| # taz.de -- Abschiedsvorlesung Joseph Vogl: Das Flirren der Literatur in Vorkri… | |
| > Joseph Vogl hatte sich am Anfang seiner akademischen Laufbahn dem | |
| > „Zaudern“ gewidmet. Nun rundet sich das mit Überlegungen zur | |
| > Schwerelosigkeit. | |
| Bild: Eine Art „In-die-Höhe-Sinkens“ – oder doch bloß ein Fallen? | |
| Joseph Vogl ist nach Friedrich Kittler wohl der letzte | |
| Literaturwissenschaftler mit Kultstatus. Nach seiner Abschiedsvorlesung im | |
| Sommer an der Humboldt-Universität gab es minutenlange Ovationen. Der | |
| Protagonist sah sich angesichts dessen genötigt festzustellen, dass es in | |
| der Wissenschaft im Gegensatz zu einem Popkonzert keine Zugaben gebe. | |
| Damit bewegte er sich weiter in der Region, die die Vorlesung bestimmt | |
| hatte: dem Schweben zwischen dem Leichten und dem Schweren. Nun liegt sie | |
| in Buchform vor, und schon auf den ersten Seiten ist zu spüren, wie | |
| lustvoll der Autor das schwierige, aber gleichwohl fruchtbare Gelände | |
| zwischen theoretischem Diskurs und literarischer Entgrenzung betritt. | |
| Vogls Schlüsselroman ist „Der Mann ohne Eigenschaften“. [1][Robert Musil] | |
| zeigte sich getrieben von der Frage, welche Funktion der Literatur in | |
| seinem Zeitalter überhaupt noch blieb. Der Anspruch, das Unerklärliche | |
| erklärbar zu machen, war im Lauf der Jahrzehnte von der Literatur auf die | |
| Wissenschaft übergegangen. | |
| ## Psychologie als Konkurrenz zur Literatur | |
| Spätestens mit der Psychoanalyse, von der Relativitätstheorie oder der | |
| Quantenphysik ganz abgesehen, hatte die Literatur eine Konkurrenz bekommen, | |
| die ihre Existenz bedrohte. Die grundsätzliche Frage nach Erkenntnis, das | |
| Vordringen in die dunklen Räume wurde nicht mehr nur ihr überlassen. | |
| Vogl zeigt sehr facettenreich, wie Musil die Fragestellungen der | |
| zeitgenössischen Theorie in seinen Text überführt und die Literatur in eine | |
| Haltung des Schwebens versetzt. Sie entzieht sich allen Zuweisungen von | |
| außen und schafft sich ein eigenes Bezugssystem, das die Atmosphäre der | |
| Zeit und ihrer Gefährdungen zum Ausdruck bringt. | |
| Das charakteristische Changieren im „Mann ohne Eigenschaften“ liegt auch | |
| daran, dass die zeitlichen Ebenen ins Flirren geraten. Der Roman handelt | |
| vom Vorabend des Ersten Weltkriegs, von der Ahnung kommender Katastrophen | |
| im Jahr 1914, aber während des Schreibprozesses in den dreißiger Jahren | |
| schob sich für den Autor seine aktuelle Gegenwart in den Text, das | |
| Krisengefühl einer neuen Vorkriegszeit. Und was Vogls Herangehensweise | |
| brisant macht, ist die Tatsache, dass in seinem Schreiben der Jahre | |
| 2024/2025 Zeichen einer neuen Vorkriegszeit mitschwingen. | |
| ## Musils „Mann ohne Eigenschaften“ | |
| Vogl hebt im „Mann ohne Eigenschaften“ die Szene hervor, in der das | |
| Geschwisterpaar Ulrich und Agathe eine Vereinigung vollzieht, die in einer | |
| Sphäre jenseits aller Eindeutigkeiten angesiedelt ist. Ulrich, inspiriert | |
| davon, wie sich die Schwester gerade ankleidet, umarmt sie und wirft sie in | |
| die Höhe. Es sei ein „leiblicher Vorgang“, heißt es bei Musil, der jedoch | |
| alle „Gebärden des Fleisches“ meide – eine Art „In-die-Höhe-Sinken“… | |
| Vogl hinzu und sieht hier ein Urbild des Schwebens, das Erreichen eines | |
| schwerelosen Punkts. | |
| Er findet in den Musilschen Entgrenzungsbewegungen, der Freisetzung alles | |
| Imponderabilen und Unwägbaren auch eine erkenntnistheoretische Antwort auf | |
| die Gewissheiten begrifflicher Setzungen. | |
| Am Beginn von Musils „Mann ohne Eigenschaften“ ist in exakten | |
| naturwissenschaftlichen Benennungen vom Wetter die Rede, von Hoch- und | |
| Tiefdruckgebieten, und damit gelangt Vogl zur Meteorologie: Bereits | |
| Aristoteles untersuchte mit ihr das zwischen Himmel und Erde Schwebende und | |
| nahm atmosphärische wie astrale Ereignisse in den Blick. | |
| Es ist ein dichtes Netz von Bezügen und Motiven, an dem Vogl fortwährend | |
| spinnt, und man merkt in erster Linie eine Lust am Auffinden, am | |
| Beschreiben und Verknüpfen, die zwischen den Zeilen immer auch die Frage | |
| nach der Erklärbarkeit der Welt und nach Erkenntnis stellt, aber | |
| spannungssteigernd offenhält. | |
| ## Die „Wolkenlehre“ Goethes | |
| Goethe liefert als Naturwissenschaftler mit seiner „Wolkenlehre“ eine erste | |
| Conclusio. Die Welt der Wolken liegt für ihn jenseits des Klaren und | |
| Deutlichen, sie erscheint trüb und verworren und steht für das | |
| „Übergängliche“ – genauso wie sie schon bei Galileo Galilei die Grenze … | |
| Wissenschaft markierte. Wer Wolken sieht, so Vogl, sehe zugleich „ein | |
| Unsichtbares und Unspürbares“ mit. | |
| Hier würde sich nun anbieten, einen unmittelbaren Zusammenhang mit der | |
| Wirkmächtigkeit von Literatur herzustellen, das Schwebende bei Musil | |
| ästhetisch auszudifferenzieren. Aber der Autor setzt erstmal seine | |
| motivischen Streifzüge fort und gelangt von Goethe fast unmittelbar zu | |
| Kafka. Es fällt dabei auf, dass er die Romantik, die sich bei seinem | |
| freischwebenden Thema eigentlich wie von selbst aufdrängt, auslässt. Hatte | |
| er die Befürchtung, sich bei seinen Höhenflügen hier zu sehr die Flügel zu | |
| versengen? | |
| Immerhin birgt die Romantik Tendenzen, vermeintlich Schwereloses doch auch | |
| mit gewissen ideologischen Ballaststoffen anzureichern, hier lauern nicht | |
| ins Bild passende politische Fallstricke. Vogl aber vernetzt Goethe unter | |
| anderem mit Descartes, Kant und Fichte und landet in der Literatur dann | |
| eben gleich bei einer fulminanten Exegese der Ästhetik bei Kafka, diesem | |
| „Wegweiser für das Verirren“. Spätestens dann stellt sich die Frage: Wie | |
| könnte man all dies zusammenführen? | |
| [2][Vogl] setzt zum Schluss tatsächlich zu einer theoretischen Fundierung | |
| seines Unternehmens an. Dabei geschieht etwas Sonderbares. Der Ton dieses | |
| letzten Kapitels ist spürbar anders. | |
| ## Analogie zwischen Erkenntnisprozessen | |
| Dem Autor geht es jetzt darum, all das Oszillierende und Fluktuierende, das | |
| bisher beschworen wurde, auf eine neue Ebene zu heben, und zwar in einem | |
| Duktus, der auf Begriffe und Formeln setzt und so versucht, die Analogien | |
| zwischen wissenschaftlichen und literarischen Erkenntnisprozessen abstrakt | |
| zu bestimmen. Den Fluchtpunkt bildet interessanterweise der nach 1900 | |
| einflussreiche Mathematiker und Semiotiker Charles Sanders Peirce, bei dem | |
| das Regellose eine prozessuale Form erhält und der mit Denkmodellen wie der | |
| „Abduktion“ operiert. | |
| Mit diesem Rüstzeug unterzieht sich Vogl der spürbaren Anstrengung, das | |
| „Ereignishafte“, das er vorher suggestiv entfaltet hat, diskursiv zu | |
| beglaubigen. Anfangs hatte er Musils Großroman schlüssig als ein Vorhaben | |
| definiert, Einspruch gegen den Verlauf der Geschichte zu erheben, die | |
| Literatur also als eine „Gleichgewichtsstörung“ des „Wirklichkeitssinns�… | |
| Man bekommt aber fast den Eindruck, dass sich der Autor darum bemüht, am | |
| Schluss ein neues Gleichgewicht herzustellen, das heißt: die Literatur | |
| auszutarieren. Das berühmte Kapitel bei Musil heißt „Die Ungetrennten und | |
| Nichtvereinten“ – das wäre vielleicht auch eine Vorgabe für das Verhältn… | |
| zwischen Literatur und Wissenschaft. Doch Vogl, so sehr er eine „Poetik der | |
| Wissenschaft“ anvisiert, nimmt sie so nicht an. | |
| ## Abschiedsvorlesung „Versuch über das Schwebende“ | |
| Derlei Überlegungen bleiben allerdings angesichts der Dimensionen, die das | |
| Buch eröffnet, bloße Aperçus. Joseph Vogl hat mit seinem Essay | |
| augenzwinkernd auch einen eigenen Bildungsroman reflektiert. Seine | |
| Antrittsvorlesung hieß „Über das Zaudern“, seine Abschiedsvorlesung | |
| „Versuch über das Schwebende“, und damit scheint sich etwas zu runden. | |
| Mit dem Schweben hat das Zaudern an Souveränität gewonnen. Das größte | |
| Verdienst des Buches besteht aber in der Erinnerung daran, welch | |
| systemsprengende Möglichkeiten in der Literatur liegen, in einem | |
| unwillkürlichen Aushebeln aller Gewissheiten. | |
| 19 Apr 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Helmut Böttiger | |
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