# taz.de -- Kinofilm „Der See der wilden Gänse“: Panorama der Kleinkrimina… | |
> Film Noir trifft Martial Arts: In dem neuen Film von Diao Yinan „Der See | |
> der wilden Gänse“ bekämpfen sich Motorraddiebe und die Polizei. | |
Bild: Szene aus „Der See der wilden Gänse“ | |
Ein Mann wartet an einem Vorortbahnhof von Wuhan im Regen, eine Frau tritt | |
hinzu, fragt nach Feuer, ein kurzes Gespräch. „Vor zwei Nächten ging ich | |
ins Xingqingdu Hotel …“ | |
Die Handlung von Diao Yinans „Der See der wilden Gänse“ entwickelt sich im | |
Wechsel zwischen der Gegenwart und Rückblenden in die Vergangenheit, die | |
die Erzählung allmählich aufholen lassen, bis sie in der Gegenwart des | |
Films angelangt ist. Der Mann, Zhou Zenong, ist Teil eines Netzwerks | |
organisierter Kriminalität, das Motorräder klaut. Die Frau, Liu Aiai, ist | |
eine Prostituierte, die Zhou Zenong helfen soll. | |
Die Geschichte beginnt zwei Nächte zuvor in besagtem Hotel, in dem eine | |
Fortbildung zum effizienteren Motorraddiebstahl stattfindet. Als am Ende | |
des Treffens die Straßenzüge unter den Anwesenden aufgeteilt werden, kommt | |
es zum Streit um eine besonders lukrative Straße. | |
Um den Streit zu schlichten, ruft der Anführer der Organisation einen | |
Wettstreit zwischen den beiden Fraktionen aus. Wer am meisten Motorräder | |
innerhalb zweier Stunden stiehlt, gewinnt. Doch stattdessen wird Zhou | |
Zenong von seinen Konkurrenten angeschossen. Er nimmt die Verfolgung auf, | |
schießt auf zwei Männer, die er für seine Angreifer hält, und tötet | |
stattdessen unwissentlich zwei Polizisten. | |
Das erste Bild, das von dem Film im Kopf des Regisseurs existierte, war die | |
Eröffnungsszene des Treffens im Regen und die Faszination für den Film Noir | |
des Hollywoodkinos der 1950er Jahre. Diao Yinans Inszenierung von „Der See | |
der wilden Gänse“ greift denn auch visuelle Elemente des Noir auf: | |
zahlreiche Nachtszenen, grelle Licht-Schatten-Kontraste, Neonlichter in der | |
Großstadtnacht, künstliches Gewitterblitzen in dramatischen Situationen. | |
Geschickt nutzt Yinan, wie sich Stadt und Seenlandschaft in Wuhan | |
durchdringen. In den Naturaufnahmen, die teils in die Handlung | |
eingeflochten sind, und einigen Kämpfen klingt das wuxia, der chinesische | |
Martial-Arts-Film, als zweite filmische Tradition an. | |
## Machtkampf unter der Oberfläche | |
Nach den tödlichen Schüssen auf die Polizisten versteckt sich Zhou Zenong | |
am See der wilden Gänse im Stadtgebiet. Gemeinsam mit Liu Aiai zieht er | |
durch die Stadt und versucht, unauffällig zu bleiben. Die Polizei beginnt | |
mit einem Großeinsatz, mit dem sie Zhou und seine Komplizen fassen will. | |
Einer nach dem anderen werden Zhous Vertraute erschossen. Für die Suche | |
wird das Gebiet um den See unter den Polizisten aufgeteilt. | |
Die Verbrecherorganisation plant unterdessen, Zhou mit dessen | |
Einverständnis selbst an die Polizei auszuliefern, um die Belohnung | |
einzustreichen. Dazu geht Liu Aiai auf die Suche nach Zhous Frau. Aufseiten | |
des Verbrechens entbrennt zudem unter der Oberfläche ein Machtkampf, bei | |
dem Zhous Kontrahenten nun die Anführer der Gruppe herausfordern. | |
Diao verzichtet in seinem Film weitgehend auf Spannung und setzt | |
stattdessen auf eine sehr allmähliche Entwicklung der Figuren und auf | |
filmische Lehrstunden über die Hintergründe der Handlung. So etwa, wenn der | |
Film nach den Schüssen auf die Polizisten die Lagebesprechung der Polizei | |
zu einer Montagesequenz nutzt, die die Suchaktion der Polizei unter den | |
„üblichen Verdächtigen“, auf Baustellen und in leerstehenden Häusern, an | |
Bahnhöfen und am Strand zeigt und ein Panorama der Kleinkriminalität | |
entfaltet. | |
Später verliert sich diese recht pädagogische Tendenz, die wirkt, als hätte | |
sie die französische Koproduktion eingefordert, um den Film im Ausland | |
besser verständlich zu machen, erfreulicherweise wieder. Und auch wenn sich | |
weiterhin keine Spannung einstellt, trägt die Entwicklung der Figuren den | |
Film. | |
## Auf den europäischen Markt geschielt | |
Die Kreise der Polizei um Zhou werden enger und die Zeit, um sich selbst zu | |
stellen, läuft ab. Als Liu Aiai Zhous Frau endlich gefunden hat, stellt | |
sich heraus, dass sie von der Polizei zur Kooperation gezwungen wurde und | |
dass der Plan, dass sie Zhou an die Polizei ausliefert und die Belohnung | |
kassiert, nicht umzusetzen sein wird. | |
Ähnlich wie bei die europäischen Koproduktionen [1][Wong Kar-Wais] in den | |
2000er Jahren ist auch „Der See der wilden Gänse“ nicht frei von | |
ästhetischen Manierismen, die während des Films unablässig „Arthouse!“ | |
schreien. Diao zielt in seinem Film trotz der Genreanleihen beim Film Noir | |
und dem Martial-Arts-Film unablässig darauf, unter Beweis zu stellen, dass | |
er einen hochwertigen Film für Anhänger_innen des Autorenfilms gedreht hat. | |
Die Farbpalette des Films wirkt auch in Szenen, in denen das keinen | |
Mehrwert hat, gekünstelt und die Bildgestaltung hat erkennbar Spaß gehabt | |
am Leuchten von Farben im Zwielicht. | |
Dafür bewegt sich die Kamera stellenweise, als wäre sie von einem | |
3-D-Modell gesteuert worden und nicht von einem Kameramenschen. Die Tonspur | |
montiert über weite Strecken ziellos vor sich hin und scheint jeweils tönen | |
zu lassen, was gerade in den Sinn kam. Man mag es da fast schon als | |
Ehrlichkeit rühmen, dass dieses Prinzip im Film offengelegt wird, wenn Zhou | |
in einem Versteck auf Zeitungsausschnitte zielt und jeweils ein passendes | |
Geräusch zum Foto erklingt. | |
Chinesische Filmgeschichte wurde lange nach Abgangskohorten der | |
Filmakademie in Peking eingeteilt. Diao Yinan (geboren 1969) gehört dem | |
Alter nach in die berühmte sechste Generation, der so viele der Regisseure | |
zugehören, die den chinesischen Film bis heute prägen. Jedoch: Diao war nie | |
auf der Filmakademie in Peking, sondern besuchte stattdessen die | |
Schwesterschule, die zentrale Akademie für Drama. | |
Nach dem Abschluss 1992 arbeitete er bis Anfang der 2000er Jahre als | |
Drehbuchautor, bevor er 2003 mit „Uniform“ sein Regiedebüt realisierte, das | |
auf diversen internationalen Festivals lief. [2][2014 gewann er mit „Black | |
Coal, Thin Ice“ den Goldenen Bären der Berlinale]. „Der See der wilden | |
Gänse“ feierte 2019 auf dem Filmfestival in Cannes seine Premiere. | |
## Vergleich der Tanzszenen | |
Diaos Film liegt mit seiner Mischung aus Genreanleihen und Autorenfilm | |
durchaus im Trend des chinesischen Kinos. [3][Anders als Jia Zhang-ke in | |
„Asche ist reines Weiß“] oder Lou Ye in „The Shadow Play“ nutzt Diao d… | |
Mischung jedoch nicht, um Gesellschaftsbilder zu entwerfen. | |
Das ist unübersehbar in zwei Szenen aus „Der See der wilden Gänse“ und | |
„Asche ist reines Weiß“. In Jia Zhang-kes Film tanzt die | |
Minenarbeiter-Kleinstadt abends im Tanzklub zu „Y.M.C.A.“ von den Village | |
People und der Film fasst damit eine bestimmte Form von Provinzialität zu | |
einer bestimmten Zeit; Diao zeigt in einer der Nächte von Zhous Flucht | |
einen Club, in dem Menschen zu Europop wie „Dschinghis Khan“ und Boney M.s | |
„Rasputin“ tanzen. | |
Die Tanzszene ist vor allem für den Effekt da, Leuchtsohlen in der | |
Dunkelheit zu zeigen und später – die Szene entpuppt sich als Polizeiaktion | |
– Polizisten mit einheitlicher blauer Neonsohle. Die Szene in Jia Zhang-kes | |
Film transportiert also soziale Einordnung, während Diao vor allem auf – | |
zugegebenerweise hübsch anzusehende – Schauwerte aus ist. | |
Es ist keine kleine Leistung der Protagonist_innen, das filigrane | |
Ränkespiel der Figuren in „Der See der wilden Gänse“ inmitten all der | |
blitzenden Bildwelten sichtbar zu halten. Vor allem Hu Ge als Zhou Zenong | |
und Gwei Lun Mei als Liu Aiai halten den Film zusammen. Um sie herum hat | |
Diao eine Reihe von Laiendarstellern angeordnet. Das Ergebnis gibt ihm an | |
dieser Stelle recht: Die schauspielerische Ensembleleistung in „Der See der | |
wilden Gänse“ ist beeindruckend. | |
27 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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