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# taz.de -- Doku über Prä-Brexit-England: Amsterdam ist eh näher
> Der Dokumentarfilm „Seaside Special“ von Jens Meurer erkundet das
> Vereinigte Königreich kurz vor dem Brexit. Mit Witz hält man gegen
> Polit-Stress.
Bild: Die Haltung der exzentrischen Zwillingsschwestern Polly and Sophie Duniam…
„Hollywood comes to Cromer“, erklärt Impresario Olly Day zwei
alteingesessenen Passanten vor den pastellfarbenen Strandhütten des
Städtchens die Filmcrew, die ihn gerade in den Blick der Kamera nimmt. Doch
es ist nicht Spielberg oder Tarantino, sondern der gestandene [1][deutsche
Dokumentarfilmer und Produzent Jens Meurer („Jeckes“, „An Impossible
Project“)], der an der Küste von North Norfolk dreht.
Dabei steht unter anderem der viktorianische Pier des Badeortes im Fokus,
der neben dem Strand eine der größten Attraktionen für den lokalen
Tourismus ist. Diese wiederum lockt, abgesehen vom Flanieren auf den hellen
Holzplanken zwischen frisch gefangenen Krabben und historischem
Stadtmobiliar, mit dem ganz am Ende des Piers im Gebäude des „Pavilion
Theatre“ angesiedelten „Cromer Pier Show Special“.
Hier kommt über die Saison in bester englischer Varieté-Tradition ein aus
Stand-up-Comedy, Zauberkünsten, steppenden Damenbeinen, Arien, „Wizard of
Oz“-Songs und viel viel Abba-Cover-Auftritten zusammengepuzzeltes Programm
auf die Bühne – drei Monate sechs Tage in der Woche zwei Shows am Tag vor
vollem 500-Plätze-Haus. Es sei die letzte noch existierende derartige
End-oftThe-Pier-Show, so der altgediente musikalische Direktor Nigel Hogg.
Der ist nur einer von den vielen Aktiven der Schau, die von Meurer vor die
Kamera geholt werden, darunter auch Regisseurin Di Cooke, die ein halbes
Jahr an der Vorbereitung plant und feilt. Gestemmt wird die Show gemeinsam
von angereisten Profis und gecasteten einheimischen Tänzerinnen und
Kindertalenten.
Meurer – dessen Familie zu einem Teil aus Großbritannien kommt und der
unter anderem mit Boris Johnson in Oxford studierte – hatte an diesem
speziellen Ort und dem sympathisch altmodischen Spektakel schon länger
Gefallen gefunden. Und dann in der Saison 2019 durch den unaufhaltsam
nahenden Brexit auch einen konkreten zeitlichen Anlass und Rahmen gefunden,
Ort und Truppe ein filmisches Denkmal zu setzen. Dass dies zeitlich noch
vor dem Corona-Einbruch war, fällt heute auch auf wegen der vielen Küsschen
zwischen den beteiligten Künstlerinnen und Künstlern.
## Brexit und Parteienquerelen vermeiden
Während der politischen Wirren dieser Zeit war die Show ein Fluchtpunkt vor
der politischen und gesellschaftlichen Zersplitterung in Großbritannien.
Doch zugleich ist sie Schauplatz dieser Konflikte, auch wenn Produzent Rory
Holburn vor den Proben die Parole ans Team ausgab, sich von Brexit und
Parteienquerelen fernzuhalten – außer für einen guten Gag.
In der Erzählung des Films wird die konkrete politische Entwicklung des
Jahres 2019 von den wiederholten Abstimmungsniederlagen Theresa Mays bis zu
den Neuwahlen im Dezember parallel zu der konzeptuellen Entwicklung, den
Vorbereitungen wie auch den Proben der Show geführt.
Dabei ist die Lage in Bevölkerung und Team gespalten wie im ganzen Land. In
North Norfolk („Quintessential Great Britishness“ nennt jemand die hier
dominante Haltung) haben 2016 zwei Drittel für den Brexit gestimmt, von
denen einige im Film zu Wort kommen: Ein elter Fischer etwa, der mit Meurer
ins Meer hinausfährt und erklärt, dass das „Great“ vor Britain ja nicht
umsonst dort stehe.
Andere fühlen sich gerade hier am östlichen Außenrand des Inselstaats als
Europäer, schließlich sei Amsterdam näher als London. Und wenn man den
Verlauf des Piers über das Meer verlängern würde, käme man wohl nach ganz
viel Nordsee ungefähr bei Oslo an.
## Nach Köln auswandern
In der Truppe bekennt sich einer als „Boris-Man“, während ein anderer
meint, Gott wolle mit dem Polit-Stress den Sinn der BritInnen für Humor
testen. Einer der Schauspieler plant, längerfristig mit seinem deutschen
Freund nach Köln („meine Lieblingsstadt“) auszuwandern.
Und zwei junge exzentrische Tänzerinnen wollen mit ihrem Oldtimer-Wohnmobil
eine große „Fuck the Brexit“-Europatour machen und vielleicht nach Hamburg
übersiedeln. Schade nur, dass der Wagen trotz edler perlweiß-matter
Innenausstattung bis jetzt keinen Motor und die beiden Mädels auch keinen
Führerschein haben.
Passend zu solch erlesen historischem Stil der analoge 16-mm-Schmelz des
Filmmaterials, das die Kameramänner Bernd Fischer und Torsten Lippstock mit
nostalgischen Licht- und Farbstimmungen tränken. Eine letzte
Liebeserklärung an das scheidende Großbritannien nennt Meurer seinen Film,
der mit ironischen Montage-Momenten und der zitatreichen Musik der manchmal
herrlich schrägen belgischen Steve-Willaert-Brass-Band auch in der Machart
mit britischem Humor ausgestattet ist.
Das Personal sprüht sowieso vor Witz. Doch auch in der Truppe geht es am
Schluss der Saison ans gegenseitige Abschiednehmen. Noch setzt man auf das
Wiedersehen nach der erhofften Buchung zum nächsten Jahr. Heute wissen wir,
dass diese nicht kam. Gewidmet ist der Film dem Comedian Paul Eastwood, der
starb, als er während der Covid-Pause 2021 von einem Gerüst vor seinem Haus
stürzte.
20 Jan 2023
## LINKS
[1] /Dokumentarfilm-An-Impossible-Project/!5826046
## AUTOREN
Silvia Hallensleben
## TAGS
Dokumentarfilm
Schwerpunkt Brexit
Großbritannien
Show
Dokumentarfilm
Filmfestival
Spielfilm
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