# taz.de -- Doku „76 Days“ über Corona in China: Empathie und Zärtlichkeit | |
> Der Dokumentarfilm „76 Days“ zeigt die Arbeit des überlasteten | |
> Krankenhauspersonals in Wuhan – und erzeugt eine unaufdringliche Nähe. | |
Bild: Pfleger haben in Wuhan ihre Namen auf den Schutzanzügen notiert, um erka… | |
„Zu Hause bleibt eine Familie glücklich“, steht auf dem knallroten Banner | |
an den Absperrungsbaken sinngemäß in chinesischen Lettern. Es ist Februar | |
2020. Wir sind in [1][Wuhan], kurz nach der offiziellen Anerkennung der | |
Epidemie durch den chinesischen Staat. Dort spielt dieser Film. | |
Doch die Menschen in ihm haben nicht mehr das (fragwürdige) Glück | |
gemeinsamen Quarantäne-Cocoonings. Sie sind hospitalisiert, wenn auch in | |
unterschiedlichen Funktionen: als Ärztin oder Pfleger, Patientin oder | |
Patient. Oder in der Doppelrolle, wie die Krankenschwester, die in der | |
bewegt bewegenden Eingangszene des Films mit dem körperlichen und | |
moralischen Einsatz ihrer – wie sie selbst – durch Schutzanzüge und Visiere | |
ganzkörperbedeckten Kolleg*innen daran gehindert wird, dem im Sterben | |
liegenden Vater nahe zu kommen. Denn krank werden darf sie nicht. | |
Die Szene sieht in ihrer geschlossenen Dramaturgie inszeniert aus, ist aber | |
wohl echt. Ihr folgt in dem Dokumentarfilm „76 Days“ gleich eine weitere | |
tragödiengerecht wuchtige Situation, wenn das Personal eines Krankenhauses | |
mit verzweifelter Kraft versucht, aus den an die Pforte drängelnden | |
Menschenmassen nur einzelne hineinzulassen und sich so die eigene | |
Arbeitsfähigkeit zu sichern. | |
Dann werden nach und nach einige Patienten in unterschiedlichem | |
gesundheitlichen und mentalen Zustand vorgestellt. Ein junges Paar, das | |
neben der eigenen Coviderkrankung eine Geburt zu bewältigen hat und erst | |
mal voneinander isoliert wird. Eine alte Dame, die sich um den im | |
Nachbarraum liegenden Ehemann sorgt. Ein dementer Fischer und Genosse, der | |
sich mit der Isolation nicht abfinden will und mit viel Mühen (darunter | |
auch der Appell an seine Parteiloyalität) davon abgehalten werden muss, die | |
Klinik zu verlassen. | |
## Nicht der erste Film zum Thema | |
„76 Days“ (so lange dauerte der Lockdown dort) ist nicht der erste Film zur | |
[2][Situation in Wuhan], neben anderen hatten [3][Ai Weiwei] mit dem | |
regimekritischen „Coronation“ und jetzt zum Jahrestag der offiziell vom | |
Staat unterstützte „Days and Nights in Wuhan“ von Cao Jinling auf sich | |
aufmerksam gemacht. In „76 Days“ kommt Politik nur in ihren Reflexionen in | |
den staatlichen Maßnahmen oder dem eingangs erwähnten Slogan vor. | |
Doch wie Weiwei hat auch Hao Wu seine Produktion aus dem westlichen Ausland | |
in Kooperation mit Co-Regisseuren vor Ort realisiert, die in Wuhan in vier | |
Krankenhäusern und (für kurze Zwischenstücke) auf der Straße drehten. Zum | |
Neujahrsfest war der in China geborene Regisseur selbst noch bei seinen | |
Eltern in Schanghai gewesen, hatte sich dann aber kurz vor der Einstellung | |
des Flugverkehrs für die Rückkehr nach New York entschieden und von dort | |
die Montage übernommen. | |
Um möglichen Repressalien zu entgehen, bleibt einer dieser Co-Regisseure | |
auch im Abspann anonym. Die Verantwortlichen in den Kliniken selbst standen | |
nach einem Statement Wus den Dreharbeiten aber meist positiv gegenüber, | |
auch weil sie sich von der Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit für die | |
verzweifelte Situation auf den Stationen erhofften. | |
Da wird viel gerannt und geschrien, auch weil die schwere Montur die | |
Kommunikation behindert, immer wieder hängen Pfleger erschöpft auf den | |
Wartestühlen im Korridor. Zur Identifikation untereinander haben sie sich | |
ihre Namen auf die weißen Overalls geschrieben, kritzeln aber auch Smileys | |
und Blümchen daneben, um sich die Überanstrengung zu versüßen. | |
## So viel Zärtlichkeit | |
Auch sonst ist auffällig, dass bei allem Stress Empathie und Zärtlichkeit | |
im Umgang mit den Patientinnen und Patienten dominierten, die offiziell nur | |
mit Nummern bezeichnet sind, vom Personal aber familiär „Auntie“ oder | |
„Grandpa“ genannt werden. Diese bedanken sich überschwänglich für die | |
Sorge, zu der neben Händchenhalten auch der Handy-Kontakt mit den | |
Angehörigen gehört. „Lecker!“, sagt ein zahnloser alter Mann, als eine | |
Pflegerin ihm in warmes Wasser getunkte Brötchenstücke verfüttert. | |
Die Kamera stellt Nähe her und passt sich den jeweiligen Situationen | |
unaufdringlich fluide an, kommentierende Akzente wie das Motiv eines im | |
Raum hängenden gläsernen Glückssymbols sind unaufdringlich einmontiert. Die | |
Erzählung kommt nur aus den Situationen selbst, nie aus übergestülpten | |
Mitteln wie Musik oder Kommentar. | |
Ein einzigartiger, für die Produktion sicherlich kniffliger Aspekt dieses | |
Fly-on-the-Wall-Films ist dabei der durch die Situation erzwungene Verzicht | |
auf Mimik und Gesichter: Während die Kranken hinter ihren OP-Masken | |
wenigstens noch an der Augenpartie erkannt werden können, ist das | |
medizinische Personal – zumindest für ein westliches Publikum – gar nicht | |
zu identifizieren. | |
Interessanterweise wirkt diese äußere Entindividualisierung als emotionaler | |
Verstärker für die Mühen und Anstrengungen des Kollektivs. So wirkt – ein | |
Jahr nach Beginn der Pandemie – Hao Wus Film nicht als Rechtfertigung | |
chinesischer Politik, zeigt aber im Chorgesang aus der Krisensituation die | |
Stärken nicht-individualistischer Tugenden wie Pflichtgefühl und | |
Solidarität. | |
27 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] /China-nach-der-Coronapandemie/!5743674 | |
[2] /China-nach-der-Coronapandemie/!5743674 | |
[3] /Ai-Weiwei-ueber-sein-Exil-in-Deutschland/!5619421 | |
## AUTOREN | |
Silvia Hallensleben | |
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