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# taz.de -- Gefühle in der Coronapandemie: Wiederentdeckung der Sehnsucht
> Wenn Tristesse und Trostlosigkeit herrschen, muss man sich sein kleines
> Paradies selbst bauen. Manchmal reicht auch schon die bloße Vorstellung
> davon.
Bild: Erinnerungen an andere, schönere Zeiten
Wenn ich in diesen Tagen durch die Onlinenachrichtenseiten scrolle, taucht
ein Begriff besonders häufig auf: die Sehnsucht. Von der „Sehnsucht nach
Entspannung“ lese ich dann, der [1][„Sehnsucht nach Geselligkeit“] oder d…
[2][„Sehnsucht nach Zirkusluft“] – und bin sicher nicht die Einzige, die
sich angesprochen fühlt.
Seit knapp einem Jahr ist das Gefühl der Sehnsucht omnipräsent, auch wenn
wir uns natürlich nach ganz verschiedenen Dingen sehnen: manche nach
Fußballgucken im Stadion, Gruppenmeditationen oder einem Strandurlaub an
der Algarve, andere nach Frankfurter Kranz bei den Großeltern, [3][Kölner
Karneval] oder nach der Sekunde, wenn im Club der Bass einsetzt.
Ich selbst sehne mich gerade am meisten nach Theaterbesuchen, nach dieser
wunderbaren Mischung aus schwitzenden Körpern, mäandernden Textpassagen und
ästhetischer Revolte. Weil mich einfach nichts so sehr auf neue Gedanken
bringt und nur wenig so glücklich macht wie diese seltenen magischen
Theatermomente, bei denen ich mich wirklich verstanden fühle. Wie in einer
Szene, an die ich gerade oft denken muss: Benny Claessens stakst im
Gorki-Theater als verlorenes Teenagermädchen über die Bühne und singt „Born
to Die“ von Lana Del Rey, die Lyrics liest er von seinem Smartphone ab.
Unendlich kitschig war das, aber auch so präzise dargestellt, dass es mich
an mein eigenes Verlorenheitsgefühl als 15-Jährige erinnerte. Ein Gefühl,
das seit der Coronapandemie manchmal wieder ziemlich präsent ist.
## Ein Kaffee in der U-Bahn!
Auch nach Umarmungen mit Freund:innen und Besuchen bei meinen Eltern
sehne ich mich, nach dem Essen in meiner Lieblingspizzeria und dem
hauseigenen Jack Russell Terrier, der es sich dort gerne neben meinem Tisch
bequem macht, nach Roadtrips durch Europa und nach ganz profaner
Normalität. Was gäbe ich dafür, mal wieder von Angesicht zu Angesicht
streiten zu können oder in der U-Bahn einen Kaffee zu trinken!
Doch wie so oft merkt man erst im Nachhinein, wie gut man es eigentlich
hatte und dass man viel zu viel für selbstverständlich gehalten hat, das
sich aktuell so unerreichbar anfühlt. Dabei ist es noch gar nicht so lange
her, dass bei den meisten von uns das Gegenteil von Sehnsucht vorherrschte
– ein Gefühl von Übersättigung.
Statt um Bedarfsdeckung ging es unserer Gesellschaft längst nur noch um
Bedarfsweckung. Überall blitzten und blinkten uns Freizeit- und
Konsumangebote wie die verlockendsten Möglichkeiten an, mal flüsterten, mal
schrien sie: Sei dabei! Kauf mich! Ich mache dich glücklich! Und wehe den
Tagen, an denen alles auf einmal auf uns einstürmte, da hätten wir uns
manchmal am liebsten heulend auf den Boden geworfen wie vom
Kindergeburtstag überreizte Vierjährige.
Gleichzeitig hatte alles immer schöner, schneller und ergreifender sein
müssen, damit wir überhaupt noch etwas spürten. Das Abhandensein von
Sehnsucht hatte uns nicht nur überdrüssig, sondern auch maßlos gemacht. Es
war einfach zu viel des Guten gewesen, wie bei einem [4][„All you can
eat“-Büffet], das nach anfänglicher Euphorie ja oft in ein zwanghaftes
„Alles muss probiert werden“ ausartet.
Kurzum: Wir hatten oft alles und wollten nichts oder nichts mehr richtig –
und dann war das große Fressen mit einem Mal vorbei.
Im Prinzip ähnelte unser präpandemischer Gemütszustand dem der
Kugelmenschen, mit denen Platon in seinem Werk „Symposion“ den Ursprung der
Sehnsucht zu erklären versucht. Diese Kugelmenschen galten mit ihren vier
Händen, vier Füßen und zwei Gesichtern als vollkommene Wesen und wollten in
ihrem Übermut die Götter angreifen. Doch die kamen den Kugelmenschen zuvor
und teilten sie zur Strafe in zwei Hälften, von denen die eine seitdem nach
der anderen sucht, um sich mit ihr zu vereinen.
Ist es nicht auch bei uns so, dass mit dem Wegfall unseres bisherigen
Lebens auch ein Großteil unserer Identität verloren ging? Eine Identität,
die lange Zeit allerdings kaum Luft bekam, so sehr wie wir sie mit Plunder,
Ramsch und scheinbaren Verpflichtungen zugekleistert haben. Und die sich
vielleicht erst jetzt richtig ausbilden kann, wenn wir anhand unserer nun
auftauchenden Sehnsüchte erkennen, was uns wirklich wichtig ist.
Deshalb ist es auch keine große Überraschung, dass die Sehnsucht immer dann
ihre Hochphase hatte, wenn die Zeiten besonders mies und schrecklich waren.
Sobald Unsicherheit, Krieg und Krankheit herrschten, zogen sich die
Menschen in ihr Innerstes zurück, von wo aus sie gefahrlos zu ausgedehnten
Reisen in die Fantasie aufbrechen und von so schönen Dingen wie der Liebe
und der Natur träumen konnten. Nicht umsonst gilt die Sehnsucht als eine
der wichtigsten Triebfedern der Romantik und brachte etliche Romane,
Kompositionen und Gemälde hervor, voll mit unerreichbaren Geliebten und
verwunschenen Wäldern.
„Hätten die Nüchternen / Einmal gekostet / Alles verließen sie / Und
setzten sich zu uns / An den Tisch der Sehnsucht / Der nie leer wird“ heißt
es in einem frühromantischen Liedtext von Novalis. Sechs Zeilen, die
eigentlich vom Geheimnis der ewigen Liebe handeln – aber ebenso
eindrucksvoll verdeutlichen, dass Hingabe an die Sehnsucht in einer Phase
des Mangels eine echte Linderung sein kann.
Denn wo Tristesse und Trostlosigkeit herrschen, muss man sich sein kleines
Paradies eben selbst bauen, und das muss ja nicht gleich mit den Händen zu
greifen sein. Manchmal reicht auch schon die bloße Vorstellung davon;
während man sich nach etwas sehnt, erlebt man es im Grunde ja schon; zwar
nur in der Vorstellung, aber Corona hat uns bescheidener gemacht.
Wie man sich einen solchen Trostort erschafft, erfährt man in einem der
schönsten Kinderbücher unserer Zeit: in „Frederick“. Darin erzählt der
Maler und Schriftsteller Leo Lionni die Geschichte eines Mäuserichs.
Während die anderen Mäuse emsig Vorräte für den Winter herbeischaffen,
sitzt Frederick scheinbar bloß faul herum. Als die Mäuse ihn fragen, warum
er nicht mithelfe, erklärt er ihnen, dass er statt Vorräte Sonnenstrahlen,
Farben und Wörter sammele. Lauter Dinge also, die für das Überstehen der
kalten, grauen Jahreszeit ja ebenso wichtig sind.
Und haben nicht auch wir in unserem bisherigen Leben ganz viele
Sonnenstrahlen und Farben und Wörter gesammelt, an denen wir uns jetzt, wo
es gerade so schrecklich kalt ist, ganz wunderbar wärmen können? Jede Menge
unvergessliche Momente, an die wir am besten dann herankommen, wenn wir
einen Augenblick innehalten und uns sehnsüchtig zurück erinnern an eine
Zeit, in der das meiste so viel unbeschwerter war als heute.
## Die Spur wieder aufnehmen
Vielleicht ist die Wiederentdeckung der Sehnsucht sogar eines der
wichtigsten Instrumente, das unserem Selbst jetzt beim Überleben hilft –
und das nicht nur wegen seiner nostalgischen Komponente, sondern auch wegen
seines großen utopischen Moments. Denn neben dem bittersüßen Verlangen nach
etwas, das bereits war, gibt es ja auch immer das Verlangen nach etwas, das
noch sein wird.
Solange beim Sinnieren das Herz nur ein wenig schneller schlägt und die
Fingerspitzen ein bisschen kribbeln, weiß man, dass man auf der richtigen
Spur ist. Eine Spur, die man nach dem Ende der Pandemie wieder aufnehmen
kann und dann hoffentlich mit weniger Nonsens zumüllt als zuvor und mehr
wertschätzen kann als früher.
Und bis es so weit ist, reichen mitunter auch bloß fünf Minuten Hingabe an
die Sehnsucht, an das schönste Gefühl dieser Zeit. Damit die Welt nicht
mehr ganz so dystopisch erscheint.
30 Jan 2021
## LINKS
[1] https://www.weser-kurier.de/region/delmenhorster-kurier_artikel,-sehnsucht-…
[2] https://www.verlagshaus-jaumann.de/inhalt.loerrach-sehnsucht-nach-zirkusluf…
[3] http://Warum%20Karneval%20nie%20ausfallen%20darf
[4] /Corona-in-der-Gastronomie/!5689388
## AUTOREN
Anna Fastabend
## TAGS
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