# taz.de -- Kinotipp der Woche: Moritat im Prunkzimmer | |
> Mit fast 80 produziert Rosa von Praunheim bis heute jedes Jahr mindestens | |
> einen Film. Das Kino Filmkunst 66 zeigt zwei Premieren. | |
Bild: „Die Nachtigall – Der grausame Sohn“ (R: Rosa von Praunheim, 2021) | |
Ein Sohn, der seine Mutter zuhause an einen Stuhl fesselt, weil sie droht, | |
ihn zu verlassen. 1986 brachte Rosa von Praunheim zwei seiner Stars, den | |
Straßensänger Friedrich Steinhauer und Luzi Kryn, bekannt aus Praunheims | |
„Die Bettwurst“, in einem Hörspiel zusammen, das auf einer Zeitungnotiz | |
beruhte. | |
Als die Coronapandemie zur Häuslichkeit zwang, griff Praunheim den Stoff | |
auf und verfilmte ihn. Der Anfang von „Die Nachtigall – Der grausame Sohn“ | |
entfaltet diese Vorgeschichte und endet damit, dass sowohl Steinhauer als | |
auch Kryn unterdessen verstorben sind. | |
Statt Steinhauer und Kryn werden Sohn und Mutter nun von dem Countertenor | |
Hubert Wild und der ehemaligen Studienrätin Ellen Reichardt gespielt. „Die | |
Nachtigall“ ist einer von zwei Filmen Rosa von Praunheims, die an den | |
kommenden Sonntagen [1][im Charlottenburger Kino Filmkunst 66 Premiere | |
feiern]. | |
Der Film beginnt wie ein Helge-Schneider-Film im Prunkzimmer. Die Mutter | |
eröffnet dem Sohn, sie habe einen Mann kennengelernt und beabsichtige, ihn | |
zu heiraten. Der Mann wolle jedoch nicht mit dem erwachsenen, aber | |
vollkommen unselbständigen Sohn in einer Wohnung leben. | |
Diese Mitteilung bringt im Sohn die nur oberflächlich unterdrückte | |
Aggression der repressiv-spießigen Mutter-Sohn-Beziehung zum Ausbruch. Die | |
Farce kippt in eine Moritat. Bei einer scheinbaren Versöhnung mit Likörchen | |
auf dem Plüschsofa lässt der Sohn die Mutter ein Schlafmittel trinken. | |
## Beeindruckend guter Pandemiefilm | |
Gedreht wurde in Praunheims Wohnzimmer, den Wohnungen von Nachbarn und | |
einer Kneipe. Der Film unterbricht die Handlung immer wieder zu | |
vermeintlich privaten Gesprächen mit den Darsteller_innen, in denen diese | |
über Probleme und Problemchen, Unwillen und Krampfadern Auskunft geben. | |
In seinem Rückgriff auf das fast 40 Jahre alte Hörspiel ist „Die | |
Nachtigall“ ein beeindruckend guter Pandemiefilm. Der Wechsel zwischen der | |
Erzählung von den psychischen Abgründen und dem scheinbar privaten | |
Austausch über Triviales findet er Bilder für die klaustrophobe Stimmung | |
einer Gesellschaft, die sich einschließt und gleichzeitig Zugewandtheit | |
simuliert. | |
„Hirschensprung“, der zweite der Filme ließe sich am ehesten als | |
exaltiertes Soap-Sex-Musical beschreiben. Christiane Ziehl als sexsüchtige | |
Mittsechzigerin und Rosa von Praunheim als rollatorschiebender Baron geben | |
sich in der Brandenburger Provinz als Adelspaar aus. Die beiden sind sich | |
spinnefeind. Das einzige, was sie zusammenhält, ist die Kindheit in einem | |
Waisenhaus in der DDR und die Aussicht des Barons, seine Schwester zu | |
beerben. | |
Das einzige, was sie sich zu erzählen haben, sind Anekdoten über ihre | |
Affären mit Personen der DDR-Führung. Die Gräfin hat eine Dauerbeziehung | |
mit ihrem Gärtner, einem Nudisten mit Tendenz zum Rechtsradikalen. Der | |
Gärtner wird zum Problem, als der Gesangslehrer des Barons in der Garage | |
des Anwesens eine schwarze, junge Frau entdeckt. | |
## Spiel mit den Klischees | |
Bedauerlicherweise versucht Praunheim, die Trivialität des Films durch ein | |
Spiel mit rassistischen Vorurteilen gegenwartsrelevant erscheinen zu | |
lassen. Bei diesem Spiel mit den Klischees kommt sich der Film regelmäßig | |
reflektierter vor als er ist. Und auch sonst schleppt sich der Film in | |
jeder Hinsicht. | |
Mit fast 80 Jahren produziert Rosa von Praunheim bis heute jedes Jahr | |
mindestens einen Film. Wie im Falle der beiden Filme, die das Filmkunst 66 | |
Ende Mai präsentiert, sind die Filme von durchaus wechselnder Qualität. | |
Trotzdessen gelingt es Praunheim routiniert, Fans und Filmförderungen | |
gleichermaßen bei der Stange zu halten. | |
Diese Routine ist kein kleines Verdienst, die gelungeneren wären ohne die | |
weniger gelungenen kaum entstanden. Entsprechend tut man gut daran, die | |
Filme jenseits von allem als Teil des Gesamtphänomens Rosa von Praunheim zu | |
sehen. | |
18 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.filmkunst66.de/film/rosa-von-praunheim-zeigt-seine-neuesten-fil… | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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