# taz.de -- Virtuelle Kurzfilmtage Oberhausen: Lächelnd in den nächsten Film | |
> Die Internationalen Kurzfilmtage öffnen sich als online geschaltetes | |
> „Blogfestival“ einem theoretisch unbegrenzten Publikum. | |
Bild: Szene aus „Labor of Love“ von Sylvia Schedelbauer | |
Am Morgen auf der japanischen Insel Okinawa: Während die Mutter zusieht, | |
dass die Kinder ihr Frühstück essen, schafft es Papa erst nach der Zeitung | |
aus dem Bett und scharwenzelt dann Opernmelodien trällernd um die Mutter | |
herum. Die Kinder bringen schnell schützend den Vorhang zwischen sich und | |
das Treiben. | |
Chikako Yamashiros halbstündiger Film „Chinbin Western, Representation of | |
the Family“ ist Teil des ersten Programms des Wettbewerbs der diesjährigen | |
[1][Internationalen Kurzfilmtage]. Diese finden in diesem Jahr wie so viele | |
Festivals nicht in der schönen Lichtburg in Oberhausen, der umgebenden | |
Fußgängerzone und den Satellitenspielorten statt, sondern als | |
Onlinefestival. | |
Doch was die Kurzfilmtage da online präsentieren, ist keine notdürftige | |
Alternative zu einem Festival, sondern ein komplettes Onlinefestival. So | |
gibt es neben sämtlichen Wettbewerben auch den Großteil der | |
Sonderprogramme, und selbst die Festivalpartys finden einen Abglanz online, | |
indem jeden Abend ein DJ-Set online geht. Ebenfalls Teil des | |
Eröffnungsprogramms ist der halluzinatorische Kurzfilmwestern „A Song Often | |
Played on the Radio“ von Raven Chacon und Cristóbal Martínez. Der Film ist | |
bildgewaltiges Epos, Geschichtslektion und Identitätssuche. | |
Die Schwelle, um an dem Onlinefestival teilzunehmen, ist denkbar niedrig. | |
Für knapp 10 Euro, dem Preis eines einzigen regulären Kinotickets, kann man | |
einen Festivalpass für das komplette Festival erwerben. Die Programme | |
werden nach und nach online gestellt und sind jeweils für 48 Stunden | |
sichtbar. | |
## Hilfe für Filmemacher_innen in sozialer Notlage | |
Die Erlöse aus dem Verkauf der Festivalpässe gehen an die Stiftung | |
Sozialwerk der VG Bild Kunst, die ihrerseits Filmemacher_innen und | |
visuellen Künstler_innen in sozialen Notlagen hilft. Alle, denen Oberhausen | |
immer zu weit weg war, haben also in diesem Jahr die Chance, sich einmal in | |
der weiten Welt des Kurz- und Experimentalfilms umzusehen. | |
Gleich mehrere Filme kreisen um den britischen Nationalismus im Zuge des | |
Brexits. Fergus Carmichael filmt in „A Thin Place“ die Sommersonnenwende am | |
Glastonbury Tor in der Grafschaft Somerset und dokumentiert ein seltsames | |
Zusammentreffen von Kristallanbetern, esoterischem Getrommel und | |
Fotowilligen in einer für die englische Identität symbolisch aufgeladenen | |
Landschaft, während die Sonne über den Horizont heraufsteigt. | |
Ganz anders geht Krzysztof Honowski in seinem Kurzfilm „Beasts of No | |
Nation“ das Thema an. Der Film beginnt mit Bildern der Einsamkeit. Ein Mann | |
erklimmt den steilen Anstieg einer Achterbahn, ein Wagen nähert sich auf | |
der Achterbahn allmählich dem höchsten Punkt. Die Bilder weichen | |
bengalischen Feuern, zwischen denen sich Menschenmengen erahnen lassen. Im | |
Text, den die weibliche Erzählstimme vorträgt, verdichten sich Bilder aus | |
der Erinnerung mit Erfahrungen rassistischer Ablehnung. | |
Der als Kind polnischer Einwanderer in London geborene Regisseur Krzysztof | |
Honowski lebt heute in Deutschland. Sein Film ist deutlich als Versuch | |
erkennbar, sich dem aufflammenden Nationalismus in Polen und Großbritannien | |
zu nähern. Spielerisch lässt Honowski die Erzählung der Kommentarstimme | |
scheitern. | |
## Ritual der Selbstvergewisserung | |
Auch Heather Trawicks Beitrag zum Internationalen Wettbewerb, „Isn’t It a | |
Pity“, kreist um ein Ritual der Selbstvergewisserung, statt esoterischem | |
Sonnengucken gibt es bei Trawick jedoch Staub, Dreck und Schrott bei | |
Demolition Derbys. Konzentriert, beinahe liebevoll knien die beiden Männer | |
neben dem Wagen und sprayen „Jesus“ auf die Seitentüren, einer ist gerade | |
dabei, die Umrisse der Schrift mit weißer Sprühfarbe zu füllen. Inmitten | |
des Trubels der Schrottrennen kehrt der Film immer wieder zu den Crews | |
zurück, die die Autos am Laufen halten. | |
Das Tolle an Trawicks Film ist, dass er als Parabel auf politische | |
Konstellationen genauso gut funktioniert wie in Bezug auf das Gezeigte. Die | |
Hingabe und der körperliche Einsatz, mit dem die Autos aufgehübscht und | |
immer wieder flottgemacht werden, nur um sie in einen immer unerkennbareren | |
Blechklumpen zu verwandeln, hat etwas Hinreißendes. Trawicks Film steht | |
denn auch für etwas, das die Kurzfilmtage auszeichnen: Kunst da zu finden, | |
wo man sie nicht vermutet. | |
In ganz anderer Weise gilt das auch für den neuesten Film von Rainer | |
Knepperges, „Play Me That Silicon Waltz Again“. Knepperges unterlegt die | |
rudimentäre Animation eines Defragmentierprogramms aus der grauen | |
Vergangenheit von Microsoft Windows mit einem Walzer. Die Technikgeschichte | |
verflossener Betriebssysteme scheint ebenso auf wie die minimalistische | |
Grafik von Computerspielen der vergangenen Jahrzehnte wie Tetris. | |
Durch die Leichtigkeit des Films hindurch klingt nicht zuletzt dank der | |
Musik der Humor von Filmklassikern wie Tatis Technologiegroteske „Mon | |
oncle“ an. In knapp vier Minuten bläst Knepperges uns einmal die | |
Gehirnwindungen durch und entlässt die Zuschauer mit einem Lächeln in den | |
nächsten Film. | |
## Film existiert auch jenseits des Spielfilms | |
Einmal im Jahr erinnern die Kurzfilmtage die Besucher_innen daran, | |
dass lange Filme, dass Spielfilme nicht die einzige Art Film sind, dass | |
Narration, psychologische Beziehungen zwischen Figuren nicht die einzige | |
Art sind, Filme zu strukturieren. Die Filme der Kurzfilmtage erinnern immer | |
wieder aufs Neue daran, dass jedes Element, aus dem Filme bestehen: der | |
Ton, das Bild, die Texteinblendungen, die Erzählstimme, in der Lage ist, | |
tragend zu werden für einen Film, im filmischen Alltag aber allzu oft dazu | |
verdammt ist, sein Potenzial zu verschlafen. | |
Die britische Experimentalfilmerin Jayne Parker etwa inszeniert in einer | |
kurzen Studie die spektakuläre Schönheit der Amaryllis. Sylvia Schedelbauer | |
schafft gewohnt bildgewaltig in ihrem neuesten Film, „Labor of Love“, einen | |
Sog der Bilder. | |
Der Protagonist von Faris Alrjoobs „The Ghosts We Left At Home“, der an der | |
Kölner Kunsthochschule für Medien entstand, ist einen Schritt vor dem | |
Aufbruch. Während der morgendlichen Zigarette lässt er den Blick schweifen | |
über das jordanische Amman im Morgenrot. Die Rufe der Imame mischen sich | |
mit den Geräuschen des Verkehrs. | |
Ali ist in Trauer, füllt seine Tage mit alltäglichen Verrichtungen und | |
Warten. Er wohnt in einem etwas heruntergekommenen Motel. Sein Blick wirkt | |
abwesend. Nicht eingelöste Pläne markieren einen Aufbruch, der sich | |
abzeichnet. Sein Frisör nimmt ihm nicht länger all das ab, was er angeblich | |
vorhat und nie umsetzt. | |
## Würdiger Umgang mit der Krise | |
„Meine Tränen erinnern mich an dich. Ich kehre zurück, und wenn ich dich | |
sehe, kommt die ganze Welt mit dir zu mir“: Bevor Abdelhalim Hafez’ | |
Klassiker „Ahwad“ über der Schlusssequenz des Films erklingt, erlöst ein | |
Treffen Ali schließlich doch aus der Vergangenheit, in der er gefangen ist. | |
Das Onlinefestival der Kurzfilmtage ist eine würdige Art des Umgangs mit | |
der Krise, in die das Coronavirus die deutschen Kinos gestürzt hat. Als | |
Ausnahmelösung in einer Ausnahmesituation ist es eine hervorragende Lösung, | |
und vielleicht entdecken ja aus der Ferne tatsächlich ein paar neue | |
Zuschauer_innen, wie sehr die Kurzfilmtage einen Besuch belohnen. | |
Beim Sichten daheim besteht die größte Hürde darin, den Filmen mit jener | |
Konzentration zu begegnen, die man ihnen im Kino entgegenbringt. Das | |
sensorische Erleben, wenn das Licht von der Leinwand in den dunklen Raum | |
zurückstrahlt, wird dieses Mal schwer nachzuahmen sein. Nächstes Jahr gibt | |
es all dies hoffentlich wieder in Oberhausen in der Fußgängerzone. | |
12 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.kurzfilmtage.de/blog-festival-2020/ | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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