns Syrern. | |
Ich frage mich: Wie ist das bei denen, die als Kinder oder Jugendliche | |
hierhergekommen sind? Deren Erinnerung wird von den Merkwürdigkeiten des | |
Gastlandes geprägt sein. Sie werden ihre Erfahrungen machen, sich ihr | |
eigenes Leben aufbauen und dieses Land wird schließlich ihre Heimat sein. | |
Die Erinnerungen ihrer Familie bleiben dann ihre einzige Verbindung zu | |
Syrien. Und sie werden meinen Erinnerungen ähneln. | |
Übersetzung: Rafael Sanchez | |
7 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Kefah Ali Deeb | |
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