# taz.de -- Berlinale „Systemsprenger“: Keine Hoffnung Kenia | |
> Was geschieht mit Benni? Nora Fingscheidts Spielfilmdebüt | |
> „Systemsprenger“ über ein schwieriges Kind, das zurück zur Mutter will. | |
Bild: Die „Systemsprengerin“ kommt selbst im Wald nicht zur Ruhe | |
„Fick dich!“. Benni (Helena Zengel) ist neun und kleidet sich am liebsten | |
in Pink. Wer ihr in die Quere kommt, kriegt schnell eins in die Fresse. Sie | |
prügelt sich mit anderen Kindern, bespuckt ihre Erzieher*innen und richtet | |
die Gewalt auch manchmal gegen sich selbst. Sie kann ihre Gefühle schlecht | |
kontrollieren, wurde als Kleinkind misshandelt und wird von einer | |
Jugendeinrichtung zur nächsten abgeschoben. Das blasse blonde Mädchen ist | |
sensibel, aber cholerisch; eine Armee von einfühlsamen Reformpädagog*innen | |
kümmert sich um es – und weiß auch nicht weiter. So die Ausgangslage in | |
[1][Nora Fingscheidts Spielfilmdebüt „Systemsprenger“.] | |
Für die geschlossene Psychiatrie ist dieses Kind noch zu jung, könnte wohl | |
ein Spezialtrip nach Afrika helfen? Doch Benni will keine Wohngruppen, | |
keine Beschulung und nicht nach Kenia. Sie möchte nur eines: wieder nach | |
Hause, zu ihrer psychisch labilen Mutter, die mit ihren zwei jüngeren | |
Geschwistern und einem gewalttätigen Mann zusammenlebt. In einer | |
drastischen Szene macht die Regie deutlich, dass dies so nicht | |
funktioniert. Die Polizei schreitet ein. | |
Für die wilde Benni scheint so ziemlich alles hoffnungslos. Ein schwer zu | |
ertragender Zustand, den die Regie immer wieder mit kleinen Ausbrüchen, | |
Musik und rauschhaften Rebellionen begleitet. Psychologen, Erzieher und | |
Sozialarbeiterinnen verstehen zwar die Gründe ihres Verhaltens, haben aber | |
gemäß dem Drehbuch weder Mittel noch Zeit, adäquat einzugreifen. Doch sind | |
Eltern wirklich so unersetzbar, gerade die ohnehin Abwesenden? Laut Regie | |
scheint es in dieser Story so. | |
Denn dies bleibt so, als Micha (Albrecht Schuch), ein auf Gewaltprävention | |
spezialisierter Erzieher, in das Filmgeschehen einsteigt. Sein Hobby ist | |
Boxen. Er trägt echte Narben am Körper, hat selbst echte existenzielle | |
Abgründe kennengelernt. Benni schleudert auch ihm anfangs ihr Schimpfwort | |
„Erzieher“ entgegen. Aber nach und nach entwickelt sich eine empathische | |
Beziehung zwischen den beiden. | |
## Zu traumatisch | |
Wie Albrecht Schuch und Helena Zengel dieses Verhältnis vor der Kamera | |
ausgestalten, gehört unbestreitbar zu den Stärken von Fingscheidts | |
Spielfilmdebüt. Benni wird dabei die „Systemsprengerin“ bleiben, eine, die | |
auch im Wald nicht wirklich zur Ruhe kommt. Eine Therapie in wenigen Tagen | |
gibt es nicht. Zu traumatisch die Verletzungen in der Kindheit, zu fordernd | |
und intensiv der Anspruch dieses Kindes, eine stabile Beziehung unterhalb | |
einer 100-prozentigen Ersatzelternschaft eingehen zu können. | |
Doch wie soll es die überhaupt geben? Im wirklichen Leben bräuchte jede | |
Benni einen leibhaftigen Micha, der aber dann nicht nur so toll, brüchig | |
und zugleich stabil wie in Fingscheidts Film sein müsste, sondern gleich | |
gar nicht seinen Beruf als Sozialarbeiter ausüben dürfte, da die Lösung, | |
wie der Film nahelegt, nur in einer vollen Adoptivelternschaft läge. | |
Ist das nicht ein wenig konservativ gedacht? Ohne traditionell vorgestellte | |
Familie kein kindliches Glück? Soll tatsächlich das ganze Streben von | |
Sozialarbeit und Kinderpsychologie darauf ausgerichtet sein, die häufig so | |
dramatisch scheiternde Lebensform Kleinfamilie im 1-zu-1-Maßstab zu | |
restaurieren? Der „Systemsprenger“ suggeriert dies. Für Benni soll es | |
[2][keinerlei Platz und Lebensperspektive in den bestehenden | |
Institutionen] der Reformpädagogik geben. Doch sind es wohl eher | |
klischeebeladene Erwachsene, die Angst vor einem Aus- oder Umweg über | |
Afrika haben. | |
9 Feb 2019 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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