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# taz.de -- Musikfestival „Sakifo“ auf La Réunion: Beats aus Zuckerrohren
> Die Musik von La Réunion ist eng mit Kolonialismus und Sklaverei
> verbunden. Lange wurde sie nur im Geheimen gespielt. Ein Festival würdigt
> sie.
Bild: Die ghanaische Künstlerin Jojo Abot bei ihrem Festival-Auftritt
Zwei Aufziehautos sausen zwischen Füßen umher, wenige Meter entfernt
branden Wellen gegen die Hafenanlage der réunionischen Stadt Saint-Pierre.
Dazu lässt die Band Ousanasouva entspannte Off-Beats über die Zuschauer
wehen. Es ist Sonntagmorgen, eine Uhrzeit, zu der sich in Mitteleuropa
niemand aus dem Bett bewegt: Auf La Réunion sind im Rahmen von „Sakifo“,
einem dreitägigen Musikfestival kurz vor 10 Uhr an die 3.000 BesucherInnen
auf den Beinen.
Am vergangenen Wochenende hat das Festival zum 14. Mal stattgefunden. Das
Konzert ist gratis, dazu wird ein Reisgericht für 5 Euro von einer
Wohltätigkeitsorganisation angeboten. Ousanasouva sind Lokalmatadore und
haben am letzten Festivaltag viele Menschen in den Hafen des Viertels
Terre-Sainte gelockt: darunter auch Familien aus der Gegend. Das Festival
selbst hat seine Zelte am Strand von Saint-Pierre aufgeschlagen, der Stadt,
die als alternatives Zentrum des französischen Überseedépartements im
Indischen Ozean gilt.
„Das, was es braucht“, so heißt der Name des Festivals übersetzt. Gebrauc…
werde „Sakifo“ von allen, sagt Jérôme Galabert, der sich das Festival
ausgedacht hat. „Yes, you can“-Spirit habe ihn angetrieben, er wollte
zeigen, dass La Réunion ein großes Festival stemmen kann. Es habe auch
einen wirtschaftlicher Faktor, Galabert beschäftigt nur lokale Firmen.
Obwohl Réunion weit weg von Kontinentalfrankreich ist, merkt man dann doch
die administrative Ordnung der mère patrie: Der nach den Terroranschlägen
in Frankreich verhängte Ausnahmezustand gilt auch hier, die
Sicherheitsauflagen waren immens. Wie auf den Straßen der französischen
Hauptstadt patrouillieren Polizisten mit Maschinengewehren auf dem
Festivalgelände.
## Fußstampfen als Teil der Perkussion
Die Band Kiltir eröffnet den Indian Ocean Music Market (IOMMA) – eine kurz
zuvor stattfindende Veranstaltung auf La Réunion, die regionale Musik
stärkt. Die fünf Musiker sind bei ihrem Konzert jede Sekunde in Bewegung.
Das Stampfen der Füße ist Teil der Perkussion, die mit Wechselgesängen das
Fundament der traditionellen réunionischen Musikrichtung Maloya bildet.
„Maloya ist ein Schrei“, erklärt Jeannick Ahrimann von Kiltir: „Maloya k…
man nur live erleben. Im Kern der Musik geht es darum, einen Moment zu
teilen. Maloya entstand aus dem Bedürfnis sich auszudrücken.“
La Réunion liegt circa 800 Kilometer östlich von Madagaskar. Es gibt keine
indigene Bevölkerung, bis zur französischen Besiedelung im 17. Jahrhundert
war die Insel unbewohnt. Die Kolonialherren verschleppten Sklaven vor allem
aus Mosambik, dem Kongo und Madagaskar. Als die Sklaverei 1848 aufgehoben
wurde, kamen sogenannte engagés, billige Arbeitskräfte vom indischen
Subkontinent. Heute leben im Schatten eines aktiven Vulkans 800.000
Menschen. Anders als die Nachbarinsel Mauritius, die 1968 unabhängig vom
britischen Königreich wurde, gehört La Réunion nach wie vor zu Frankreich –
und ist Teil der Europäischen Union.
„In Vielfalt vereint“, der selten gehörte Leitspruch der EU, findet hier
anders als in Kontinentaleuropa seine Erfüllung. Von métissage,
Vermischung, sprechen viele KünstlerInnen, wenn sie über die Identität der
Insel reden. Die meisten verstehen sich nicht als Nachfahren von
Ausgebeuteten oder Ausbeutern, sondern als RéunionerInnen – eine Identität,
die sich auch durch die vielfältige Musik festschreibt.
Die réunionische Musikrichtung Maloya entstand ursprünglich auf den
Plantagen: „Sklaven haben ihre Musik mitgebracht“, sagt Jeannick Ahrimann
von Kiltir. „Ein aus Ostafrika stammender Sklave hat einen bestimmten
Rhythmus gespielt, ein Madagasse seinen eigenen Rhythmus einfach in diesen
integriert.“ Weil ihre Füße in Ketten gelegt waren, entstand ein
gemeinsames Metrum – und ein Mittel der Kommunikation.
## „Alle Identitäten der Insel stecken auch im Maloya“
Längst ist Maloya kein Ausdrucksmittel der schwarzen Bevölkerung von La
Réunion mehr. So divers die Gesellschaft wirkt, so unterschiedlich sind die
Bands. Hier leben nicht nur Nachfahren von Sklaven und Engagés, sondern
auch von EuropäerInnen, sagt Ahrimann: „Alle Identitäten stecken auch im
Maloya.“ Bis in die fünfziger Jahre wurde Maloya im Geheimen gespielt. Erst
in den Achtzigern wurde er selbstbewusst als eigene Kunstform propagiert.
Im Zuge dessen entwickelte sich der Stil weiter, wurde von Musikern wie
Firmin Viry, Danyèl Waro und Alain Péters in die Welt getragen – und
identitätsstiftend für réunionische Kultur. Heute wird der Maloya-Sound,
wie ihn Kiltir auf ihrem aktuellen Album „Traditionnel mêm“ spielen, von
vielen Bands mit anderen Genres gemischt. Wechselgesänge und
traditionelle Instrumente bilden auch die Basis des aktuellen Maloya.
Immer wieder zu hören ist der Kayamb, ein Idiofon aus getrocknetem Schilf-
und Zuckerrohr, das mit Körnern gefüllt ist. Er erzeugt ein rauschendes
Geräusch, kann aber auch rhythmisch eingesetzt werden. Und der Roulèr, eine
Basstrommel, deren Fell ursprünglich auf leere Fässer gespannt wurde, womit
beide Instrumente die Geschichte der Insel präsent halten.
Viele Bands singen auf Französisch und auf Kreol, der Alltagssprache auf
„La Rényon“. Wie andere Kreolsprachen etwa auf Mauritius oder Haiti basiert
es auf dem Kontakt mehrerer Sprachen. „Heute ist Maloya befreit, er hat das
Recht auf die Bühne zu steigen. Das war nicht immer so.“ Trotz der langen
Tradition sei der Maloya, wie es ihn heute gibt, junge Musik. „On est
mélangé“, die Musiker seien gemischt, sagt Carlo de Sacco, Sänger von Grèn
Sémé, über seine Band. Ihren Biografien folgend kommen in ihrer Musik
verschiedene Einflüsse zusammen.
## Schmutzige Beats
Ähnlich melangiert ist Séga, ein Stil, der sowohl auf Mauritius als auch
auf La Réunion gespielt wird und melodiöser als Maloya anmutet. Davon
abgeleitet wird „Seggae“, eine Verschmelzung mit Reggae, deren stolpernde
Off-Beats beim Konzert mauritische Band Mauravann mitreißend klingen.
Sängerin Linzy Bacbotte gehört zu den Stars der Nachbarinsel.
Bacbotte und ihre Künstlerkolleginnen beeindrucken beim „Sakifo“-Festival
am meisten: Jojo Abot aus Ghana wird zur weltlichen Predigerin, hypnotische
Beats werden abgefahren und mit wenigen Klängen einer elektronischen
Gitarre ergänzt. Sie wickeln sich um Texte in Abots Muttersprache Ewe. Dazu
verweist die Künstlerin mit einer visuellen Show auf ihre Wurzeln zwischen
Accra und New York. „To Li“, „Bullshit“, lässt sie das Publikum singen.
An gleicher Stelle war auch Kaloune zu erleben, eine junge réunionische
Künstlerin, die springt, tanzt, lacht und auf schmutzige Beats über
weibliche Sexualität singt. Einer Generation vor diesen beiden
Künstlerinnen gehört Nathalie Natiembé an. Sie ist neben Christine Salem
eine der großen Musikerinnen der Insel.
Die Wurzel ihrer Musik bildet der Maloya, doch mäandern ihre Chansons auch
zwischen Punk und Soul. Am Sonntagabend gibt ihr ein forscher E-Bass ein
dubbiges Bett, das im genau richtigen Moment um etwas Echo auf der rauen
Stimme der Sängerin ergänzt wird. Aus dem Sound einer Plastiktüte, die die
Musikerin über einem Mikrofon reibt, macht sie einen weiteren Klanggeber
ihrer druckvollen Performance, bei der sie sich barfuß über die Bühne
bewegt.
## Kontinentaleuropa sollte endlich seine Ohren öffnen
Für das akustische Kontrastprogramm dieser punkigen Erscheinung sorgen der
in Köln geborene Sänger Patrice und Headliner Damien Marley. Der
südafrikanische Musiker Bongeziwe Mabandla fügt dem Festival fragile Songs
aus Gitarre, Schlagzeug und elektronischen Effekten mit Texten auf seiner
Muttersprache Xhosa hinzu und holt damit seinen Anspruch ein, die Vielfalt
der südafrikanischen Musikszene zu zeigen.
Der Ethnologe Carsten Wergin bezeichnet die réunionische Musik als eine
Musik im „Zwischen“. La Réunion erzeugt eine Musik, die die Identität ein…
Gesellschaft abbildet, wie sie zwischen Vulkan und Strand, zwischen Afrika
und Europa, zwischen Abhängigkeit und Individualismus fluoresziert –
eindrucksvolle Klänge, für die nicht nur Kontinentaleuropa seine Ohren
endlich öffnen muss.
9 Jun 2017
## AUTOREN
Diviam Hoffmann
## TAGS
Musikfestival
Postkolonialismus
Reggae
Soul
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Schwerpunkt Rassismus
Deutscher Kolonialismus
Kongo
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Chanson
Gambia
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