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# taz.de -- Auftakt 69. Berlinale: Warten auf den Systemsprenger
> Die 69. Berlinale steht im Zeichen des Abschieds vom Direktor Dieter
> Kosslick. Außerdem setzt das Programm genderpolitische Akzente.
Bild: Rückblick auf die Berlinale: Trine Dyrholm (r.) in „Bungalow“ (2002)…
Ist der Berlinale-Bär eine Berlinale-Bärin? Das aktuelle Hauptplakat der
Internationalen Filmfestspiele Berlin legt das nahe. Da ist eine Frau zu
sehen, die in einem Bärenkostüm steckt, den pelzigen Tierkopf hebt sie in
die Höhe, als hätte sie ihn soeben abgenommen. Vielleicht setzt sie ihn
auch gerade auf.
In mancher Hinsicht erscheint die [1][69. Ausgabe der Berlinale] als
Berlinale der Frauen. Der Wettbewerb hat, sofern es um die Filme geht, die
um die metallenen Bären konkurrieren, einen Frauenanteil von 41,2 Prozent
gegenüber 58,8 Prozent Filmen von Männern, in absoluten Zahlen sind das
sieben Frauen und zehn Männer. Bei anderen A-Festivals wie Cannes oder
Venedig wäre so ein nahezu ausgeglichenes Verhältnis nicht denkbar,
gegenwärtig jedenfalls.
Die Retrospektive zeigt unter dem Titel „Selbstbestimmt“ ausschließlich
„Perspektiven von Filmemacherinnen“. Die Hommage ehrt dieses Jahr die
großartige britische [2][Schauspielerin Charlotte Rampling]. Und die
Jury-Präsidentin ist ihre ebenfalls verdienstvolle französische Kollegin
Juliette Binoche.
Die Berlinale kann dieses Jahr mit Recht stolz sein auf viele Frauen im
Programm. Auch wenn sich die „klassischen“ Sektionen Forum und Panorama
durch eine deutliche Männerdominanz nicht so ganz ins Bild fügen wollen.
Letztlich ist zwar entscheidend, ob ein Film künstlerisch überzeugt oder
nicht. Aber dass das unabhängig von Genderfragen gilt, trifft eben in beide
Richtungen zu. Mit andern Worten: Weiblich dominierte Sektionen wären
allemal wünschenswert. Hier kann die Nebenreihe des Forums, das Forum
Expanded, mit 57,2 Prozent Frauen eigentlich ganz zufrieden sein.
## Historisierung des Festivals
Eine ganz andere Frage ist die, wie sich die Berlinale, die l[3][etzte
unter ihrem Direktor Dieter Kosslick], in ihrer Filmauswahl präsentiert.
Was zunächst ins Auge springt, ist die Aufspaltung der ohnehin schon stark
ausdifferenzierten einzelnen Sektionen in weitere Subsektionen, die sich
dem Abschied von Kosslick und den damit einhergehenden Neigungen zur
Rückschau verdanken dürften.
Das Panorama, in dem es schon neben den Spielfilmen die „Panorama
Dokumente“ als eigene Dokumentarfilmreihe gibt, hat sich zusätzlich das
„Panorama 40“ zum 40. Jubiläum der Sektion gegönnt. Darin kann man sich
noch einmal Filme vornehmen, die einmal im Panorama ihren Anfang genommen
und von da mitunter ins Kino gefunden haben. Ulrich Köhlers Spielfilmdebüt
„Bungalow“ von 2002 ist dort ebenso zu sehen wie „Buddies“ (1985) von
Arthur J. Bressan Jr., der damals erste Spielfilm zur Aids-Krise.
Desgleichen hat das Forum seine eigene Geschichte betrachtet und bietet in
den „Archival Constellations“ klassische Gegenkultur-Filme wie Bette
Gordons „Variety“ (1983) oder Derek Jarmans „The Garden“ von 1990, der …
einer restaurierten Fassung zu sehen ist. So gelungen die Auswahl dabei
sein mag: Das Festival droht sich damit in seiner eigenen Historisierung
etwas zu verlieren. Dass der ehemalige Panorama-Leiter Wieland Speck, der
von 1992 bis 2017 deren Programm verantwortete und sie gegenwärtig noch
„berät“, zudem eine Berlinale-Kamera als Auszeichnung erhalten wird, unter
anderem neben der französischen Filmemacherin Agnès Varda, erscheint da
fast ein bisschen viel des Guten.
## Kein Hollywood-Film im Wettbewerb
Wie überhaupt das eigentlich Interessante am Programm ja die aktuellen
Filme der Sektionen sein sollten, für Historisches gibt es mit der
Retrospektive und den Berlinale Classics immerhin gleich zwei eigene
Abteilungen. Was die neuen Filmproduktionen angeht, muss man sich, wie seit
Langem unumgänglich, seine eigene Berlinale zurechtsuchen. Man sollte sich
dabei von den Leitthemen im Einzelnen nicht zu sehr einschüchtern lassen.
Die „Schriftlichkeit“, die etwa für die Auswahl des Forums steht, lässt e…
breites Spektrum an Themen und Filmsprachen zu.
Vom deutschen Filmemacher Thomas Heise, der in „Heimat ist ein Raum aus
Zeit“ anhand von Familienbriefen die Geschichte der Judenverfolgung in
Nationalsozialismus und des intellektuellen Lebens in der DDR auf sehr
persönliche Weise filmisch erzählt, steht mühelos neben der
Literaturverfilmung „A Portuguesa“ der portugiesischen Regisseurin Rita
Azevedo Gomes nach Robert Musil oder dem nach strengem Regelwerk in
Schwarz-Weiß-Bildern erstellten britischen Beitrag „Bait“ von Mark Jenkin
über das Konkurrenzgebaren von Fischern in Cornwall. Bei Letzterem
erschließt sich der Aspekt der Schriftlichkeit nicht einmal unmittelbar.
Und der Wettbewerb? Hat mit der Polin Agnieszka Holland, der Spanierin
Isabel Coixet, dem Franzosen François Ozon, dem Kanadier Dénis Côté und dem
Deutschen Fatih Akin einige alte Bekannte im Angebot. Freuen kann man sich
insbesondere auf den Wettbewerbs-Einstand der deutschen Regisseurin Angela
Schanelec, die unter dem Titel „Ich war zuhause, aber …“ ins Rennen geht.
Hollywood fehlt dieses Jahr vollständig unter den Bären-Anwärtern, dafür
kann man gleich drei Mitbewerber aus China begrüßen, darunter Wang
Xiaoshuai, der 2001 auf der Berlinale den Silbernen Bären für „Beijing
Bicycle“ erhielt. Und mit „Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt hat es ein
Debütfilm aus Deutschland unter die 17 Wettbewerbskandidaten geschafft.
## Festival unter Interimsleitung
Bei der letzten Berlinale des noch amtierenden Direktors ist die Versuchung
groß, im Programm nach altersbedingten Ermüdungserscheinungen zu suchen.
Die 18 Jahre, die Dieter Kosslick als Direktor für Heiterkeit,
Publikumszuwachs und ein dezidiert politisch aufgestelltes Programm, aber
eben auch für Kritik am Aufblähen des Angebots bei wenigen klaren Setzungen
gesorgt hat, haben strukturell Spuren hinterlassen. Abgesehen von den
erwähnten aktuellen Binnenretrospektiven einzelner Sektionen kann man
etwaige Symptome der Altersschwäche jedoch nicht unbedingt diagnostizieren.
Die Berlinale „ist“ schließlich auch nicht Dieter Kosslick.
Vielmehr hat man es, wie in solchen Situationen nicht unüblich, mit einer
Berlinale des Übergangs zu tun. Das Forum und das Panorama stehen unter
Interimsleitung, wie es mit den verschiedenen Sektionen insgesamt unter der
künftigen Geschäftsführerin Mariette Rissenbeeck und dem künstlerischen
Leiter Carlo Chatrian weitergehen wird, bleibt abzuwarten. Wie überhaupt
abzuwarten ist, welche neuen Akzente das Gespann setzen wird.
So kann man sich noch einmal, wie bei den 400 Filmen kaum anders möglich,
auf Höhepunkte freuen oder über weniger Gelungenes ärgern. Dass sich an
dieser Lage bei der Berlinale als Publikumsfestival, was sie auch weiterhin
bleiben soll, in Zukunft grundsätzlich nicht allzu viel ändern wird, ist
allemal wahrscheinlich. Und auch wenn es eine Binse ist: Über das Gelingen
eines Films gibt es selten einhellige Urteile. In der Filmkritik genauso
wenig wie beim interessierten Publikum. Man kann sich daher auch wieder auf
die 69. Berlinale freuen. Es wird kein schlechter Jahrgang gewesen sein.
7 Feb 2019
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## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
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