# taz.de -- Roman „Apoll Besobrasow“: Gelage und Erleuchtungen | |
> Junge Leute, heimatlos, auf der Suche nach inspirierter Künstlerarmut und | |
> Bohemeromantik: Boris Poplawskis Roman „Apoll Besobrasow“. | |
Bild: Der Aufgang nach Montmartre in einer Fotografie von Eugène Atget, 1921 | |
Es genügt, dieses merkwürdige und schöne Buch an einer fast beliebigen | |
Stelle aufzuschlagen, um von der Qualität seiner | |
symbolistisch-surrealistischen Sprachmusik geradezu körperlich getroffen zu | |
werden: „Bei trübem Wetter fing der Tag in Besobrasows Zimmer gar nicht | |
erst an; nur ein blasses Leuchten drang wie durch tiefes Wasser herein. Und | |
wenn dichter Schnee aufs Dachfenster fiel, wurde es drinnen Nacht. Hin und | |
wieder stieg einer von uns auf einen Stuhl, der auf den Tisch gestellt war, | |
kippte das Fenster, um es von der Schneeschicht zu befreien, und sah sich | |
einen Augenblick um, wie der Kapitän eines aufgetauchten U-Boots. So weit | |
das Auge reichte, breiteten sich in geometrisch geformten Wellen die | |
Dachschrägen, Simse und Steilwände schmaler, hoher mittelalterlicher Häuser | |
aus – und dann tauchte das Boot wieder unter, und es war still darin zur | |
Stunde des Schnees.“ | |
Boris Poplawskis Roman „Apoll Besobrasow“ spielt in Paris und ist während | |
der zwanziger Jahre dort entstanden. Die französische Hauptstadt der | |
surrealistischen Periode ist seine geheime Hauptfigur. Die russischen | |
Symbolisten, Suprematisten und Futuristen Moskaus und St. Petersburgs waren | |
nach der Oktoberrevolution zunächst ins georgische Tiflis und ins | |
belarussische Witebsk ausgewichen. Als sich nach dem Bürgerkrieg die | |
Situation weiter verdüsterte, zogen sie notgedrungen ins Ausland – nach | |
Berlin wie Nabokov oder nach Paris wie die meisten anderen. | |
Auf Montmartre und in Ménilmontant traf die kulturelle Elite des | |
vorbolschwistischen Russlands auf den Surrealismus André Bretons und Louis | |
Aragons. Einer von diesen beeindruckbaren und begabten jungen Russen war | |
Boris Poplawski. Er entstammte dem polnisch-litauisch-baltischen Adel. | |
Beide Eltern waren begabte Musiker, sein Vater als Kaufmann in St. | |
Petersburg wohlhabend geworden. Gegen genau solche Menschen richtete sich | |
der frühe bolschewistische Terror. | |
Nach einer jahrelangen Irrfahrt seiner Familie durch Charkow, Rostow, | |
Istanbul, Berlin und Marseille kam der noch sehr junge Mann nach Paris, wo | |
er sich der Entourage des georgischen Futuristen Ilja Sdanewitsch | |
anschloss. Er ersetzte die Malerei, seine erste künstlerische Obsession, | |
durch die Literatur. Ein kurzes Leben in inspirierter Künstlerarmut, | |
klassische Bohemeromantik. 1935 starb Poplawski 32-jährig an einer | |
Überdosis irgendeiner Droge. | |
## Durch die Großstadt treiben | |
Sein Roman „Apoll Besobrasow“ weist eine große Familienähnlichkeit zu den | |
surrealistischen Klassikern der Entstehungszeit auf, vor allem zu Louis | |
Aragons Meisterwerk „Le paysan de Paris“. Man wüsste auch gern, ob Walter | |
Benjamin, der sich gleichzeitig mit Poplawski in Paris aufhielt und ein | |
glühender Fan des frühen, surrealistischen Aragon war, die wenigen Auszüge | |
des Romans gekannt hat, die zu Poplawskis Lebenszeit erschienen sind | |
(kursorische Internetrecherchen ergaben darüber nichts). „Apoll Besobrasow“ | |
ist jedenfalls erst nach 1990 vollständig erschienen. | |
Der Roman ist einerseits eine symbolistisch-surrealistische | |
Stadtphantasmagorie – und zugleich ein Soziogramm entwurzelter junger | |
Russen, die sich unter prekärsten Bedingungen aneinander festhalten und ein | |
„inneres Avantgarde-Russland“ rekonstruieren. Das Buch war, wie Poplawski | |
schrieb, der „Versuch, unser Leben zu rechtfertigen, dieses reiche, | |
geheime, so ungemein rührende und bedeutsame und zugleich so miserable | |
Leben“. Es passiert in ihm so gut wie nichts – ohne dass Handlung im | |
traditionellen Sinn dem Leser einen Moment lang fehlen würde. Man wird für | |
sie mehr als entschädigt durch das sprachliche Feuerwerk, das Poplawski aus | |
jeder Seite mit beiläufiger Virtuosität aufsteigen lässt. | |
Die Figuren treiben durch die Großstadtstraßen, frieren in ungeheizten | |
Zimmern, führen endlose Gespräche, besetzen leerstehende Häuser, treffen | |
sich zu ekstatischen Gelagen und „Bällen“, verlieren sich wieder aus den | |
Augen. Leeres Zentrum und unbewegter Beweger dieses Kreises ist der | |
titelgebende Apoll Besobrasow. Er ist einerseits eine modernistische | |
Version einer traditionellen russischen Figur: Er ist ein „Narr in | |
Christo“. In der alten orthodoxen Tradition waren die verrückten Heiligen | |
so etwas wie christliche Zen-Meister, die dem Zaren wie dem Volk | |
unangenehme Wahrheiten sagen durften, weil ihre Exzentrizität sie | |
unangreifbar machte. Literarisch sublimiert bevölkern zahlreiche Narren in | |
Christo die Romane, Versepen und Dramen Puschkins, Gogols, Leskows, | |
Dostojewskis und Tschechows. | |
Andererseits ist „Besobrasow“ auch ein sprechender Name. „Besobrasny“ i… | |
das russische Wort für „hässlich“. Auf einer tieferen etymologischen Ebene | |
bedeutet dieser Name jedoch zugleich die Form- und Bildlosigkeit, eine | |
Eigenschaft des Göttlichen. „Besobrasow“ (ungefähr: „der Bild- und | |
Formlose“) ist im sprachlichen Assoziationshorizont des Russischen das | |
„Apeiron“, der unbegrenzt-formlose Urstoff, den der vorsokratische ionische | |
Naturphilosoph Anaximander postuliert hat. | |
## Unaufhörliche Suche nach Offenbarungen | |
Die sprezzatura des Boheme-Dandys funktioniert als modernistische | |
Erscheinungsform eines Absoluten. Andere Figuren heißen Zeus oder Averroës, | |
die weibliche Hauptperson Thérèse trägt den Namen gleich zweier großer | |
Mystikerinnen. Die theosophischen Neigungen von Poplawskis Mutter haben in | |
seinem Roman ebenso deutliche Spuren hinterlassen wie der Unterstrom | |
okkulter Spekulation, der besonders die russischen Versionen der Moderne | |
spätestens seit Kandinskys Buch „Über das Geistige in der Kunst“ prägt. | |
Die profane Erleuchtung, die einem dieses Buch verschaffen kann, geht aber | |
nicht von solchen Andeutungen und Spekulationen aus, sondern von der fast | |
schockierenden Qualität und Originalität seiner stilistischen und | |
imaginativen Erfindungen. Olga Radetzkajas Übersetzung ist es gelungen, das | |
ästhetische Niveau des russischen Ursprungstexts in einem plausiblen | |
Deutsch nachvollziehbar zu machen. | |
„Musik, die Zustände des Glücks, die Mythologie, die von der Zeit gewirkten | |
Gesichter, gewisse Dämmerungen und gewisse Orte wollen uns etwas sagen oder | |
haben uns etwas gesagt, was wir nicht hätten verlieren dürfen, oder | |
schicken sich an, uns etwas zu sagen; dieses Bevorstehen einer Offenbarung, | |
zu der es nicht kommt, ist vielleicht der ästhetische Vorgang“, heißt es in | |
einem Essay von Jorge Luis Borges, einem Zeitgenossen Poplawskis und einem | |
südamerikanischen fellow traveller desselben von Baudelaire, Mallarmé und | |
Verlaine beinflussten Modernismus, der auch Poplawskis Schreiben geprägt | |
hat. Die unaufhörliche Suche nach solchen Offenbarungen ist die | |
Sinnbewegung und die eigentliche Handlung in „Apoll Besobrasow“. Sie treibt | |
das „geheime Leben“ an, das der formlose Held und seine Freunde in Paris | |
führen. | |
Jene profanen Epiphanien und Prophetien verstecken sich in möblierten | |
Zimmern, in heruntergekommenen Kneipen, im Rausch, in leeren herbstlichen | |
Straßen, in vernachlässigten Parks, wo sie Louis Aragon mit seinem „Paysan | |
de Paris“ aufspürte. Oder in den Kindheitserinnerungen und Passagen, wo sie | |
Walter Benjamin mit seiner „Berliner Kindheit“ gesucht und (verkleidet in | |
eine häretische Form marxistischer Analyse) in seinem fragmentarischen | |
„Passagenwerk“ gefunden hat. Säkularisierte Mystik war der Kern einer | |
symbolistisch-futuristisch-surrealistischen Mischkultur, die in den | |
zwanziger Jahren im Schatten der Oktoberrevolution an so verschiedenen | |
Orten wie Berlin, Paris, Buenos Aires, Witebsk und Tiflis ein starkes | |
Jahrzehnt lang blühte. Boris Poplawskis „Apoll Besobrasow“ ist ein – jet… | |
glücklicherweise auch auf Deutsch wiederaufgetauchter – Klassiker dieser | |
ästhetischen Geheimreligion. | |
12 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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