# taz.de -- Nobelpreis für Literatur 2022: Annie Ernaux ausgezeichnet | |
> Der Literaturnobelpreis 2022 geht an die Französin Annie Ernaux. In ihrem | |
> autobiografisch geprägten Werk seziert sie die Erfahrungen von Frauen in | |
> Frankreich. | |
Bild: Annie Ernaux, Gewinnerin des Nobelpreises für Literatur 2022 | |
STOCKHOLM dpa/afp/rtr/taz | Die [1][französische Schriftstellerin Annie | |
Ernaux] wird in diesem Jahr mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Das | |
gab die für die renommierte Auszeichnung zuständige Schwedische Akademie am | |
Donnerstag in der Altstadt von Stockholm bekannt. Sie bekomme den Preis | |
„für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, | |
Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung | |
aufdeckt“, sagte der Ständige Sekretär der Akademie, Mats Malm, bei der | |
Preisbekanntgabe. Man habe sie telefonisch noch nicht erreichen können, | |
sagte Malm. | |
Die 82-Jährige gilt als eine der [2][bedeutendsten französischen | |
Schriftstellerinnen der Gegenwart], ihr Werk ist stark autobiografisch | |
geprägt. Sie hat rund 20 literarische Werke verfasst und war schon seit | |
vielen Jahren als Anwärterin auf den Nobelpreis gehandelt worden. | |
Die Bücher der für ihr autobiografisch geprägtes Werk bekannte | |
Schriftstellerin wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, auf Deutsch | |
erschienen unter anderem „Die Jahre“, „Erinnerungen eines Mädchens“ und | |
[3][“Der Platz“]. Ihre Bücher schaffen es regelmäßig auf deutsche | |
Bestsellerlisten. | |
Eines ihrer jüngsten auch in Deutschland erschienenen Werke trägt den Titel | |
[4][„Das Ereignis“]. Das fast autobiografische Buch handelt von den fast | |
schon grausamen Versuchen der Autorin abzutreiben, in einer Zeit, in der | |
die Abtreibung noch als unmoralisch und kriminell betrachtet wurde. | |
[5][Verfilmt wurde die Geschichte von Audrey Diwan], die dafür im | |
vergangenen Jahr [6][den Goldenen Löwen des Filmfestivals von Venedig] | |
erhielt. | |
In ihrem Werk seziert Ernaux die Erfahrungen von Mädchen und Frauen in der | |
französischen Gesellschaft seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die über | |
zwanzig Bücher der Schriftstellerin lesen sich wie ein | |
Selbsterkundungsprojekt. Wie sie selbst sagt, versucht sie ihre | |
persönlichen Erinnerungen im kollektiven Gedächtnis zu finden, denn für sie | |
ist ein „Ich“ nicht ohne die anderen und ohne Geschichte denkbar. Und so | |
gehen ihre Geschichten über ihre persönlichen Erlebnisse hinaus; sie betten | |
sich ein in kollektive Erfahrungen, die durch gesellschaftliche Zwänge und | |
Ereignisse die „Ichwerdung“ beschränken. | |
Ernaux wurde 1940 in Lillebonne in der Normandie geboren und wuchs in | |
bescheidenen Verhältnissen auf. Ihr Vater verdiente den Lebensunterhalt als | |
einfacher Arbeiter. Ihre Kindheit war geprägt vom frühen Tod ihrer älteren | |
Schwester. Nach dem Studium der Neueren Literatur wurde sie | |
Gymnasiallehrern. | |
Im Jahr 2018 hatte sie in [7][einem Text für die französische Tageszeitung | |
Liberation und die taz] über ihre Erinnerungen an das Protestjahr 1968 | |
geschrieben. | |
## Ernaux galt als Mitfavoritin | |
Als mögliche Gewinner waren zuvor neben Ernaux wieder einmal die | |
US-Romanautorin Joyce Carol Oates, die Kanadierin Margaret Atwood und der | |
Japaner Haruki Murakami gehandelt worden. Auf der offiziellen Longlist für | |
den Preis hatten in diesem Jahr 233 Kandidaten gestanden – welche Namen | |
darunter waren, wird stets streng geheim gehalten. | |
Die Schwedische Akademie ist aber bekannt dafür, sich nicht von | |
öffentlichen Spekulationen leiten zu lassen. Vor einem Jahr hatte sie den | |
Literaturnobelpreis [8][überraschend] an den – bis dahin – relativ | |
unbekannten [9][tansanischen Schriftsteller Abdulrazak Gurnah] vergeben. Er | |
wurde „für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der | |
Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der | |
Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten“ geehrt. Erst nach der | |
Preisverleihung war mit „[10][Das verlorene Paradies“ wieder ein Roman von | |
Gurnah] auf Deutsch erschienen. | |
Im Jahr davor war der Preis an [11][die US-Poetin Louise Glück] gegangen – | |
auch sie galt vorher nicht als eine der zahlreichen Favoritinnen und | |
Favoriten. | |
In den vergangenen Tagen waren bereits die diesjährigen Nobelpreisträger in | |
den Kategorien [12][Medizin], [13][Physik] und [14][Chemie] bekanntgegeben | |
worden. Nach dem literarischen Preis folgt am Freitag die Verkündung des | |
Friedensnobelpreisträgers, die als einzige nicht in Stockholm, sondern in | |
Oslo stattfindet. Die Bekanntgabe in der Kategorie | |
Wirtschaftswissenschaften rundet den alljährlichen Nobelpreis-Reigen dann | |
am Montag ab. | |
Dotiert sind alle Nobelpreise in diesem Jahr erneut mit zehn Millionen | |
schwedischen Kronen pro Kategorie. Umgerechnet entspricht das knapp 920.000 | |
Euro. Verliehen werden die prestigeträchtigen Auszeichnungen traditionell | |
am 10. Dezember, dem Todestag von Preisstifter und Dynamit-Erfinder Alfred | |
Nobel (1833-1896). | |
6 Oct 2022 | |
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