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# taz.de -- Pandemie-Management im Vergleich: Wir Gesättigten
> Viele hierzulande sind zu verwöhnt. Deshalb akzeptieren sie nötige
> Maßnahmen gegen die Pandemie nicht. Das verheißt nichts Gutes für
> künftige Krisen.
Bild: Demonstration gegen die Coronamassnahmen im Mai 2020 in Berlin
Noch im Sommer waren viele Bürger*innen fast ein bisschen stolz auf ihr
Land. Deutschland schien die erste Welle der Coronapandemie verhältnismäßig
glimpflich überstanden zu haben. Tatsächlich war die Zahl der Toten im
Vergleich etwa zu Frankreich, Spanien und Großbritannien sehr viel
niedriger. Es gab ausreichend Beatmungsgeräte, die Intensivstationen waren
nicht überlastet. Bilder von Lastern mit Leichen, wie sie aus Wuhan,
Bergamo und New York zu sehen waren, gab es nicht.
Dann kam der Herbst. Und die Vorteile, die sich Deutschland mit viel Glück
und einem rechtzeitig angeordneten Lockdown im Frühjahr verschafft hatte,
waren durch eine zu rasche Lockerung verspielt. Die Bürger*innen waren
zu leichtsinnig geworden. Urlaubsreisen ins Ausland und kleine Freiheiten
hatten dann doch Priorität.
Wie nun aus einer Studie des Lowy Institute im australischen Sydney
hervorgeht, hat Deutschland im Coronamanagement rückblickend denn auch nur
mittelmäßig abgeschnitten. Die Studie sieht die Bundesrepublik gerade mal
auf Platz 55 von insgesamt 98 bewerteten Ländern. Am besten schnitt
Neuseeland ab, auf dem letzten Platz landete Brasilien. Was auffällt:
Obwohl der Ausbruch in Fernost seinen Anfang nahm, erwiesen sich
insbesondere Länder im asiatisch-pazifischen Raum als sehr viel
erfolgreicher bei der Eindämmung der Pandemie. Länder wie Taiwan, Vietnam,
Südkorea und Australien schafften es durch konsequente Lockdowns sowie
umfassende Coronatests, die Ausbreitung des Virus weitgehend in Schach zu
halten. Abgesehen von weiterbestehenden strengen Einreisebestimmungen
verläuft das Leben in den meisten Ländern dieser Region wieder so wie vor
der Pandemie.
[1][China], wo das Coronavirus erstmals auftrat und die Regierung besonders
rigoros vorging, taucht im Ländervergleich des Lowy Institute nicht auf.
Den Forschern zufolge waren nicht genug Daten verfügbar. Auch wenn Chinas
Daten nicht verlässlich sind, ist doch bemerkenswert: Während die meisten
Länder Europas und die USA nun in den Wintermonaten von einem Lockdown in
den nächsten schlittern, hat [2][die Volksrepublik] nach zwei Monaten
harter Maßnahmen das Virus zumindest so weit unter Kontrolle gebracht, dass
die Wirtschaft wieder auf vollen Touren läuft, Schulen und Unis offen sind
und die Menschen kaum noch Einschränkungen erfahren. Chinas
Wirtschaftskraft wird Ende 2021 um 10 Prozent größer sein als vor der
Krise. Europas Wirtschaft hingegen wird schrumpfen – und wahrscheinlich
auch die der USA. Chinas Aufholjagd hat sich damit noch einmal drastisch
beschleunigt.
Stellt sich die Frage: Was ist schiefgelaufen? Warum scheint es vielen
hierzulande so viel schwerer zu fallen als Asiat*innen, simple
Verhaltensregeln zu befolgen, wie Menschenansammlungen zu meiden oder
Masken zu tragen? Ist es die oft behauptete Autoritätsgläubigkeit in
Fernost? Oder mangelt es vielleicht hierzulande einfach an Vernunft?
Der Ökonom [3][Clemens Fuest] vom Ifo-Institut lieferte im Gespräch mit
dieser Zeitung folgende Erklärung: Deutschland und die westlichen
Industrieländer seien „satte Wohlstandsgesellschaften“. Den Menschen gehe
es gut, sie seien daher nicht so leicht bereit, ihre Gewohnheiten zu
ändern. In weniger saturierten Ländern, die zudem in jüngerer Zeit noch
viel Wandel durchgemacht haben, sei das anders. Dort seien die Menschen
Veränderungen gewohnt. In anderen Worten: Wir im Westen sind zu verwöhnt.
Was sich daraus ableiten lässt: Nach drei Generationen des stetigen
Wohlstandsgewinns in den westlichen Industrieländern können sich viele gar
nicht mehr vorstellen, dass ein System auch kollabieren kann. An einem
solchen Punkt waren wir im Pandemiejahr zwar an keiner Stelle. Dass das
deutsche Gesundheitswesen nicht zuletzt nach Jahrzehnten des Sparens und
der Unterbezahlung seines Personals nun am Rande seiner Kapazitäten steht
und Patient*innen nicht mehr aufgenommen werden können – das war
zuletzt schon real. Wahrnehmen wollten viele das offenbar aber nicht.
## Widerspenstigkeit als Selbstzweck
Im Gegenteil: Wissenschaftlich begründete Warnungen vor genau einem solchen
Zustand wurden selbst im Herbst, als die Infektionszahlen wieder steil
anstiegen, als Alarmismus abgetan. Und auch jetzt erwecken die Stimmen
einiger noch immer den Anschein, Abstandsregeln und die Lockdownmaßnahmen
dienten der Schikane und nicht der Rettung von Leben. Wie Lobbyisten
schachern alle gesellschaftlichen Gruppen um die eigenen Vorteile, die
Umgehung von Maßnahmen wird zur Tugend erklärt. Wissenschaftliche
Erkenntnisse werden hingegen als staatsgläubig abgetan, dem Staat und
seinen Maßnahmen wird grundsätzlich misstraut. Widerspenstigkeit als
Selbstzweck.
Auch in asiatischen Ländern hat es im Verlauf der Pandemie viele Aufmüpfige
gegeben, die sich nicht an die Vorschriften gehalten haben. Trotzdem gibt
es dort in der öffentlichen Meinung einen viel breiteren Konsens darüber,
dass Abstandhalten, das Reduzieren von Zusammenkünften und Quarantäne zur
Eindämmung der Pandemie wichtig sind. Das Maskentragen wurde nicht gleich
ideologisiert wie etwa in den USA oder zerredet, wie es zu Beginn der
Pandemie auch hierzulande der Fall war.
Sind also nur autoritär geführte Gesellschaften zu so einem Verhalten in
der Lage? Abgesehen davon, dass man es sich mit so einer Frage sehr einfach
macht und nicht die Chance wahrnimmt, von Erfahrungen in Ostasien auch zu
lernen, steckt dahinter auch Überheblichkeit.
Diese Pandemie wird nicht die letzte Krise sein. Die Klimakrise hat gerade
erst begonnen, große Umwälzungen stehen im Zuge der Digitalisierung und
Globalisierung an, verbunden mit weiteren Verwerfungen. Sind gesättigte
Gesellschaften für diese Umwälzungen gewappnet? Der Umgang mit dieser
Pandemie lässt daran zweifeln.
1 Feb 2021
## LINKS
[1] /Doku-76-Days-ueber-Corona-in-China/!5743494
[2] /Coronakrise-in-der-Volksrepublik/!5748277
[3] /Interview-mit-Ifo-Chef-Clemens-Fuest/!5743217
## AUTOREN
Felix Lee
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