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# taz.de -- Britischer Spielfilm „Bait“: Klassenkampf an der Küste
> Fischen oder Touristen herumschippern? Mark Jenkin hat mit seinem
> Schwarz-Weiß-Abenteuer „Bait“ den britischen Film der Stunde gedreht.
Bild: Martin und Billy Ward kämpfen in „Bait“ gegen Gentrifizierung
„Buy the boat.“ Wie ein Mantra wird der Satz immer wieder wiederholt.
Martin, der Angesprochene, hat es bitter nötig. Ein Fischer ohne Boot,
hängt er seine Netze notgedrungen am Strand im Wasser aus, wirft Käfige in
die Hafenbucht. Der Ertrag ist gering. Für das, was er will, reicht es
kaum. Was er will, steht auf der Keksdose, in der er seine Einkünfte
anspart: „Boat“.
Denn den Kutter des verstorbenen Vaters nutzt der Bruder Steven inzwischen,
um Touristen auf halbstündige Fahrt mitzunehmen. Zeigt ihnen die Küste von
Cornwall oder lässt eine Junggesellengesellschaft auf Sauftour zu Wasser
gehen. Martin kann den Anblick kaum ertragen. Denkt daran, wie sich der
Vater im Grab umdrehen würde. Womit der Bruderkonflikt dieser Geschichte
hinreichend umrissen wäre. Wie auch der Film selbst wenige Worte und Gesten
braucht, um zu erzählen, Dinge sich zuspitzen zu lassen und auf größere
Themen zu sprechen zu kommen.
„Bait“ ist der jüngste Spielfilm des englischen Filmemachers Mark Jenkin.
Im Frühjahr war er eine der Überraschungen im Programm der Berlinale, wo er
seine [1][Premiere in der Sektion Forum] hatte. Schwarz-Weiß auf 16 mm
gedreht, wirken die Aufnahmen wie aus einer vergangenen Zeit, scheint der
Film mit seinem leichten weißen Rauschen schon etwas Patina angesetzt zu
haben. Statt die Bilder einer nostalgieseligen Vergangenheit
heraufzubeschwören, schildert „Bait“ jedoch sehr gegenwärtig, wie die
Gentrifizierung auch im beschaulichen Südwesten Englands die örtliche
Wirtschaft bedroht.
So gehört das Haus der Fischerfamilie Ward inzwischen den wohlhabenden
Leighs. Die haben es umgebaut, sich ein Bullauge in die Wand setzen lassen,
im Nebenhaus Ferienwohnungen eingerichtet, die sie an Touristen vermieten.
Und die haben wenig Verständnis dafür, wenn ihr teuer bezahlter
Urlaubsschlaf in den frühen Morgenstunden durch Schiffsmotorengetucker
unterbrochen wird. Von Gezeiten verstehen sie schließlich noch weniger.
„Bait“ hat dafür Bilder mit ganz eigenem Tidenhub. Wie ein Daumenkino
inszeniert Jenkin die Dialoge Martins (grimmig: Eward Rowe) mit den Leighs
oder mit seinem Bruder Steven. Man spricht Dreiwortsätze, ein Bild gibt
dazu das andere. Manchmal gilt: ein Wort, ein Schnitt. Parallel montiert,
werden eskalierende Konflikte, dramatische Zuspitzungen oder eben
Klassenunterschiede durch die gegenübergestellten Bilder erzählt: Wo die
einen Zwiebeln schneiden und bescheiden Pasta dazu kochen, garen die
anderen einen Hummer im Topf, der später weihevoll zerteilt wird.
## Lakonischer Witz
Die holzschnittartigen Schwarz-Weiß-Bilder und der stark musikalische
Rhythmus des Schnitts von Jenkin, der neben dem Drehbuch und der
Kameraarbeit auch die sehr spartanische Filmmusik im Alleingang
beigesteuert hat, schaffen eine Stimmung des Surreal-Absurden. Zugleich
lassen sie Raum für lakonischen Witz, bei dem die Komik nicht selten ganz
klassisch dadurch entsteht, dass sich die Mechanik, hier der raschen
Bildwechsel, über das Leben der Figuren legt, insbesondere über ihre
Sprache und Bewegungen. Zu Letzteren gehören mitunter auch Fausthiebe.
Jenkin, der 1976 geboren wurde, in Cornwall aufwuchs und dort heute Film an
der Falmouth University in Penryn lehrt, hat, ein bisschen wie die
„Dogma“-Filmemacher in den Neunzigern, ein 13 Regeln umfassendes Manifest
verfasst, nach dem er seine Filme dreht. Schwarz-Weiß-Bilder gehören dazu,
ebenso das Brechen oder Ignorieren von Genrevorgaben.
Mit „Bait“ hat er jetzt vorgemacht, wie kreative Selbstbeschränkung zu
etwas führen kann, das weder formal-akademisch oder elitär-ausschließend
wirkt. Der Fluss seines Tempos, die durchaus menschliche Konfrontation sich
gegenseitig ausschließender Lebensstile, die angedeuteten oder gar
auserzählten persönlichen Schicksale – all das erzeugt einen durchdachten
Groove, dem man sich mühelos überantworten kann, ohne vom Mitdenken
abgehalten zu werden.
Sogar fantastische Elemente integriert Jenkin in seinen Film, die
keinesfalls irritieren. Vielleicht, weil man sie auf den ersten Blick
womöglich gar nicht bemerkt. Und dass die Gegensätze zwischen upper class
und Arbeitern nicht ausnahmslos gelten müssen, darf die Mutter der poshen
Leighs, Sandra (kalt, aber nicht herzlos: Mary Woodvine), in sehr diskreter
Form unter Beweis stellen. Dass in einer Szene der Brexit in den
Nachrichten auftaucht, ist zudem kein historischer Zufall. Die aktuelle
Zerrissenheit des Landes findet sich bei Jenkin auch in diesem kleinen
Kosmos in all ihrer Hässlichkeit und Unversöhnlichkeit wieder.
Mit einem kleinen Lichtschimmer: Am Ende gibt es ein Echo zum Filmbeginn.
Wieder geht Martin zum Boot, festen Schritts, in schweren Stiefeln. Doch
jetzt wirkt sein Blick nicht so finster wie am Anfang.
23 Oct 2019
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## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
## TAGS
Spielfilm
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