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# taz.de -- Essay über Schwangerschaftsabbruch: Was nicht geteilt werden darf
> Bekannt geworden ist die Französin Pauline Harmange mit ihrem Essay „ich
> hasse männer“. Jetzt legt sie nach mit einem Buch über Abtreibung.
Bild: Eine wohl abgewogene Entscheidung: Pauline Harmange schreibt über Schwan…
Ihr Erstlingswerk sorgte für große Aufregung, nicht nur in Pauline
Harmanges Heimat Frankreich, auch hierzulande wurde [1][bei dem Titel „ich
hasse männer“ (2020)] laut aufgeheult. „Darf man zum Männerhass aufrufen?…
fragte ein deutsches Medium etwa, andere unterstellten Harmange Hochverrat
und ein Mitarbeiter, der das französische Ministerium zur
Geschlechtergleichstellung beraten sollte, forderte von dem Verlag, das
Buch zurückzuziehen.
Dabei sind es nach Harmange, die selbst in einer romantischen Beziehung mit
einem Mann ist, weniger die Männer per se, die sie hasst, als vielmehr
deren stereotyp-männliches Verhalten. Was alles dazu zählt, schlüsselt sie
in ihrem Essay auf. Den sollte man(n) halt lesen, statt sich bloß von dem
radikalen Titel abschrecken zu lassen.
Harmanges neuester Titel – zwischendrin veröffentlichte die 1994 in
Frankreich Geborene noch einen Roman – beschäftigt sich mit [2][dem Thema
Schwangerschaftsabbruch] und seiner gesellschaftlichen Rezeption. Zwar
bekäme das Thema immer wieder öffentliche Aufmerksamkeit, meist aber nur
dann, wenn sich irgendwo die Rechtslage zugunsten oder zuungunsten einer
medizinischen Beendigung der Schwangerschaft ändert. Ja, reicht das denn
nicht?
Nein, findet Harmange. Denn was meist medial zum Thema Abtreibung
verhandelt wird, komme selten ohne Drama aus. Entweder man stoße auf
Informationen und Statistiken oder aber auf individuelle Geschichten, die –
egal in welche Richtung – meist tragisch sind. Dass das Erlebnis einer
Abtreibung, wenn man denn den Zugang dazu hat, individuell ist, will
Harmange auf knapp hundert Seiten verdeutlichen. Denn bisher „gibt [es]
keinen Platz für unsere Vielfalt“.
## Abtreibung trotz generellem Kinderwunsch
Um also eben jene Vielfalt zu schaffen, wirft Harmange mit „ich muss
darüber sprechen“ ihre Erfahrung in den Ring und erzählt nicht nur, dass
sie abgetrieben hat (das allein sollte 2023 kein Statement mehr sein),
sondern beantwortet auch, warum: „Die Sehnsucht nach einem Kind, an das ich
bei meiner Entscheidung zur Abtreibung dachte, noch bevor ich an mich
selbst dachte, war nicht meine. Sie war das Ergebnis einer komplizierten
Gleichung: eine Frau zu sein, als Frau erzogen worden zu sein und sich brav
diesen Vorgaben gefügt zu haben.“
Doch zum Zeitpunkt ihrer Schwangerschaft ist Harmange noch nicht bereit,
fühlt sich zu jung und allem voran finanziell nicht dazu in der Lage.
Ihre Entscheidung ist eine wohl abgewogene, mit ihrem Partner bis ins
Kleinste besprochene und gemeinsam durchlebte. Oft werde zu Recht beklagt,
dass Männer über ein zu geringes Repertoire zur Beschreibung ihrer Gefühle
in Krisensituationen verfügten, schreibt Harmange und weiter: „Indem ich
meinem Mann einen Platz im Erleben meiner Abtreibung eingeräumt habe, habe
ich auch seinen Gefühlen Raum gegeben.“
## Sie lässt die Lesenden am Schmerz teilhaben
Harmange ist abgeklärt, das merkt man ihrer Sprache an. Ihr Bestreben, das
Individuelle auf eine kollektive Ebene zu heben, [3][erinnert an Annie
Ernaux], die ihre eigene Abtreibungserfahrung in „Das Ereignis“ behandelt.
Harmanges Ton ist aber weniger kühl, als der [4][der Nobelpreisträgerin].
Eher wütend, wenn auch nicht so sehr wie in ihrem ersten Buch, schreibt sie
gegen Ungerechtigkeiten an und lässt in ihrer [5][Vehemenz an Virginie
Despentes] denken.
Den Schmerz, den die Abtreibung mit all ihren physischen wie psychischen
Einflüssen hinterlassen hat, münzt Harmange um, breitet ihn aus und lässt
die Lesenden daran teilhaben. Da ist die Angst vorm Bereuen, die weder vor
noch nach dem Abbruch ganz verschwindet, die Befürchtung, das Recht aufs
Muttersein verwirkt zu haben, sowie die Schwierigkeit, anschließend wieder
Sex zu haben.
Es ist vermutlich nicht das Buch des Jahres und doch ist es wohltuend und
tröstend, Teil dieser Lebensrealität zu werden, selbst wenn sie einen nicht
betreffen sollte. Denn wie schreibt Harmange so schön: „Wenn weiße
Hetero-Cis-Männer hundertmal die gleiche Geschichte von einem in der
Midlife-Krise steckenden Antihelden erzählen können, […] können sich auch
andere das Recht nehmen, zu wiederholen, zu bekräftigen und einzubläuen.“
8 May 2023
## LINKS
[1] /Debatte-in-Frankreich/!5709877
[2] /Sammelband-zum-Thema-Abtreibung/!5916127
[3] /Literaturnobelpreistraegerin-Annie-Ernaux/!5882552
[4] /Literaturnobelpreis-fuer-Annie-Ernaux/!5882551
[5] /Neuer-Roman-von-Virginie-Despentes/!5917261
## AUTOREN
Sophia Zessnik
## TAGS
Feminismus
Schwerpunkt Abtreibung
Buch
Essay
Kinderwunsch
Pedro Sánchez
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Frankreich
Schwerpunkt Frankreich
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