# taz.de -- Leben und Leiden eines Stars: „Verzeiht mir“ | |
> Die Sängerin Dalida lebte auf der Bühne. Sie hat 150 Millionen Alben | |
> verkauft. Depression und Todessehnsucht waren auch ihre Begleiter. | |
Bild: Die ägyptische Sängerin Dalida 1982. Sie war 54 Jahre alt, als sie im M… | |
PARIS taz | Charles de Gaulle steht an erster Stelle, dahinter Dalida an | |
zweiter. So ist das Ranking seit Jahren – in Umfragen, die nach der | |
einflussreichsten Persönlichkeit in Frankreich suchen. Über 1.000 Lieder in | |
15 Sprachen hat die Sängerin aufgenommen, über 150 Millionen Alben | |
verkauft, als weltweit erste Künstlerin eine Diamantene Schallplatte | |
erhalten. Und sie ist mit den höchsten Orden der Republik dekoriert. | |
Am 3. Mai nun ist es 30 Jahre her, dass Dalida, diese „schwarze Orchidee“, | |
starb, sich das Leben nahm. „Das Leben ist mir unerträglich geworden, | |
verzeiht mir“, schrieb die androgyne Frau mit dem leichten Silberblick, der | |
blonden Löwenmähne, dem tiefen Timbre und dem rollenden R zuvor auf einen | |
Zettel. | |
Jetzt, dreißig Jahre später, an einem grauen, verregneten Sonntagnachmittag | |
im März, wirkt Paris wie eine Leinwand für den neuen Film über die Diva, | |
eine Filmbiografie über sie, die erste. Auch sonst laufen überall in Paris | |
die Vorbereitungen für die großen Erinnerungsveranstaltungen im Mai: | |
Ausstellungen, Konzerte, Buchvorstellungen, Matinees. | |
Und an der Place Dalida wird gerade das Messingschild unter der Büste | |
Dalidas gereinigt. Es gibt neben der in Ägypten geborenen Sängerin nur zwei | |
weitere Frauen in der französischen Hauptstadt, von denen Statuen in der | |
Öffentlichkeit stehen: die Schauspielerin Sarah Bernhardt und Jeanne d’Arc, | |
die Jungfrau von Orléans. | |
## Touristen berühren die Brüste der Büste | |
Dalidas Bronze steht unweit von ihrem Wohnhaus auf dem Montmartre, dem über | |
den Dächern der Stadt gelegenen legendären Künstlerviertel, von wo aus | |
einem Paris zu Füßen liegt. „Wir sind wegen ihr nach Paris gekommen. Sie | |
ist unser größter Star“, sagt ein Tourist aus Kairo und greift an die | |
Brüste der Büste, vor der er mit Freunden steht und Selfies macht. „Fass | |
die Frau nicht an. Sie ist auch unser Star“, ruft ein libanesischer | |
Tourist, lachend schlägt er dem Ägypter auf die Hände. | |
Täglich kommen Touristen hierher, viele aus Ägypten und dem Libanon, wo | |
Dalida 1977 eine Konzerttournee mit dem auf Arabisch gesungenen Hit „Salma | |
Ya Salama“ feierte. In Deutschland war Dalida zu Lebzeiten ebenfalls auf | |
allen Kanälen. Heute kennt man sie hier am ehesten noch aus ihrem Duett mit | |
Alain Delon, „Paroles, paroles“. | |
Auf dem Montmartre beginnt es erneut zu regnen, und die arabischen | |
Touristen fangen spontan an zu singen: „Il y a ceux qui veulent mourir un | |
jour de pluie. Et d’autres en plein soleil. Moi qui ai tout choisi dans ma | |
vie, je veux choisir ma mort aussi. Je veux mourir sur scène“. – Es gibt | |
die, die an einem Regentag sterben wollen. Und andere in der prallen Sonne. | |
Ich, die ich alles entschieden habe in meinem Leben, ich werde auch meinen | |
Tod aussuchen. Ich will auf der Bühne sterben. | |
## Das Lied ist eine Metapher für ihr Leben | |
Diese Hymne, „Mourir sur scène“, ist einer von Dalidas größten Erfolgen … | |
wurde posthum zur musikalischen Metapher ihres Lebens. Sie stammt aus dem | |
Jahr 1983 – dem Jahr, in dem Dalidas langjähriger Geliebter Richard | |
Chanfray Selbstmord beging. Er war nicht der Erste. Er war der dritte | |
Geliebte, der sich tötete. | |
Dalidas Biografie hätte sich auch ein Blockbusterregisseur ausdenken | |
können. Dalida, als Yolanda Gigliotti 1933 in Kairo geboren, Tochter | |
italienischer Einwanderer, wächst ohne ihren Vater auf, der, Erster Geiger | |
an der Kairoer Oper, nach dem Zweiten Weltkrieg als Kollaborateur der | |
italienischen Faschisten interniert wird. | |
Die seit einer in jungen Jahren erlittenen Augenentzündung leicht | |
schielende Schönheit wird 1954 Miss Ägypten. Im selben Jahr fliegt sie | |
allein nach Paris. Sie will die Welt erobern, Schauspielerin werden. Doch | |
mit ihrem starken Akzent kommt sie nicht weit. | |
Als sie die Spanierin Gloria Lasso im Radio Französisch mit Akzent singen | |
hört, wittert sie ihre Chance. Sie beginnt zu singen, gewinnt eine | |
Talentshow und steht 1956 zum ersten Mal auf der Bühne des Olympia, der | |
ältesten Music Hall von Paris, wo schon Josephine Baker und Edith Piaf groß | |
wurden. | |
Dalidas Lied „Bambino“ ist ein Jahr lang Nummer 1 in den französischen | |
Charts, sie wird zur „Königin der Jukebox“, ihr Lidstrich und ihre immer | |
eleganteren und opulenteren Garderoben machen sie zum Modevorbild. Sie hat | |
unzählige Affären, heiratet 1961 ihren Entdecker, den Produzenten Lucien | |
Morisse, verlässt ihn einen Monat später für einen polnischen Künstler und | |
trifft den italienischen Sänger Luigi Tenco, was ihr Leben in Richtung | |
Tragödie verändern wird. Sie verliebt sich in diesen Bob Dylan Italiens und | |
tritt mit ihm 1967 beim wichtigsten europäischen Musikfestival in San Remo | |
auf. | |
## Ihr Freund erschießt sich | |
Doch Tencos Lied, das ausgerechnet „Ciao amore, ciao“ heißt, kommt nicht | |
ins Finale. Tenco erschießt sich im Hotel und hinterlässt eine Nachricht: | |
„Ich tue dies nicht, weil ich des Lebens überdrüssig bin, sondern als Akt | |
des Protests gegen das Publikum.“ | |
Dalida fällt in tiefe Depression, unternimmt einen Selbstmordversuch, | |
vergräbt sich in ihrem Haus und liest Sigmund Freuds „Unbehagen in der | |
Kultur“, und Jean-Bertrand Pontalis’ „Nach Freud“. „In dieser Zeit be… | |
die Phase der zweiten Dalida“, sagt ihr jüngerer Bruder Orlando, der zu | |
dem Zeitpunkt ihr Manager und Produzent ist und bis heute ihr Erbe | |
verwaltet. | |
Die erste Dalida hatte schwarze Haare, ihre Lieder waren hell, fröhlich, | |
unbeschwert. Die zweite ist blond, ihre Lieder sind dunkel, leidend und | |
fatalistisch. Diese Lieder gehören zu ihren schönsten: „Pour ne pas vivre | |
seul“, „Je suis malade“, „C’est fini la comédie“, „Ils ont chang… | |
chanson“, Lieder von großer Düsterheit. Als Dalida wieder auf die Beine | |
kommt und nach vier Jahren ihr erstes Album aufnimmt, erschießt sich 1970 | |
ihr Exmann Morisse am Küchentisch. | |
In der ersten Hälfte der 70er Jahre tritt Dalida meist in weißem Kleid, mit | |
strähnigem Haar und schmerzverzerrtem Gesicht auf. Sie ist keine Helene | |
Fischer, sondern eine Helene Waigel oder eine Maria Callas des Chansons: | |
Dalida singt nicht, sie spielt. Ihre Gesten und Mimiken sind so intensiv | |
wie die einer Stummfilmdarstellerin. Wie diese liefert sie sich den Texten | |
auf der Bühne so sehr aus, dass sie am Ende minutenlang in sich | |
zusammenfällt oder den Kopf im Nacken liegen lässt, wie ein lebloser Körper | |
nach einem Todeskampf. | |
## Modern in unmoderner Zeit | |
An Dalidas mit Dutzenden frischen Blumensträußen geschmücktem Grab auf dem | |
Friedhof Montmartre steht Lisa Azuelos, die Regisseurin des Biopics, das | |
gerade überall in Frankreich zu sehen ist. „Ich wollte einen Film über die | |
Einsamkeit machen, über die Suche nach Liebe und den Tod“, sagt sie. | |
Azuelos ist außer für ihre Filmen für ihre Kampagnen gegen | |
Frauenfeindlichkeit bekannt. „Dalida hatte das Pech, eine moderne Frau in | |
einer Zeit zu sein, die das nicht war.“ | |
Azuelos spielt darauf an, dass Dalida mit Anfang 30 einen | |
Schwangerschaftsabbruch vornehmen ließ, nach dem sie unfruchtbar wurde. | |
Laut Dalidas Biografin Catherine Rihoit litt Dalida sehr darunter, keine | |
Kinder zu haben. Was in der Biografie aber nicht steht: Dalida war | |
schwanger. Von einem 11 Jahre jüngeren Mann, um den es in ihrem Hit „Il | |
venait d’avoir 18 ans“ geht. Ob sie das Kind einfach nur nicht haben wollte | |
oder kein Kind, das damit konfrontiert würde, nach damaligem Verständnis | |
aus einer Skandalbeziehung hervorgegangen zu sein, lässt sich nicht mehr | |
klären. | |
Dalida, das erfährt man auch, wenn man sich durch die unzähligen | |
TV-Interviews gräbt, hatte paradoxerweise die Bühne als ihren Rückzugsort | |
vor der angriffslustigen Öffentlichkeit gewählt. Auf der Bühne aber gibt es | |
nur ein Leben „als ob“. Als ob die Realität vor dem Saal nicht existiert. | |
So sagt sie beispielsweise einem Reporter: „Ich weiß jetzt, warum ich | |
singe: um eine Frau zu sein. Es ist der einzige Moment, in dem ich Frieden | |
finde.“ | |
In einer TV-Sendung von 1985 – da ist sie in ihrer dritten Phase, der | |
„Queen of Disco“ – fragt eine Studentin sie, ob sie wirklich der Meinung | |
sei, ihr Leben ohne Kind und Ehemann sei erfolgreich. Dalidas Gesicht | |
gefriert kurz, dann antwortet sie, was alle hören wollen: „Ja, ich habe | |
versagt.“ Dalida scheute sich, ihr Publikum zu konfrontieren, und fügte | |
sich öffentlich in die Rolle der Femme fatale. „Je suis toutes les femmes“, | |
singt Dalida 1979, ein Lied, das sich heute so wie fast alle ihre Lieder | |
als eindeutige Botschaft lesen lässt. Als Botschaft einer unerbittlichen | |
Universalistin, für die das Leben außerhalb der Bühne zu eng war. „Die | |
Chansons sind meine Kinder, ich bin mit der Bühne verheiratet, und wenn ich | |
auftrete, ist das wie Geschlechtsverkehr“, sagt sie in einem anderen | |
Interview. | |
## Da war Todesahnung | |
Zwischen Place Dalida und Dalidas Wohnhaus liegt das alte Kino „Studio 28“. | |
Seit zwei Monaten läuft hier Azuelos Film. Es ist | |
Sonntagnachmittagsvorstellung. Etliche Frauen unterschiedlichen Alters sind | |
allein gekommen. Zwei Freundinnen, beide Mitte 30, Hipster-Style, die | |
während des Films immer wieder den Kopf einziehen, um ihre Tränen zu | |
verstecken, erzählen nach der Vorstellung, wie sie den Film fanden: „Durch | |
den Film hab ich die Lieder erst richtig verstanden“, sagt eine. „Die lebte | |
in einer anderen Welt als wir. Aber sie hat die gleichen Kämpfe geführt. | |
Für die Freiheit der Frau.“ | |
Um die Ecke, in der kleinen rue d’Orchamp, steht ein französisches Ehepaar | |
vor Dalidas Wohnhaus. „Als junge Frau hab ich immer so sein wollen wie | |
sie“, sagt die Dame und greift sich in ihre ondulierten grauen Haare. „So | |
frei, so selbstbewusst, so lebenshungrig.“ | |
1986 spielt Dalida ihre erste Hauptrolle in dem Film „Le sixième jour“ des | |
ägyptischen Regisseurs Youssef Chahine. Ohne Lidstrich, ohne Lippenstift, | |
die Haare unter einem schwarzen Schleier, erzählt sie in einem Interview am | |
Set, dass sie in dieser Verkleidung ihre Identität verloren habe. „Ich weiß | |
nicht mehr, wer Dalida ist.“ Ein paar Monate später ist Dalida tot. | |
2 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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