| # taz.de -- Kolumne Afrobeat: Kurlands Erbe | |
| > Einst wählten Europäer in Gambia Sklaven als Handelsware aus. Heute ist | |
| > Gambia ein Lehrstück der Fluchtursachenbekämpfung. | |
| Bild: Guter Grund, Gambia zu verlassen: Ex-Diktator Yahya Jammeh (mitte, mit we… | |
| Kein Land illustriert die Problematik der „Fluchtursachenbekämpfung“ so gut | |
| wie Gambia, Afrikas kleinster Flächenstaat mit der größten Auswanderung. | |
| Rund ein Viertel der gambischen Bevölkerung lebt inzwischen im Ausland. | |
| Gambia stellt weniger als 0,2 Prozent der Bevölkerung Afrikas, aber 5 | |
| Prozent der afrikanischen Bootsflüchtlinge im Mittelmeer. Kaum ein Gambier | |
| wird in Europa als Flüchtling anerkannt, und so sind sie in Deutschland vor | |
| allem als Drogendealer verrufen. Doch es gibt gute Gründe, Gambia zu | |
| verlassen: Diktator Yahya Jammeh, der seit 1994 bis zu diesem Wochenende | |
| regierte, galt als einer der repressivsten Herrscher Westafrikas. Nicht | |
| zuletzt ist Gambia ein historisches Emigrationsland. | |
| Einer der Hunderttausenden Gambier, die in der Ära Jammeh wegzogen, war der | |
| junge Adama Barrow, jetzt der neue Präsident nach Jammehs Wahlniederlage. | |
| Während Jammeh wochenlang die Amtsübergabe verweigerte, flohen erneut knapp | |
| 50.000 Menschen aus seinem Land, bei einer Gesamtbevölkerung von 1,8 | |
| Millionen. Gambia wurde zu einem klassischen regionalen Krisenherd, was | |
| Westafrikas regionale Militärintervention mit UN-Segen notwendig machte. | |
| Sie erreichte Jammehs Rückzug, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern. | |
| Es war eine Militäroperation wie aus dem Lehrbuch und | |
| Fluchtursachenbekämpfung im besten Sinne: ein Fluchtgrund, nämlich ein | |
| unerträgliches Regime, wird identifiziert und beseitigt. | |
| Aus Europa ist dazu wenig zu hören gewesen. Der deutsche | |
| Entwicklungsminister Gerd Müller – dessen CSU noch vor zwei Jahren | |
| forderte, Gambia zum sicheren Herkunftsland zu erklären, um die | |
| Drogendealer abschieben zu können – präsentierte stattdessen seinen | |
| „Marshallplan für Afrika“. So sinnvoll die darin enthaltenen Vorschläge | |
| sein mögen: Sie blenden die Lektion aus Gambia aus. Den ursprünglichen | |
| Marshallplan für Europa gab es als Wiederaufbauprogramm nach der | |
| Zerschlagung der Hitler-Diktatur. Die Zerschlagung der Diktaturen will sich | |
| Europa in Afrika sparen: Das sollen die Afrikaner selbst machen, und wenn | |
| es nicht klappt, nimmt man die Diktatoren als Partner in der | |
| Flüchtlingsabwehr. | |
| ## Geschäftstüchtiger Warenumschlagplatz | |
| Demokratie und Wirtschaftsaufbau setzt der Emigration kein Ende, im | |
| Gegenteil. Gambia war afrikanischer Spitzenreiter der Auswanderung, lange | |
| bevor es in die Krise stürzte. 1990 ermittelte die Weltbank, dass drei | |
| Viertel aller Gambier mit Hochschulabschluss im Ausland leben und arbeiten, | |
| vornehmlich in Großbritannien und den USA. Damals konnten sie visafrei | |
| reisen. Heute geht das nicht mehr, der Migrationsstrom hat sich verringert. | |
| Aber noch immer machen Rücküberweisungen gambischer Emigranten 10 Prozent | |
| des Bruttosozialprodukts aus. | |
| Ohne globale Vernetzung würde es Gambia als Staat gar nicht geben. Seine | |
| Geografie ergibt keinen Sinn: das Land schlängelt sich von der Mündung des | |
| Gambia-Flusses über 300 Kilometer an beiden Flussufern hinauf in die | |
| Savanne, aber an jedem Ufer ist es durchschnittlich nur 15 Kilometer breit; | |
| es ist komplett vom Staatsgebiet des größeren Senegal umgeben. Gambia ist | |
| ein Hafen mit ein bisschen Umland. | |
| Das nützt allen: Westafrikanische Importeure können über Gambia, eine | |
| anglophone Insel in einer zumeist frankophonen Region, Waren aus Übersee | |
| zollgünstig beziehen und gewinnbringend weiterverkaufen, vor allem nach | |
| Senegal. Gambia ist ein geschäftstüchtiger Warenumschlagplatz, auf den | |
| Westafrika nicht verzichten kann. Es ist nicht nur Auswanderungsland, | |
| sondern selbst Zielland für Glücksritter aus der ganzen Region. | |
| Früher war Gambia Umschlagplatz nicht nur für Waren, sondern auch für | |
| Menschen. Der Gambia-Fluss ist als einer der wenigen Afrikas tief ins | |
| Binnenland hinein schiffbar und wurde daher schon in der frühen Neuzeit von | |
| europäischen Seefahrern genutzt, um innerafrikanische Königreiche | |
| anzusteuern – vorzugsweise zwecks Beschaffung von Sklaven für Amerika, | |
| zumal Gambia auf dem gleichen Breitengrad liegt wie die Karibik und die | |
| Küste Brasiliens nur gut 3.000 Kilometer entfernt ist. Der | |
| US-Bestsellerautor Alex Haley („Roots“) hat auf seiner Ahnensuche Gambias | |
| Rolle im Sklavenhandel weltweit bekannt gemacht. | |
| ## Schatten der Sklaverei | |
| Es war also kein Zufall, dass am Gambia-Fluss die allererste europäische | |
| Kolonie in Afrika überhaupt entstand: 1651, gegründet vom deutschen Herzog | |
| Jakob von Kurland, der ein Schiff gen Afrika schickte. Er eignete sich eine | |
| von Portugal als Zwischenstation nach Amerika genutzte Insel in der | |
| Gambia-Flussmündung an, die fortan Jakobsinsel hieß, kaufte die | |
| Karibikinsel Tobago dazu und hatte plötzlich ein Seehandelsreich. Es währte | |
| nur ein paar Jahre; 1661 wurde die Jakobsinsel als James Island englischer | |
| Besitz. | |
| Sie heißt seit 2011 Kunta Kinte Island, in Hommage an „Roots“, und ist | |
| Pilgerziel für schwarze US-Touristen. Die britische Kolonie Gambia, die | |
| dort ihren Ursprung nahm, entstand Anfang des 19. Jahrhunderts. Sie diente | |
| nicht mehr dem Sklavenexport, sondern als Handelsdepot und als Basis zur | |
| Durchsetzung des Verbots des Sklavenhandels. Sie blieb danach als | |
| geografischer Anachronismus bestehen. | |
| Gambia ist ein lebendiges Zeugnis vergessener Kapitel des düsteren | |
| europäischen Wirkens in Afrika. Wer in Deutschland kennt noch Kurland an | |
| der Ostsee? Dort liegt heute Lettland. Wer weiß noch von den | |
| Afrika-Geschäften des 17. Jahrhunderts, die der mit dem Herzog von Kurland | |
| verschwägerte Herzog von Brandenburg übernahm? Nur in Ghana gibt es davon | |
| noch Spuren. | |
| Heute ertrinken die Nachfahren der Hinterbliebenen des gambischen | |
| Sklavenhandels zu Tausenden im Meer, während Europa über „gesteuerte | |
| Migration“ nachdenkt – also darüber, sich auszusuchen, welche Afrikaner man | |
| nimmt und welche nicht. Auch Sklaven wurden einst ausgewählt. Wer hat in | |
| Europa ein Bewusstsein für historische Reminiszenzen, die in Afrika | |
| durchaus lebendig sind? Gambia, dieses koloniale Überbleibsel, kann das | |
| Gedächtnis wach rütteln. Europa schaut weg, aber es entkommt seiner | |
| historischen Verantwortung nicht. | |
| 23 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Dominic Johnson | |
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