# taz.de -- Regisseur über Coronaverwerfungen: „Die Hypothek ist gigantisch�… | |
> Der Regisseur Lars Jessen hat im Sommer 2020 die Serie „Für immer Sommer | |
> 90“ inszeniert. Ein Gespräch über das Filmemachen in Zeiten von Corona. | |
Bild: Dreharbeiten trotz und mit Corona: Das Team von „Für immer Sommer 1990… | |
taz: Herr Jessen, mit „Für immer Sommer 90“ haben Sie ein | |
Improvisations-Roadmovie gedreht, das wie maßgeschneidert für die | |
Drehbedingungen im vergangenen Sommer wirkt. War dies Ihre künstlerische | |
Reaktion auf die Pandemie? | |
Lars Jessen: Das war unser Coronaprojekt. Wir haben ein größeres Projekt | |
vor Drehbeginn einstellen oder jedenfalls verschieben müssen. Das hat bei | |
uns natürlich zu einem massiven Einbruch geführt. Und dann haben wir | |
überlegt, was wir tun konnten. Frustriert zu Hause herumsitzen gehört ja | |
nicht zum kreativen Teil unseres Berufes. Und so haben wir uns am Telefon | |
zusammengehockt und überlegt, wie man auf diese Situation reagieren kann. | |
Die Grundprämisse war dann, dass wir mit einer Drehweise arbeiten mussten, | |
die einerseits schnell ist und bei der wir auch nicht mit vielen Menschen | |
auf einem Haufen hocken mussten. | |
Sie erzählen ja auch vom Leben während der [1][Pandemie], wenn etwa eine | |
Mutter ihren Sohn nicht umarmen will. Wie kam es dazu? | |
Wir wollten die Stimmung des Landes im letzten Sommer festhalten. Die | |
Arbeit an einem Drehbuch dauert in der Regel ja viel länger. Aber Jan Georg | |
Schütte, mit dem zusammen ich Regie geführt habe, lässt am Set immer viel | |
improvisieren. Und auch ich habe etwa bei „Fraktus“ mit diesem Stilmittel | |
gearbeitet. Damals hatten wir zwar ein festes Drehbuch, aber die Szenen | |
waren dann zu 95 Prozent improvisiert. Für dieses Projekt war das nun eine | |
ideale Gelegenheit, unseren Film im Hier und Jetzt spielen zu lassen. Wir | |
haben im Juli gedreht und in der Handlung war dann auch der Juni 2020. Und | |
es ging um die Themen, die uns alle in der Zeit beschäftigt haben: vom | |
[2][Tönnies-Fleischskandal] bis hin zum merkwürdigen Umgang mit den Masken, | |
an die wir damals ja noch nicht gewöhnt waren. Das hat alles beim Dreh | |
mitgeschwungen, und so haben sich die Darsteller*innen dann auch so | |
verhalten, wie sie es in echt getan hätten. | |
Andere Produktionen, die im vergangenen Jahr gedreht wurden, wirken dagegen | |
oft irreal. | |
Ja, man schaut ja inzwischen Filme an und denkt: O Gott, o Gott, so viele | |
Leute in einem Raum und die geben sich die Hand. | |
Aber bei Ihnen gibt es das ja auch. In den Rückblenden ins Jahr 1990 | |
umarmen sich junge Menschen und tanzen eng beieinander. Wie haben Sie das | |
gemacht? | |
Das war eine Kohorte von sechs jungen Leuten, die gut durchgetestet waren. | |
Wir waren da extrem korrekt und gingen alle gemeinsam vier Tage lang in | |
Quarantäne. Aber mir war diese Ebene im Film sehr wichtig. Wir brauchten | |
eine Echokammer der Leichtigkeit. | |
Was genau ist bei Dreharbeiten jetzt anders? | |
Die größte Einschränkung ist, dass alle Menschen, außer direkt beim Dreh, | |
vor der Kamera eine Maske aufhaben. Dadurch fehlt die nonverbale | |
Kommunikation. Und das ist ein sehr großer Unterschied, weil man nicht | |
sehen kann, ob es einer Person etwa schlecht geht oder ob sie gut drauf | |
ist. Alles muss jetzt verbal kommuniziert werden, und das führt zu | |
ungenauerem Arbeiten. Für mich ist das neben den körperlichen Problemen, | |
die man hat, wenn man von morgens bis abends ständig Maske trägt, der | |
größte Unterschied. | |
Reden wir da sowohl vom Filmteam als auch von den Schauspieler*innen? | |
Ja, aber für die ist es noch spezifischer, weil die ja auch in der Regel | |
mit Maske proben, und so können die gar nicht genau wissen, welche | |
Emotionen von den anderen rüberkommen. | |
Sind die Proben dann nicht nutzlos? | |
Nein, weil die Schauspieler*innen immerhin ein Gefühl für die | |
gesprochene Struktur des Textes bekommen. Und ich sehe das auch gar nicht | |
nur negativ. Denn manchmal bekommt es auch eine Frische, wenn sie erst | |
sehen wie das Gegenüber spielt, wenn die Kamera läuft. Da reinzuspringen | |
erfordert dann aber auch eine Art von Mut, Offenheit und Souveränität. | |
Unsere Erfahrungen mit Improvisation haben uns dabei sehr geholfen, weil | |
eine andere Form von Energie zurückkommt, wenn es gleich beim ersten Take | |
um alles geht. | |
Wie stellen Sie sicher, dass aus einem Drehort kein Hotspot wird? | |
Zweimal die Woche machen alle Mitarbeiter*innen einen PCR-Test und | |
täglich noch einen Antigen-Test. Der ganze Drehablauf verzögert sich | |
natürlich, wenn 45 Leute morgens vor der Arbeit erst mal testen müssen. Ich | |
selber bin inzwischen daran gewöhnt. Zuerst hat es noch in der Nase | |
wehgetan, aber inzwischen ist es für mich wie morgens eine Tasse Kaffee zu | |
trinken. Ich habe inzwischen schon 25 bis 30 Tests hinter mir. | |
Gibt es am Set Aufpasser? | |
Ja natürlich! Beim Dreh ist immer ein Hygienebeauftragter dabei. In unserem | |
Fall ist das ein ausgebildeter Rettungssanitäter mit der entsprechenden | |
Weiterbildung und der nötigen Autorität im Auftreten. Da müssen dann die | |
Hauptdarsteller*innen und die Regie mit gutem Beispiel vorangehen, und | |
wenn dann doch jemand ein wenig nachlässig ist, wird der Hygienebeauftragte | |
freundlich und bestimmt darauf hinweisen, dass etwa die Maske immer und | |
ordentlich getragen werden muss. | |
Es gab vor einiger Zeit Tonaufnahmen von Tom Cruise, der bei den | |
Dreharbeiten vom neuen „Mission Impossible“ wütend herumschrie, weil einige | |
im Filmteam die Distanzregeln nicht einhielten. Was denken Sie darüber? | |
Ich kann mich da total einfühlen, denn auch wir hatten einen wahnsinnigen | |
Druck, weil die ökonomischen Konsequenzen bei einem Drehabbruch auch bei | |
uns enorm gewesen wären. Den ganzen Tag kreist da das Damoklesschwert. Denn | |
es stehen Existenzen auf dem Spiel. Aber wir haben keinen Grund, uns zu | |
beklagen, denn für die Kolleg*innen, die live in Theatern oder bei | |
Konzerten arbeiten, gibt es zurzeit ja gar keine Möglichkeiten, ihren Beruf | |
auszuüben. | |
War es wegen der Lockerungen im Sommer ein Glücksfall, dass Sie überhaupt | |
drehen konnten? | |
Nein, wir haben im Herbst noch eine relativ große Produktion gemacht. Da | |
wurden Ende September die Dreharbeiten nachgeholt, die für das Frühjahr | |
geplant waren. Das war die ARD-Produktion „Das Begräbnis“. Da gab es ein | |
sehr großes Team und da waren dann auch ältere Leute dabei. Und das erhöhte | |
dann nochmal die Anspannung. | |
Aber macht das Filmemachen unter diesen Bedingungen noch Spaß? | |
Die Arbeit ist freudloser als sonst. Mit unserem Beruf ist ja auch eine | |
irrationale Freude am Filmemachen verbunden, und die ist jetzt einer | |
Dankbarkeit dafür gewichen, dass man überhaupt arbeiten und Geld verdienen | |
kann. | |
Warum werden auch in diesen Wochen in Deutschland noch Filme gedreht? | |
Es ist anders als beim Lockdown im Frühjahr, wo ja alles untersagt war. | |
Wenn es eine Drehgenehmigung gibt, kann gedreht werden. Aber die Mutationen | |
im Hintergrund lassen einen noch schlechter schlafen. Jetzt sind alle | |
extrem vorsichtig. | |
Gibt es Filmproduktionen, die vergangenes Jahr während der Dreharbeiten | |
abgebrochen werden mussten? | |
Nein, aber gegen die Wand gefahren sind alle Filmproduktionen, die im | |
Frühjahr ausgefallen sind. Da gab es immense ökonomische Schäden, auch weil | |
bis dahin ja noch keine Rettungsschirme gespannt worden waren. Diese | |
Hypothek ist gigantisch. Und die Filmbranche ist ja eh nicht so gebaut, | |
dass man viel Speck anfressen kann. Wir wissen nicht, wie es in diesem Jahr | |
weitergeht, aber jede Produktion ist froh, wenn sie den letzten Drehtag | |
hinter sich hat. | |
Die Pandemie ist das allumfassende Drama unserer Zeit. Glauben Sie, es ist | |
noch zu früh, um davon in großen Spielfilmen zu erzählen? | |
Ich glaube, dass es dafür Zeit und Abstand braucht. Aber Filme mit | |
Gegenwartsstoffen zu machen, die das Thema gar nicht berühren, geht auch | |
nicht. Ich glaube, dass man erst mal die kleinen Geschichten erzählt wird | |
und nicht die großen. Und das wird spannend werden, weil wir da an | |
archetypische Stoffe wie etwa die Isolation herankommen. Corona ist wie ein | |
Brennglas, in dem viele Probleme unserer Zeit gebündelt werden. Da kann man | |
dann auch kleinere Geschichten erzählen, die für etwas Größeres stehen. | |
30 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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