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# taz.de -- Debütfilm „Are You Lonesome Tonight?“: Die Kuh des Schicksals
> In seinem Debütfilm „Are You Lonesome Tonight?“ malt der chinesische
> Regisseur Wen Shipei mit bunten Farben. Sein Sittenbild gerät weniger
> farbig.
Bild: Reise ins Ungewisse in Rot, Grün, Gelb: Xueming (Eddie Peng), kurz bevor…
Wege, die sich gabeln, sind das Bild für Lebensentscheidungen schlechthin,
[1][Straßen, die man nimmt oder eben nicht nimmt]. Um sie im Film
interessant zu gestalten, muss im Zweifel etwas hinzukommen, auch wenig
Wahrscheinliches kann helfen.
Für sein Spielfilmdebüt „Are You Lonesome Tonight?“ hat der chinesische
Regisseur Wen Shipei eine Idee gehabt, die als Umweg schon ans Dämliche
grenzt, in ihrer Banalität aber umso überzeugender wirkt. Bei ihm ist der
Grund für eine folgenreiche Kursänderung des Protagonisten eine Kuh. Sie
gibt den Anstoß für einen Thriller um Verbrechen und Strafe, den Wen Shipei
in kräftigen Farben ausmalt, bevorzugt in Rot und Grün.
Der Haustechniker Xueming (Eddie Peng) ist eines Abends mit seiner Freundin
verabredet fürs Kino. Sie mahnt ihn am Telefon, pünktlich zu sein, denn sie
würde nicht auf ihn warten. Als er mit dem Auto losfährt, liegt unterwegs
besagte Kuh mitten auf der Straße. Er hupt, sie rührt sich nicht.
Schließlich wählt er einen Umweg, am Fluss entlang. Beim Anzünden einer
Zigarette achtet er kurz nicht auf die Straße, es knallt, er bremst, steigt
aus. Und fährt wieder los. Dabei wird am Fahrbahnrand hinter dem Auto ein
männlicher Körper sichtbar, leblos, blutig.
Das Unglück geschieht im Jahr 1997, wie eine beiläufig eingeblendete Zahl
kurz vor der Kollision zu Protokoll gibt. Es ist eine Rückblende, die
Handlung des Films setzt später ein. Da sitzt Xueming im Gefängnis. Aus dem
Off erzählt er, wie man während der Haft immer weniger deutlich weiß, warum
man seine Strafe abbüßt, bis man es ganz vergessen hat, sodass man bei
seiner Entlassung neu beginnen kann. Wie lang diese Zeit bei Xueming dauern
wird, verrät der Film am Ende.
Fragen von Moral und Schuld interessieren Wen Shipei insbesondere bei
diesem modernen Film noir, wobei die farblichen Kontraste seiner
Bildkompositionen keinesfalls auf einen gleichfalls klar gesetzten
Gegensatz von Gut und Böse hindeuten. Die Werte, nach denen seine Figuren
handeln, kennen bestenfalls unterschiedliche Grauschattierungen. Was für
die „echten“ Kriminellen ebenso gilt wie für die „rechtschaffenen“ Bü…
## Existenzielle Wendungen
Xueming kämpft nach dem Unfall mit seinem Gewissen, er geht zur Polizei,
will sich stellen, überlegt es sich dann, als er dort zunächst warten muss,
doch anders. Fast immer sind es solche kleinen Zufälle, die Wen Shipei als
Initiale für existenzielle Wendungen nutzt. So findet Xueming beim Warten
an einem Obststand heraus, wer die Witwe des Unfallopfers ist. Frau Liang
(Sylvia Chang), so ihr Name, steht da unvermittelt neben ihm, in der Hand
Suchplakate mit dem Konterfei ihres vermissten Mannes. Xueming folgt ihr
bis zu ihrer Wohnung, klingelt, fingiert eine Reparatur an ihrer
Klimaanlage.
Die beiden lernen sich kennen, freunden sich ein wenig an. Dabei will er
ihr eigentlich gestehen, dass er ihren Mann überfahren hat. Dass die Sache
im Fall des Toten komplizierter ist, verrät Wen Shipei erst nach und nach.
Überhaupt behandelt er Informationen als knappes Gut. Gesprochen wird kaum,
wichtige Details einzelner Szenen folgen gern verzögert. Dazu dienen ihm
beim Erzählen die vielen Rückblenden, die er in leicht unübersichtlicher
Form verschachtelt.
Ein wenig Konzentration ist nötig, um folgen zu können und zu erkennen, in
welchem genauen Moment die Szene gerade spielt. Auf diese Weise scheint Wen
Shipei ein bisschen das schrittweise Arbeiten des Gedächtnisses zu
illustrieren, bei dem es etwa passieren kann, dass einem die Einzelheiten
eines Ereignisses unvermittelt im Verlauf des Erzählens wieder einfallen.
Für Xuemings Geschichte bedeutet dies vor allem, dass er sich mit jedem
zusätzlichen Schritt in eine Halbwelt verstrickt, ohne es anfangs recht zu
merken. Irgendwann kauft er sich eine Waffe.
## Gesellschaft Chinas im Umbruch
Die leicht desorientierende Wirkung dieses Hin und Hers passt wiederum zum
Sittenbild, dass Wen Shipei vom China der späten Neunziger zeichnet. In
erweiterter Perspektive deutet das Jahr 1997 auf das Ende der Souveränität
Hongkongs hin, mit verheerenden Folgen für die demokratische Entwicklung
der Insel.
Auch die Gesellschaft Chinas insgesamt scheint bei Wen Shipei im Umbruch.
So zeigt er in einer Szene scheinbar zusammenhanglos die Fernsehübertragung
des Vortrags eines chinesischen Wissenschaftlers oder Politikers, der sich
– unter Rückgriff auf Darwins Evolutionstheorie und die Trieblehre Freuds –
gegen „unser falsches Verständnis von Würde“ ausspricht.
Wen Shipeis eigene Haltung dazu bleibt ambivalent. Wenn man allerdings
bedenkt, dass [2][chinesische Philosophen mitunter nicht davor
zurückschrecken, Ethiker wie Kant zu missbrauchen, um die Universalität der
Menschenrechte zu bestreiten], bleibt allemal ein Unbehagen. Ungeachtet der
Kraft seiner Grundfarbenmalerei.
26 Jan 2022
## LINKS
[1] /Frauen-im-Berlinale-Wettbewerb/!5664316
[2] /Deutsch-chinesisches-Gespraechsforum/!5083395
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
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Spielfilmdebüt
Thriller
Film noir
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