# taz.de -- Kultur und Lockdown: Die Neuerfindung des Kinos | |
> Viele Kulturstätten waren schon vor der Krise in der Krise. Für das | |
> Lichtspielhaus wird es nach dem Lockdown keine Rückkehr zur Normalität | |
> geben. | |
Wenn es wirklich mal so etwas geben sollte wie eine „[1][Rückkehr zur | |
Normalität]“, dann gibt es ein paar Orte, an die wir unbedingt gleich nach | |
Corona wieder kommen wollen. Der Club, der Biergarten, das Schwimmbad, das | |
Theater, das Café, die Galerie. Und das Kino. Unbedingt das Kino. Zu allen | |
diesen Orten werden wir eilen mit der bangen Frage: Gibt es das noch? Haben | |
die Betreiber durchgehalten? | |
Gibt es die neue Musik, die neuen Stücke, die neuen Gespräche, die neuen | |
Bilder, die neuen Filme, die nicht so tun, als wäre nichts passiert, | |
sondern Krisenbewusstsein und Neubeginn verbinden? Und gibt es überhaupt | |
„uns“ noch, ebendiese realen und imaginären kulturellen Gemeinschaften, die | |
dieses Gefühl erzeugten: Zusammen. Zusammen ins Theater, zusammen in die | |
Kneipe, zusammen ins Kino. | |
Die meisten dieser Sehnsuchtsorte, an denen wir nach Corona wieder | |
gesellschaftlich wahrhaftig vorhanden sein wollen, waren schon vorher in | |
der Krise, in Absatz-, Sinn- und Organisationskrisen, [2][manche waren | |
schon an die Krise als Dauerzustand gewöhnt. Das Kino beispielsweise]. Die | |
Pandemie und die Lockdowns haben es besonders schwer getroffen. Kinos sind | |
drei Institutionen in einem: | |
Ein wichtiges Glied in der Vermarktungskette von Filmen. Damit sind sie | |
sowohl technisch-ästhetisch als auch ökonomisch von Bedeutung. Ein großer | |
Film gehört ins Kino, basta. Kino ist auch öffentlicher Raum der | |
kulturellen und sozialen Begegnungen und eines Gemeinschaftsempfindens. Es | |
spielt daher eine im weiteren Sinne politische, urbanistische und | |
soziologische Rolle. Kino ist so viel mehr als nur der Film! | |
Es ist ein Wirtschaftsbetrieb mit Arbeitsplätzen, der sich auch belebend | |
auf die Gastronomie nebenan auswirkt. Es sprechen ökonomische und soziale | |
Argumente für es. Kinos sind systemrelevant. Und was ist liebenswerter als | |
Menschen, die für Film und Kino leben. | |
## So viel mehr als nur der Film | |
Was gegen Kinos spricht, ist schlicht das Ausbleiben des Publikums, die | |
Investitions- und Rendite-Fallen, die Entwicklung des wild gewordenen | |
Immobilienmarktes in den Städten, die Politik der oligopolen Produzenten | |
für den globalen Bildermarkt, denen das Kino als eigenständige Instanz ein | |
Dorn im Auge ist, und eine extreme Abhängigkeit von Event-Filmen, die ein | |
jeweils spezielles Publikum generieren. | |
Das Ausbleiben eines neuen Bond, eines neuen Superhelden, eines neuen | |
Pixar-Films wirkt sich hier ruinös aus. Seit den sechziger Jahren ist das | |
Kino in den USA und in Europa zu einer ständigen Neuerfindung gezwungen mit | |
Kino-Palästen, Schachtelkinos, technischen Aufrüstungen. | |
Jede Transformation zieht Veränderungen im Publikum nach sich, zwischen | |
Jung und Alt, Frauen und Männern, Mainstream und Diversity. Boom und Baisse | |
wechseln aber nicht nur in der Historie der Institution, sondern auch unter | |
den unterschiedlichen Kinematografien. Vielleicht bemerken wir im Lockdown | |
einmal etwas direkter, dass wir uns mitten in einer Transformation des | |
Kinos befinden. Sowohl in den Multiplexen als auch in den Programmkinos. | |
Der „Onlinekapitalismus“ hat kein Interesse an der Erhaltung der Kinos: Sie | |
stören nur bei der Herstellung vertikaler Oligopole und bei der Festigung | |
der Macht der verbliebenen fünf bis sechs großen Bildfabriken, die entweder | |
die Kinos zu ihren Verleihbedingungen zwingen oder selbst übernehmen; der | |
Immobilienmarkt hat kein Interesse an der Erhaltung der Kinos; das | |
Feuilleton hat kein Interesse an der Erhaltung der Kinos, höchstens als | |
Festivalorte für den Eventjournalismus; die „Partner“ vom | |
öffentlich-rechtlichen Fernsehen haben wenig Interesse an der Erhaltung der | |
Kinos. | |
## Bildschirm statt Leinwand | |
Im Abwehrkampf gegen die geballte Macht von Konservativen, Populisten und | |
beinhart neoliberalen Allesprivatisierern haben sie nicht mal mehr | |
Restkräfte für Filmkultur; die Kulturbürokratie macht Dienst nach | |
Vorschrift bei der Erhaltung der kommunalen Kinos und Filmmuseen. Und wir? | |
Die wir den Sehnsuchtsort Kino in der Pandemie immer wieder ganz nach vorn | |
gebracht haben in den üblichen Mangellisten? | |
Wir, die wir uns an das Filmsehen an unseren Bildschirmen gewöhnt haben und | |
eigentlich wissen, dass unsere Kino-Sehnsucht schon mehr Nostalgie als | |
[3][kulturelle Praxis] beinhaltet … Die Krise aber hat nicht nur den Weg | |
zum Publikum verändert, sondern auch die Produktion selbst. Viele | |
Produktionen, vor allem die großen Prestige-Produktionen, kommen ins | |
Stocken. Schon kommt die Hoffnung auf, dass die Krise die Chancen für | |
kleine, intime und aktuelle Produktionen erhöhe. | |
Zu den Nebeneffekten gehört auch, dass eine [4][Spielfilmproduktion in der | |
Pandemie erheblich mehr gefährdet] ist als ein Dokumentarfilm. Die | |
Produzenten müssen offenbar lernen, unter erschwerten Bedingungen zu | |
arbeiten, weniger Aufwand zu betreiben, kleinere Teams zu bilden. Das kann | |
sich für die Zukunft durchaus als heilsam erweisen, wirkt aber auch zurück | |
auf die Produktionsbedingungen. So ist es absehbar, dass der Unterschied | |
bei den Budgets noch gravierender wird. | |
Gigantische Produktionen für den Weltmarkt, die mit größtmöglicher | |
Delegation arbeiten und immer reduziertere lokale und nationale | |
Produktionen, bei denen die Reduktion zur neuen Norm wird. Das könnte | |
wiederum bedeuten, dass die Produktion insgesamt verlangsamt wird, was | |
einerseits eine neue „Philosophie“ des Films werden könnte – slow filming | |
–, andererseits aber auch eine Reduzierung der Produktion selbst, also | |
weniger Arbeit und weniger Möglichkeiten für die einzelnen | |
Filmemacher*innen. | |
Weder für das Filmemachen noch für die Kinos wird es ein Zurück zur | |
Normalität geben. Wenn man das Kino heute abschaffen würde, so hat es Wim | |
Wenders trostvoll gemeint, dann würde es morgen sofort wieder erfunden. | |
Diese Neuerfindung des Kinos ist nun auf der Agenda. Es muss als | |
architektonischer, als sozialer und als ästhetischer Raum neu erfunden | |
werden. | |
24 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Oeffnung-von-Kultur-und-Sport/!5753631 | |
[2] /Sinkende-Ticketverkaeufe/!5583499 | |
[3] /Filmfestival-Berlinale/!5751611 | |
[4] /Regisseur-ueber-Coronaverwerfungen/!5743397 | |
## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
## TAGS | |
taz.gazete | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Streaming | |
Lockdown | |
Kino | |
Filmindustrie | |
Kino | |
Tempelhof-Schöneberg | |
Filmfestival | |
Kino | |
Kinogeschichte | |
Schwerpunkt Berlinale | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Zukunft des Kinos nach der Pandemie: Kino als Aufwandsersparnis | |
Wenn die Kinos wieder öffnen, müssen sie sich stärker gegen | |
Streamingdienste behaupten. Was für ein Kino wünschen wir uns für die | |
Zukunft? | |
Kino in Friedenau: Fantasy im Cosima | |
Das alte Kino sollte geschlossen, sein Betreiber vor die Tür gesetzt | |
werden. Die SPD ist empört, doch dann wird klar: Die Geschichte ist ganz | |
anders. | |
Filmfestival Berlinale: Verwirrung vorprogrammiert | |
Die Leiter:innen der Berlinale stellten am Donnerstag den Wettbewerb | |
2021 vor – und erläuterten erneut ihre zweigeteilte Coronalösung. | |
Streaming und die Zukunft des Kinos: Alles durch die Pipeline schicken? | |
Während die Kinos geschlossen bleiben, gewinnen Streamingdienste an | |
Publikum. In der Akademie der Künste in Berlin wurde über die Folgen | |
diskutiert. | |
Berlins Arthouse-Kinos in Pandemiezeiten: Da läuft noch was! | |
Die kleinen Berliner Programmkinos kommen überraschend gut durch den | |
Lockdown. Das Publikum unterstützt sie mit Spenden. | |
Studie zu Berlinale-Leiter Alfred Bauer: Film als Kriegswaffe | |
Eine Studie zum ersten Berlinale-Leiter Alfred Bauer bestätigt dessen | |
wichtige Position in der NS-Zeit. Im Frühjahr sorgte das für Diskussionen. |