| # taz.de -- Internationale Kurzfilmtage Oberhausen: Trampelpfade verlassen | |
| > Das Filmfestival überzeugte mit Vielfalt. Sie zeigte die Welt in Formen | |
| > der Abstraktion bis strenger Kurzdoku und eröffnet damit neue | |
| > Perspektiven. | |
| Bild: Die visuelle Gestaltung selbst trägt den Film: „Xiuhtecuhtli“ von Co… | |
| Zu perkussiver Musik blitzen vor dunklem Hintergrund organische Formen im | |
| dunklen Kino auf. Rhythmisch zucken die schnell geschnittenen, kurzen | |
| Sequenzen von „Xiuhtecuhtli“ über die Leinwand. Nach einigen Minuten | |
| ergänzen ratschende Geräusche die Perkussion, die Lautstärke der Tonspur | |
| beginnt zu wabern, wird lauter und leiser. | |
| Das Bild blitzt über die ganze Fläche weiß auf, färbt sich allmählich warm | |
| orange, wird rot, der Hintergrund wird wieder dunkler, die Formen zucken | |
| nun grün, weiß, rot. Töne wie von leeren Glasflaschen füllen die | |
| rhythmischen Ebenen der Tonspur weiter. Vereinzelt zuckt es bläulich in die | |
| Bilder hinein. Einige der Formen werden als Knochen, andere als | |
| Pflanzenteile erkennbar. | |
| „Xiuhtecuhtli“ vom mexikanischen Kollektiv Los Ingrávidos ist benannt nach | |
| dem aztekischen Gott des Feuers, der Wärme und des Lichts. Der Film war | |
| Teil des Internationalen Wettbewerbs der diesjährigen, 69. Ausgabe der | |
| Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen. | |
| In ästhetischer Hinsicht steht „Xiuhtecuhtli“ für all das, was die | |
| Kurzfilmtage seit Jahrzehnten für Besucher_innen lohnenswert macht. Die | |
| Formenvielfalt in Oberhausen ist so groß, dass das einzige verbleibende | |
| Kriterium ist, ob ein Film in sich funktioniert. Und während Filme sonst | |
| oft von ihrer Handlung mal besser, mal schlechter zusammengehalten werden, | |
| ist es angesichts der formalen Offenheit in Oberhausen oft die visuelle | |
| Gestaltung selbst, die den Film trägt. | |
| „Xiuhtecuhtli“ zum Beispiel konstruiert aus seinen wenigen | |
| Gestaltungselementen Schwarzweißbilder, Farben und Perkussion eine | |
| Dramaturgie, die den Film strukturiert und trägt. Die Programme in | |
| Oberhausen zwingen dazu, Filme an sich selbst zu messen. | |
| ## Shootingstars der Experimentalfilmszene | |
| Los Ingrávidos sind so etwas wie Shooting Stars der Experimentalfilmszene | |
| und derzeit sehr präsent auf den Kurzfilmfestivals der Welt. Möglich ist | |
| das auch wegen der unglaublichen Produktivität des Kollektivs. Ihr | |
| Weltverleih Light Cone listet allein etwa 50 Filme, die 2022 entstanden | |
| sind. In der Selbstbeschreibung des Kollektivs heißt es, es sei „entstanden | |
| aus dem Bedürfnis, die audiovisuelle Grammatik offenzulegen, deren sich die | |
| Ästhetik des Korporatismus des Fernsehens und Kinos bedient.“ | |
| Die Filmwissenschaftlerin und Filmemacherin Raquel Schefer hat den Ansatz | |
| des Kollektivs unlängst in der Zeitschrift Jump Cut so zusammengefasst: | |
| „Ihre Arbeit steht für eine Kombination aus politischem Engagement und | |
| ästhetischer Findigkeit.“ | |
| Zu den visuell klassischsten Filmen, die in Oberhausen laufen, gehören die | |
| Kurzdokumentarfilme. Das gilt auch für den gut 20-minütigen Film des | |
| [1][ukrainischen Regisseurs Oleksiy Radynski], der in diesem Jahr den | |
| Hauptpreis des Festivals, den Großen Preis der Stadt Oberhausen, gewonnen | |
| hat. | |
| „Chornobyl 22“ zeichnet die Besetzung der Atomkraftwerksruine von | |
| Tschernobyl zu Beginn der russischen Invasion im letzten Jahr nach. | |
| Handyvideos zeigen Konvoi um Konvoi, die über das Gelände rollen, in | |
| Interviews kommen die ukrainischen Mitarbeiter der Kraftwerksruine zu Wort. | |
| ## Sehenswertes aus Südafrika und Kolumbien | |
| Andere Kurzdokumentarfilme widmeten sich der Geschichte der Universität | |
| Stellenbosch in Südafrika, die nach der Einführung der Apartheid auf | |
| enteigneten Grundstücken schwarzer Familien errichtet wurde, („What the | |
| Soil Remembers“, José Cardoso) oder dem informellen Filmvertrieb in | |
| Tansania („Apostles of Cinema“, Gertrude Malizana, Jesse Gerard Mpango, | |
| Cece Mlay, Darragh Amelia). | |
| Die eindrucksvollste Szene aus einem Kurzdokumentarfilm auf dem | |
| diesjährigen Festival stammt aus „A menos que bailemos“ („Unless We Danc… | |
| von Hanz Rippe Gabriele und Fernanda Pineda Palencia, der im | |
| Jugendwettbewerb lief. „Unless We Dance“ zeigt eindrucksvoll die Arbeit | |
| einer Tanzcompagnie, die Jugendlichen in Quibdó, der Stadt mit der höchsten | |
| Mordrate in Kolumbien, Perspektiven bieten soll. | |
| Im Abspann zu dem Film füllt sich die Leinwand allmählich mit den Namen all | |
| jener, die während der Dreharbeiten ermordet wurden. Irgendwann wird einem | |
| als Zuschauer_in klar, dass die ganze Seite am Ende voll sein wird. 25 | |
| Zeilen, fünf bis sechs Namen pro Zeile. Im Gespräch nach dem Film wies der | |
| Regisseur dann noch darauf hin, dass dies nur die Namen derer sind, deren | |
| Familie einer Veröffentlichung zugestimmt hätten. | |
| ## Neue Perspektiven | |
| Unter den narrativen Filmen fiel David Gašos „Niska trava“ („Short Cut | |
| Grass“) auf. In Gašos Film eskaliert ein Fangenspiel im Hochsommer. Kinder | |
| klettern in Kofferräume von anderen Familien, die gerade in Urlaub fahren, | |
| besetzen Häuser als Versteck. Parallel ereignen sich in der Welt der | |
| Erwachsenen, die ihnen als mögliches Versteck und Logistiknetzwerk für den | |
| Notfall dient, Unfälle, Familienstreite und die Entdeckung sexueller | |
| Welten. „Niska trava“ zeigt die brütende Hitze des kroatischen Sommers mit | |
| leisem, liebevollen Humor für seine minderjährigen Protagonisten. | |
| Experimentalfilmfestivals wie die Kurzfilmtage helfen Zuschauer_innen, | |
| die eigenen Sehgewohnheiten und Urteilskriterien bei jeder Festivalausgabe | |
| zu hinterfragen. In einem der Filme aus einem Programm zu argentinischen | |
| Experimentalfilmpionierinnen von Federico Windhausen spricht der deutsche | |
| Filmemacher Werner Nekes davon, dass man als Filmemacher in der Begegnung | |
| mit dem, was man filmt, immer Gefahr läuft, den eigenen Trampelpfaden zu | |
| folgen. Die Kurzfilmtage zwingen einen als Zuschauer, die Pfade zu | |
| verlassen, auf denen man Filmen gewohnt ist hinterher zu trotten. Sie | |
| belohnen für diesen Aufwand mit neuen Perspektiven auf die Welt. | |
| Der Aufenthalt des Autors bei den Kurzfilmtagen wurde vom Festival | |
| unterstützt. | |
| 5 May 2023 | |
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| [1] /Russland-und-Ukraine-dekolonialisieren/!5839859 | |
| ## AUTOREN | |
| Fabian Tietke | |
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