# taz.de -- Globales Filmfestival auf Youtube: Das Wasser, das aufwärts fließt | |
> Das Filmfestival „We Are One“ zeigt bis 7. Juni auf Youtube ein Programm | |
> aus überraschenden Filmen mit ungewöhnlichen Geschichten. | |
Bild: Der Film „Inabe“ von Koji Fukada erzählt von einer Patchworkfamilie … | |
Von Mittwoch an laufen in Deutschland wieder die ersten Filme im Kino, | |
unter Sicherheitsauflagen und noch nicht in allen Bundesländern. Mit | |
„flexiblen“ Kinostarts reagieren die Verleihe auf die föderal | |
uneinheitlichen Regelungen, um den Kinos, die öffnen dürfen, überhaupt ein | |
wenig Programm und Publikum zu ermöglichen. Derweil sind Filmfestivals rund | |
um die Welt in Habachtstellung, ob sie später im Jahr noch abgehalten | |
werden können, oder probieren sich als Online-Ausgabe. | |
So gibt es seit dem 29. Mai mit „We Are One“ erstmalig ein „globales | |
Filmfestival“ auf Youtube, frei anzusehen. Täglich wechselt das Programm | |
aus Kurz-, Spiel- und Dokumentarfilmen oder aufgezeichneten | |
Künstlergesprächen. Der Großteil bleibt für einen Tag abrufbar, vereinzelt | |
finden sich im Programm Livestreams, die nach dem Ende des Films erlöschen. | |
Insgesamt 21 internationale Filmfestivals, [1][darunter Cannes, Venedig und | |
die Berlinale,] stellen für zehn Tage 100 Beiträge zur Verfügung, teils aus | |
älteren Festivalausgaben, hier und da gibt es Weltpremieren. Am Sonntag, | |
dem Abschlusstag von „We Are One“, feiert etwa Joan Chens Dokumentarfilm | |
„Iron Hammer“ über die chinesische Volleyballspielerin „Jenny“ Lang Pi… | |
seine Weltpremiere – auf Youtube. | |
Das Schöne an dieser Festivalidee, die gemeinsam von Tribeca Enterprises, | |
dem Veranstalter des Tribeca Film Festivals, und Youtube ins Leben gerufen | |
wurde, ist die Möglichkeit, für begrenzte Zeit ein kuratiertes Kinoprogramm | |
unterschiedlichster Herkunft zu sehen. Durch die zeitlichen Beschränkungen | |
entsteht mit ein bisschen gutem Willen sogar eine Art Festival-Gefühl. Man | |
könnte jedoch ebenso gut sagen: Das Zuschauen am heimischen Bildschirm | |
unterscheidet sich unwesentlich vom gewohnten Streamen, erfordert lediglich | |
mehr Selbstdisziplin. | |
## Dreikäsehohe Kung-Fu-Kämpfer | |
Vielfalt kann die Auswahl durchaus für sich beanspruchen. Am ersten Tag gab | |
es unter anderem vom Toronto International Film Festival die [2][ugandische | |
Action-Parodie „Crazy World“ von Nabwana IGG] zu sehen, eine | |
No-Budget-Produktion, in der sich dreikäsehohe Kung-Fu-Kämpfer gegen | |
Kindesentführer zur Wehr setzen. Nabwana IGG, der als Regisseur, Produzent, | |
Drehbuchautor, Kameramann und Cutter verantwortlich zeichnet, lässt | |
Slapstick-artige Kampfszenen mit cartoonhafter Gewalt und sehr, sehr | |
billiger Computerspielästhetik zu einem auf krude Weise witzigen Ganzen | |
verschmelzen, selbstverständlich kommentiert er seinen Film dabei | |
durchgehend aus dem Off. | |
Das ernste Anliegen hinter der albernen Präsentation: Bis heute sind | |
Kindesentführungen in Uganda, wo allein die [3][Lord’s Resistance Ar]my auf | |
diesem Weg zahllose Kindersoldaten rekrutierte, an der Tagesordnung. | |
Entspannter sowohl vom Thema als auch von der Gestaltung her zeigt sich der | |
Dokumentarfilm „Rudeboy: The Story of Trojan Records“, den das BFI London | |
Film Festival ebenfalls am Eröffnungstag beisteuerte. Die [4][bewegte | |
Geschichte des britischen Labels Trojan,] das die Musik Jamaikas nach | |
England holte und von dort aus Ska, Rocksteady und Reggae in die Welt | |
brachte, erzählt der Regisseur Nicolas Jack Davies mit elegant | |
zusammengeschnittenen Archivbildern, Interviews und nachgestellten Szenen. | |
Leider will er zu viele Aspekte, von Migration über Rassismus bis hin zum | |
ökonomischen Niedergang des Plattenlabels im Jahr 1975, auf zu engem Raum | |
unterbringen, was die Schilderung unnötig verwirrt. Die Musik bleibt davon | |
unbeschadet. | |
## Angst vor den Affen | |
Eine stille Sozialsatire lieferte am zweiten Tag das Mumbai Film Festival | |
mit Prateek Vats’ Debütspielfilm „Eeb Allay Ooo!“. Sein Protagonist Anja… | |
(Shardul Bhardwaj) ist ein junger Migrant, der einen Job als staatlich | |
angestellter Affenvertreiber in Neu-Delhi antritt, um festzustellen, dass | |
ihm die Rhesusaffen, die er von Regierungsgebäuden fernhalten soll, Angst | |
einjagen. Statt temporeichem Klamauk wählt Vats, dessen Film im Frühjahr | |
erst auf der Berlinale lief, lange Einstellungen, in denen sich die Tiere | |
gemütlich tummeln und als genauso hartnäckig erweisen wie die | |
gesellschaftliche Hierarchie, an deren unterem Ende Anjani auf verlorenem | |
Posten kämpft. | |
Nach Angola führt am Sonnabend dann „Air Conditioner“, das Spielfilmdebüt | |
von Fradique, bereitgestellt vom International Film Festival Amsterdam. | |
Eine Geschichte über Klimaanlagen, die sich in Luanda selbstständig zu | |
machen beginnen und ohne Vorwarnung von Gebäuden herabstürzen. Was schon | |
mal ein ungewohntes Sujet ist. | |
Am zahlreichsten im Spielplan vertreten sind übrigens Kurzfilme. Und auch | |
wenn nicht alles darunter zwingend oder ästhetisch überzeugend sein mag, | |
lohnt das Stöbern. Der gut halbstündige Film „Inabe“ von Koji Fukada zum | |
Beispiel verdichtet das Thema Patchworkfamilie mit Elementen des | |
Fantastischen zu einer unaufdringlich überraschenden Geschichte, in der ein | |
aufwärts fließender Wasserfall nicht die einzige Merkwürdigkeit bleiben | |
wird. Hier erweist sich das zwanglose Online-Angebot als dankbare | |
Aufforderung, selbst für kurze Zeit in unbekannte Bildwelten einzutauchen – | |
egal, in welche Richtung. | |
3 Jun 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Iranischer-Film-gewinnt-die-Berlinale/!5668002 | |
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## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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