# taz.de -- Spielfilm „Der flüssige Spiegel“: Zwischen Eros und Thanatos | |
> Regisseur Stéphane Batut verwebt mythische Verweise mit parallelen | |
> Wirklichkeiten. Sein Debütfilm ist eine postmortale | |
> Coming-of-Age-Erzählung. | |
Bild: Der Geist Juste (Thimotée Robart) und seine Agathe (Judith Chemla) | |
Die alten Griechen stellten sich den Tod als Überfahrt über den Fluss Styx | |
vor. Der Fährmann Charon bringt die Toten in seinem Boot hinüber ans Tor | |
zum Totenreich Hades. Solch bildkräftige Mythen über die Grenzerfahrung | |
zwischen Leben und Tod haben die Künste und das Kino seit je inspiriert. | |
Der französische Regisseur Stéphane Batut ist vor allem von der Figur des | |
sanften Lotsen fasziniert. Was, wenn er, der nicht von dieser Welt ist, | |
einer Frau begegnet, sich verliebt und mit ihr aus dem Zwischenreich heraus | |
zu den Lebenden zurückwill? Aus der Perspektive seines Protagonisten | |
entfaltet Stéphane Batut eine Art postmortale Coming-of-Age-Erzählung. | |
Selbst ein Untoter auf Abruf, tritt er zum ersten Mal aus seiner Rolle des | |
stillen Begleiters heraus und handelt. | |
Stéphane Batuts Debütfilm „Der flüssige Spiegel“ ist ähnlich wie | |
[1][Christian Petzolds „Undine“] ein magisches Patchwork aus | |
Märchenmotiven, mythischen Verweisen und parallelen Wirklichkeiten. Der | |
Originaltitel, „Vif-Argent (Quecksilber)“, spielt auf ein antikes Symbol | |
für den Götterboten Hermes an, der die Toten im Hades in Empfang nimmt. | |
Auch Orpheus und Eurydike, die an ihrer zweiten Chance scheitern, Narziss, | |
der in seinem Spiegelbild im Wasser ertrinkt, dazu die surrealen Filme von | |
Jean Cocteau und Jacques Rivettes geheimnisvolle Paris-Kartografie standen | |
für Batuts melancholische Geistergeschichte Pate. | |
## Als Geist durchs Pariser Großstadtgetriebe | |
Juste (Thimotée Robart), ein junger Typ mit verschlossenem Blick und | |
weichen Zügen, ist im Pariser Großstadtgetriebe unterwegs, um die, deren | |
Zeit gekommen ist, ins Jenseits abzuholen. Auf seinen Streifzügen bleibt er | |
von der Menge unbemerkt. Wenn ihn ein einzelner Mensch wahrnimmt, fragt | |
Juste ihn nach einer Erinnerung aus seinem Leben. | |
Um das Erzählte dingfest zu machen, begleitet er den Erzähler an den realen | |
Schauplatz, den „Tatort“ seiner Geschichte. Ein aus Afrika stammender Mann | |
z. B. kehrt in den tropischen Wald zurück, wo er einst einem Schulfreund, | |
der von einer Schlange angegriffen wurde, nicht helfen konnte. | |
Es braucht einen langen Anlauf und mehrerer solcher wundersamen Zeitkapseln | |
voll fremder Erinnerungen, bis die magische Ordnung kenntlich wird: Erst | |
wenn die Todgeweihten ihre letzte Erinnerung erzählt haben, kann Juste sie | |
dem Totenreich übergeben, über das als moderner Hermes eine Ärztin in | |
weißem Kittel wacht. | |
Juste selbst kann jedoch keine Erinnerung erzählen. Ein schwerer Unfall hat | |
sein Gedächtnis gelöscht. So kann er die Welt nicht endgültig hinter sich | |
lassen. Es bleibt ihm vorläufig nur, mit Hermes „zusammenzuarbeiten“ und | |
anderen ins Jenseits zu helfen. | |
## Romantisches Liebesdrama gepaart mit Mythologie | |
Dann jedoch begegnet er Agathe ([2][Judith Chemla]), die ihn sehen kann und | |
seine Spur aufnimmt, weil sie in ihm ihre verschollene große Liebe | |
Guillaume zu erkennen glaubt. Juste müsste sie nach der erlösenden | |
Erinnerung fragen, zögert jedoch. Sie ihrerseits sucht seine Nähe und gibt | |
von sich aus die Geschichte ihrer ersten, unerfüllt gebliebenen | |
Leidenschaft preis. Ob Juste mit dem verschwundenen Geliebten identisch | |
ist, bleibt ein Geheimnis. | |
Doch dass der neutrale „Sterbebegleiter“ plötzlich selbst ein Teil von | |
Agathes Erinnerung ist und ihr wachsendes Begehren den Abschied schwerer | |
macht, widerspricht den Regeln des Geisterreichs. Um Agathe aus dem | |
Zwischenreich zu retten und ihr eine zweite Chance zu ermöglichen, bleibt | |
Juste nur, sich zu lösen und auf der Suche nach Erlösung von seiner | |
Geisterexistenz den Umständen seines eigenen Sterbens auf den Grund zu | |
gehen. | |
Stéphane Batut hat als Casting Director schon vielen französischen | |
Regiegrößen über die Schulter geschaut und dabei sein Gespür für Gesichter, | |
Schauplätze und Milieus geschärft. Trotz der Spiellust von Judith Chemla | |
und Thimotée Robart krankt die Inszenierung seines Erstlings aber an | |
verschmockten Klischees, wenn er beispielsweise Juste in Agathes Traum | |
erscheinen lässt und dies mit einer Projektion seiner Hände auf ihrem | |
Körper illustriert. | |
„Der flüssige Spiegel“ lädt ein romantisches Liebesdrama alter Schule mit | |
dem schweren Gewicht der Mythen um Eros und Thanatos auf. Viel beiläufiger | |
als die Botschaft „Liebe nährt sich von Erinnerungen“ kommt Stéphane Batu… | |
Liebeserklärung an die Stadt Paris daher. | |
Wie er die Straßen, Treppen und Metrostationen des 19. Arrondissements | |
zeigt, den pittoresken Park der Buttes-Chaumont zu einem Hauptschauplatz | |
macht, seine steilen Felsen, den dunklen Teich und die in surreales Blau | |
getauchte Brücke für seine Geistergeschichte nutzt, macht den Film ebenso | |
sehenswert wie sein dokumentarischer Blick auf die Läden und Straßenmärkte | |
der schwarzen Bevölkerung von Paris. | |
2 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Claudia Lenssen | |
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