# taz.de -- China nach der Coronapandemie: Die Tagelöhner von Wuhan | |
> Die Pandemie begann in Wuhan. Der Lockdown dort traf die | |
> Arbeitsmigrant:innen am härtesten. Ein Jahr später überwiegt die | |
> Zuversicht. | |
Bild: 7. Dezember 2020: ein Straßenmarkt in Wuhan, fast ein Jahr nach Beginn d… | |
WUHAN taz | Es ist fünf Uhr morgens, der Sonnenaufgang noch nicht zu | |
erahnen, und doch haben sich bereits Hunderte Männer mit orangefarbenen | |
Warnwesten und gelben Schutzhelmen unter einer ansonsten verlassenen | |
Stadtautobahnbrücke in Wuhan eingefunden. Einige von ihnen schlingen noch | |
schnell ihr Frühstück herunter – gekochte Eier und Teigtaschen – oder | |
rauchen hektisch die letzte Zigarette vor Arbeitsbeginn. Die anderen sitzen | |
bereits in Lieferwagen, bereit zum Losfahren. | |
Auch Li Wei ist an diesem feuchtkalten Januarmorgen zum größten | |
Tagelöhnermarkt Wuhans gezogen. Seit mehreren Jahren kommt er hierher. | |
Gegen eine kleine Gebühr, so erzählt er, fahren ihn die Mittelsmänner zu | |
den umliegenden Baustellen, wo er dann bis um fünf Uhr nachmittags | |
schuftet. | |
„Ich ziehe die harte Arbeit trotz allem vor, weil ich täglich bezahlt werde | |
und eigentlich immer Arbeit finde“, sagt Li, der umgerechnet bis zu 25 Euro | |
pro Tag verdient. Bei längerfristigen Jobs hingegen laufe man oft Gefahr, | |
von gierigen Chefs um seinen Lohn geprellt zu werden. | |
Vor einem Jahr zählte Wuhan noch zum Epizentrum der Coronapandemie. Der | |
weltweit erste Covid-19-Ausbruch veranlasste die Lokalregierung Ende Januar | |
zu einem drastischen Schritt: Sie versetzte die Stadt in einen kompletten | |
Lockdown. Es fuhren weder U-Bahnen noch Busse, auch die | |
Autobahnverbindungen wurden vollständig gekappt. Die Bewohner der | |
Millionenstadt waren 76 Tage lang in ihren Wohnungen eingesperrt. | |
## „Wenn man hart arbeitet, findet man zumindest was“ | |
Für Lehrer oder Beamte war die Ausnahmesituation zumindest wirtschaftlich | |
nicht existenzbedrohend, schließlich bekamen sie ihr Gehalt weiter | |
ausgezahlt. Auch viele Angestellte konnten im Homeoffice weiterarbeiten, | |
einige Jungunternehmer zudem im Internet neue Einkommensquellen | |
erschließen. Doch für die im Niedriglohnsektor Arbeitenden, also für Leute | |
wie Li Wei, bedeutete der Lockdown mehrere Monate Lohnausfall. | |
Ein Jahr später ist auf Wuhans Tagelöhnermarkt nur noch wenig von | |
Krisenstimmung zu spüren, auch wenn es im Vergleich zu der Zeit vor der | |
Pandemie etwas weniger Arbeit gibt. „Wenn man hart arbeitet, findet man | |
zumindest was“, sagt einer der Männer hier, der wie fast alle aus einem der | |
umliegenden Dörfer stammt und vorübergehend in einem ärmlichen Wohnheim | |
lebt. Der Altersdurchschnitt der Tagelöhner liegt bei 50 Jahren, die | |
Jüngeren ziehen zum Geldverdienen lieber in die Fabriken. Oft sind sie auch | |
besser ausgebildet und arbeiten in Büros. | |
Unter der Schnellstraßenbrücke hat sich in all den Jahren ein eigener | |
Wirtschaftskreislauf herausgebildet: Eine Frau frittiert auf ihrer Garküche | |
Pfannkuchen. Ein Verkäufer bietet am Bürgersteig auf einer Plastikplane | |
Ladekabel und Arbeitskleidung an. Und ums Eck warten Taxifahrer darauf, von | |
den Mittelsmännern als zusätzliche Fahrdienste zu den Baustellen angeheuert | |
zu werden. | |
Allmählich dämmert es, die meisten Arbeiter sind bereits zu ihren | |
Baustellen aufgebrochen. Ein 57-jähriger Mann wartet noch auf das richtige | |
Angebot, er ist aber zuversichtlich. Auf die Frage, wie lange er noch auf | |
dem Bau zu arbeiten beabsichtige, sagt er: „Ich habe keine | |
Sozialversicherung und habe ein Kind zu versorgen. Solange ich arbeiten | |
kann, werde ich es auch tun“. | |
## Alle paar Wochen ein neuer Wolkenkratzer | |
Dass in Wuhan allerorts günstige Arbeitskräfte gebraucht werden, ist auf | |
den ersten Blick ersichtlich: Die Stadt, die sich auf einer Fläche, doppelt | |
so groß wie Berlin, erstreckt, ist ein von Baustellen und Kränen | |
durchzogenes Häusermeer. | |
In nur wenigen Monaten werden ganze Barackensiedlungen abgerissen und durch | |
moderne Apartmentsiedlungen ersetzt. In der Innenstadt am Jangtse reiht | |
sich alle paar Wochen ein neuer Wolkenkratzer in die hochmoderne Skyline | |
ein, die nachts in Neonfarben leuchtet. | |
Rund 300 Millionen sogenannte Arbeitsmigranten gibt es in China. Sie ziehen | |
aus ländlichen Provinzen in die Städte, um Geld zu verdienen. Ein Sechstel | |
von ihnen arbeitet im Bausektor. „Infolge des demografischen Wandels wird | |
in den kommenden Jahren die Zahl der Arbeitsmigranten aber geringer“, sagt | |
Robin Xu, ein Infrastruktur-Experte, „auch im Bausektor.“ Immer weniger | |
Leute wollten die harte körperliche Arbeit auf sich nehmen. | |
Die Arbeiter und Arbeiterinnen, die das Land mit aufgebaut haben, werden | |
älter. Während der Wirtschaftskrise 2008 kurbelte der chinesische Staat die | |
Wirtschaft an, indem er Autobahnen und Schienennetze baute – mithilfe der | |
Arbeitsmigraten. In der Coronakrise spielen sie bei der wirtschaftlichen | |
Erholung nicht mehr eine so wichtige Rolle. | |
## Keine reine Erfolgsgeschichte | |
Während des Lockdowns Anfang 2020 ist Chinas Wirtschaft um historisch | |
einmalige 6,8 Prozent eingebrochen, in Wuhan sank die Wirtschaftsleistung | |
im selben Zeitraum gar um 40 Prozent. Doch da die Zahl der Infektionen | |
bereits im späten Frühjahr auf nahezu null gedrückt werden konnte, erholte | |
sich die Volkswirtschaft mit beeindruckender Geschwindigkeit. So ist Chinas | |
Bruttoinlandsprodukt im Krisenjahr um satte 2,3 Prozent gestiegen. Als | |
weltweit einziges großes Land 19hat China mit einem Plus abgeschnitten. | |
Doch die Pandemiebekämpfungsstrategie des Landes ist keine reine | |
Erfolgsgeschichte. Wie auch im Rest der Welt hat sich in China durch die | |
Pandemie die soziale Ungleichheit noch verschärft. Vor allem aber hat der | |
Konsum nur sehr verspätet wieder angezogen, was viele Kleinhändler nach wie | |
vor zu spüren bekommen. | |
So auch die Geschäftsleute in der Hanzheng-Straße, die in einem | |
Textilviertel liegt. Hier decken sich die weniger reichen Stadtbewohner | |
Wuhans mit Kleidung ein. Hunderte Geschäfte reihen sich aneinander, in | |
kleinen Eckläden kann man sich Anzüge maßschneidern lassen, Reizunterwäsche | |
und Pyjamas kaufen. Auf den Bürgersteigen haben einige Händler | |
Kleiderstangen mit Daunenjacken aufgestellt. | |
## Die Straße und das Einkaufszentrum | |
Eine Verkäuferin, die jeden Abend bis neun Uhr auf Laufkundschaft wartet, | |
sagt: „Früher waren die Straßen deutlich voller. Dass so wenige Kunden | |
kommen, hat auch damit zu tun, dass die Regierung die Leute dazu aufgerufen | |
hat, weiterhin zu Hause zu bleiben, wenn sie nicht unbedingt rausmüssen.“ | |
Obwohl sie ihre Preise gesenkt habe, werde sie ihre Ware kaum los. | |
Im gegenüber liegenden Hanzheng-Markt, einem neunstöckigen Einkaufszentrum | |
mit angeschlossenem „Food Court“, zeigen sich die Ladenbesitzer zumindest | |
leicht optimistisch. „Mit letztem Jahr ist die Situation nicht zu | |
vergleichen, aber es wird Schritt für Schritt besser“, sagt eine | |
Verkäuferin von Herrenmode. | |
23 Jan 2021 | |
## AUTOREN | |
Fabian Kretschmer | |
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