| # taz.de -- China Miéville über Monster und Linke: Sehnsucht nach Schlaraffen… | |
| > Fantasy-Autor China Miéville liebt Monster, analysiert aber auch die | |
| > russische Revolution. Sehnsucht, sagt der politische Aktivist, sei ein | |
| > zentrales Motiv der Linken. | |
| Bild: „Es gibt nicht viel Dekadenteres als Optimismus“, sagt China Miéville | |
| Queens Park, London. Draußen haben die Häuser maximal drei Stockwerke, | |
| viele sind aus diesem gelblich-braunen Backstein, der in London immer | |
| wieder auftaucht. Drinnen, im Restaurant „The Alice House“, sieht es aus | |
| wie in einem Pub, der jeden Tag geschrubbt wird. Das dunkle Holz der Möbel, | |
| das glänzende Leder der Sessel, die Steine der Säulen. Es gibt Lamm mit | |
| Kroketten und Kapernmayonnaise für 6 Pfund fünfzig. China Miéville | |
| entschuldigt sich, weil er ein paar Minuten zu spät kommt. Er ist groß, | |
| muskulös, hat einen kahlrasierten Kopf, in seinen Ohrlöchern stecken kleine | |
| Krakenarme aus schwarzem Metall. In einem Stoffbeutel hat er alle Bücher | |
| dabei, um die es heute gehen könnte, auch sein neuestes: „October: The | |
| Story of the Russian Revolution“. Wir setzen uns und reden zweieinhalb | |
| Stunden. Er spricht nicht laut, das muss er nicht, weil er einen so | |
| ansieht, dass man nicht wegschauen will, als wäre es gerade dieses Gespräch | |
| hier, auf das er gewartet hat. | |
| taz am wochenende: Sie haben jede Menge Fantasy geschrieben. Warum nun ein | |
| Buch über die Oktoberrevolution? | |
| China Miéville: Oh, es gibt jede Menge gute Bücher. Nur sind sie alle für | |
| Spezialisten. Als mein Lektor und ich mal über das Thema sprachen, fiel uns | |
| keins ein, das die Geschichte der Revolution auch als Geschichte von | |
| Menschen erzählt. Eines, das versucht, die Ziele der Revolutionäre zu | |
| verstehen, ohne sich mit dem kommunistischen Dogma gemein zu machen. Die | |
| Rolle meines Buches ist die einer erzählerischen Einführung. | |
| Sie schreiben darin: „Zwielicht, selbst Zwielicht, an das man sich nur | |
| erinnert, ist besser als gar kein Licht.“ Wo sehen Sie das Licht bei dieser | |
| Revolution, die der Ausgangspunkt für eine der grausamsten Diktaturen | |
| überhaupt war? | |
| Natürlich hat der Bolschewismus den Keim des Stalinismus schon in sich | |
| getragen. Aber es war nicht der einzige Keim. Der Drang hinter der | |
| Revolution, gegen die Ausbeutung aufzustehen, das macht dieses Projekt bis | |
| heute wert, verteidigt zu werden. Dem nachzuspüren, wie daraus diese | |
| grausame Diktatur werden konnte, ist eines der Ziele meines Buches. | |
| Muss man in Westeuropa aufgewachsen sein, um noch positives Potenzial in | |
| dieser Revolution zu sehen? | |
| Ich verstehe jeden, der in dieser grotesken Fake-Vorstellung von | |
| Sozialismus aufgewachsen ist und damit nichts mehr zu tun haben will. Kurz | |
| nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime waren die Reaktionen auf | |
| meine linken politischen Ansichten in Osteuropa immer sehr heftig. Da | |
| konnte ich noch so sehr versuchen zu erklären, wie sehr auch ich diese | |
| Regime verabscheute. | |
| Oft ist das dort heute noch so. | |
| Der Tenor solcher Diskussionen verändert sich aber mit der Zeit, die | |
| Unmittelbarkeit der Traumata verblasst. Zugleich gibt es leider eine | |
| wachsende Stalin-Nostalgie in Russland. Und die nationalbolschewistischen | |
| Theorien von Leuten wie Alexander Dugin gewinnen an Einfluss. Der will | |
| keine Gleichheit oder Befreiung, sondern einen extremen russischen | |
| Nationalismus. | |
| Können heutige Linke noch etwas aus der Oktoberrevolution lernen? | |
| Jede Menge. Wir können den Oktober 1917 aber nicht einfach als Schablone | |
| für eine Veränderung heute nehmen. Ganz allgemein können wir daraus lernen: | |
| Die Dinge haben sich schon einmal verändert, sie könnten es wieder. | |
| Dass Wahlen etwas bewegen, glauben Sie nicht? | |
| Parteien, Wahlkämpfe, Wahlen haben Auswirkungen auf soziale Diskurse, auf | |
| Normen, auf Arbeit, Sexualität, Psyche, Ideologie. Das Leben in | |
| Großbritannien ist seit dem Aufstieg von Jeremy Corbyn zum Führer der | |
| Labour Party politisch deutlich weniger bedrückend. Es gibt mehr Raum für | |
| politisches Handeln, für die Hoffnung. | |
| Aber? | |
| Aber ein grundlegender Bruch mit der Logik, dass Profit wichtiger ist als | |
| Menschen, wird mit Wahlen nicht zu erreichen sein. | |
| Sie sind ein Monsterexperte. Wer gibt das bessere Monster ab, Trump oder | |
| Putin? | |
| Beide sind keine guten Monster. Was wirkliche Monster ausmacht, ist ihre | |
| Unmenschlichkeit. Trump ist entsetzlich. Aber es hat etwas Mitreißendes, | |
| dass bei ihm die Schichten dieses höflichen Scheißdrecks, die sonst über | |
| dem politischen Geschäft liegen, einfach nicht da sind. Putin ist ein | |
| brutaler Macher, und ich denke, dass ich ihn als politischen Gegner mehr | |
| respektiere. Respektiere, nicht bewundere. | |
| Beide sind vielen fremd genug, um sie als Monster zu beschreiben. | |
| Alltagssprachlich ist das völlig normal. Es gibt diese Tendenz zu sagen, | |
| dass der Mensch das echte Monster sei. Aber wenn wir ernsthaft über eine | |
| Kultur des Ungeheuerlichen sprechen, dann können wir die Unmenschlichkeit | |
| nicht beiseite lassen. | |
| Was macht ein echtes Monster aus? | |
| Echte Monster sind kulturelle Monster. Wir finden sie in Geschichten, in | |
| der Literatur, in Filmen. Sie sind Metaphern, Träume. Sie spiegeln den | |
| Stoff von Kulturen – Erfolge, Katastrophen, Zweifel – auf einer | |
| verschärften Ebene und machen sie zu einer Art Wahnvorstellung. Die liegt | |
| jenseits des Menschlichen. | |
| Also tut man Monstern unrecht, wenn man sie als Schurken oder Bösewicht | |
| beschreibt? | |
| Ja. Moralität ist für ein Monster nicht wesentlich bestimmend. King Kong | |
| ist nicht böse. Grendel aus der Beowulf-Saga ist nicht böse. Er ist einsam. | |
| Er sucht Rache, er ist wütend. Wenn ich zwischen den Zeilen lese, sind auch | |
| Neugier, Traurigkeit und Selbsthass Teile seines Antriebs. | |
| Wenn Monster eine überscharfe Spiegelung der Realität sind, müssten sie | |
| dann nicht etwas Karikatureskes haben? | |
| Monster haben zwei Eigenschaften, die mir besonders gefallen. Erstens sind | |
| sie unerschöpfliche Metaphern. Manchmal vereinen sie Bedeutungen, die | |
| unmöglich zu vereinen sein sollten. Vampire sind übermenschlich stark und | |
| zugleich extrem verletzliche Junkies, die Blut brauchen. Zweitens haben | |
| Monster eine unmögliche Gestalt: Schuppen, Flügel, Hörner. Diese | |
| Kombination macht Monster so interessant. Man kann sie nicht auf eine | |
| einzige Bedeutung reduzieren, sie weigern sich geradezu. Deshalb eignen sie | |
| sich auch nicht zur pointierten Beschreibung von Trump oder Putin. | |
| Sie kritisieren auch das Schwarz-Weiß in klassischer Fantasy-Literatur. | |
| Hier die bösen Orks, da die guten Elfen. Frustriert es Sie, dass politische | |
| Diskussionen über Brexit, Trump, Flüchtlinge heute genauso schlicht | |
| ablaufen? | |
| Die Darstellung vieler Dinge als schwarz und weiß dient Interessen, das war | |
| immer schon so. Soziale Medien spielen bei der Vergrößerung der Wut eine | |
| Rolle. Weil sie es Menschen einfacher machen, ihre Wut zu zeigen. Mit der | |
| Wut habe ich auch kein Problem. Diesem Gedanken, wir sollten uns alle mal | |
| beruhigen und nett zu einander sein, damit wir zivilisiert miteinander | |
| politisch debattieren können, dem stimme ich überhaupt nicht zu. | |
| Wieso? | |
| Zum Teufel mit zivilisierter politischer Debatte, wir sind in einer Krise, | |
| in einer Katastrophe, so ein Problem wird nicht durch zivilisierte | |
| politische Debatten gelöst. So etwas wird dadurch gelöst, dass man die Wut, | |
| die wir fühlen, nimmt und sie analysiert und sie in die richtige Richtung | |
| richtet, um das Problem wirklich anzugehen. | |
| So rechtfertigen auch Rechtspopulisten ihre entgrenzte Rhetorik. | |
| Man muss präzise sein in seiner Wut. Wenn Menschen wütend auf Banker sind, | |
| okay. Wenn sie so etwas sagen wie „immer diese jüdischen Banker“, überhau… | |
| nicht okay. Das ist momentan im Vereinigten Königreich das große Problem: | |
| Dämonisierung, insbesondere der Muslime. Es gibt einen wachsenden | |
| Protofaschismus, den ich bisher nie so erlebt habe. Deshalb wütend zu sein, | |
| ist eine absolut angemessene und notwendige Reaktion. | |
| Glauben Sie dem Argument, viele Arbeiter würden für rechte Parteien | |
| stimmen, weil die Eliten nicht auf sie hören? | |
| Wann hat die Elite sich jemals einen Scheiß darum gekümmert, was wir | |
| wollten? Es ist ihnen herzlich egal, wie es uns geht, solange wir es uns | |
| gefallen lassen. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einige | |
| Jahrzehnte, in denen eine Situation möglich war, in der viele zwar grummeln | |
| mochten, aber die grundsätzlich stabil war und die Unzufriedenheit im Griff | |
| behielt. Das hatte nichts damit zu tun, auf die Leute zu hören, sondern | |
| damit, die Bevölkerung zu managen. | |
| Verstehen Sie sich als Teil einer Arbeiterklasse? | |
| Technisch gesehen bin ich nicht in der Arbeiterklasse, so als | |
| Selbstständiger. Aber Marx war ja auch nicht wirklich in der | |
| Arbeiterklasse. Ich fühle mich aber in dem Sinne angehörig, dass ich | |
| solidarisch mit der Arbeiterbewegung zusammenstehe, auch wenn ich nicht als | |
| Arbeiterkind aufgewachsen bin. Meine Eltern waren Hippies. | |
| Was heißt das? | |
| Mein Vater betrieb ein alternatives Buchgeschäft, und meine Eltern lebten | |
| in dieser alternativen Kultur. Drogen, Partys, aber auch alternative Kunst | |
| und Dichtung. Man sieht es ein bisschen an meinem Namen: China. Früher | |
| kannten noch viele Menschen den Ausdruck „My old China“, das ist Cockney | |
| für „Mein alter Freund“, aber heute ist das weniger verbreitet. | |
| Sie haben gesagt, nach dem Zweiten Weltkrieg war die Wut der Menschen | |
| gezügelt. Was hat sich geändert? | |
| Es gab diesen Deal: Wir herrschen, geben euch aber ein bisschen ab. Doch | |
| dieser Status Quo bricht zusammen. Und weil wir uns nicht mehr auf dieses | |
| von oben aufgesetzte Quidproquo verlassen können, suchen manche andere | |
| Sündenböcke. Flüchtlinge, Muslime oder sonst jemanden. | |
| Sie verstehen es also, wenn Menschen Rechtsextreme wählen? | |
| Absolut. Es ist ein Riesenfehler und ich setze mich dagegen ein, aber ich | |
| verstehe es. Man muss ausdrücklich unterscheiden zwischen ideologischem | |
| Rechtsextremismus und den Menschen, die ihre Wut unklug ausdrücken. Viele | |
| reden von Populismus, ohne zu verstehen, was sie genau damit meinen. Ich | |
| verstehe es als Symptom des versagenden Modells von Bevölkerungsmanagement. | |
| Ist es eine Aufgabe von Science-Fiction und Fantasy, solche Konflikte zu | |
| spiegeln? | |
| Nein. Aber sie werden es trotzdem tun. Für mich ist es besorgniserregend, | |
| wenn von den Aufgaben der Literatur geredet wird. Literatur sollte keine | |
| allzu bewussten Ziele und Aufgaben haben. Literatur ist eine Art | |
| träumerische Verwandlung dessen, was uns umgibt. | |
| Kann man heute noch Dystopien schreiben? | |
| Es gibt eine Mode der Katastrophe – vor ein paar Jahren waren es Fluten, | |
| dann kommen vielleicht totalitäre Staaten und so weiter. Ich habe auch | |
| schon gedacht: Jetzt ist alles über Zombies geschrieben worden. Und dann am | |
| Ende doch wieder etwas Gutes. Die menschliche Fantasie ist eine tolle | |
| Dystopiefabrik. | |
| Muss man aus einem reichen Land kommen, um sich das Verlangen nach | |
| Dunkelheit leisten zu können? | |
| Ich halte solche Aussagen für gönnerhaften Scheiß. Sie implizieren | |
| moralistisch, Pessimismus sei ein Luxus für verwöhnte Kinder. Dabei gibt es | |
| nicht viel Dekadenteres als Optimismus. Dieses optimistische „Stets voran“ | |
| hat doch etwas Stalinistisches. Pessimismus heißt nicht zwangsläufig | |
| aufzugeben. Mein eigener Aktivismus und meine politische Wut wurden | |
| deutlich vorangebracht, weil ich aufgehört habe, mich für meinen | |
| Pessimismus schuldig zu fühlen, und akzeptiert habe, dass die Zeiten nun | |
| mal schlecht sind. Gerade als Linker kann man nicht so tun, als stünde man | |
| kurz vor dem Ziel, das wäre kindisch. | |
| Sie haben 2001 für die Sozialistische Allianz bei den Wahlen zum Unterhaus | |
| kandidiert. Würden Sie so etwas wieder tun? | |
| Damals stand die Labour-Partei so weit rechts, dass es für uns wichtig war, | |
| ein sozialistisches Programm anzustreben. Heute sitzen in der Führung | |
| gefestigte Sozialisten. Und ich mache Politik als Aktivist. | |
| Ist Schreiben eine Form von Aktivismus? | |
| Schreiben ist per se kein Aktivismus, aber zusammen mit anderen versuche | |
| ich mit einem Magazin eine neue linke Diskussionskultur aufzubauen. Es | |
| heißt Salvage. Wir veröffentlichen Essays, Kunst und Gedichte. Salvage ist | |
| mir unermesslich wichtig und für mich das derzeit aufregendste politische | |
| Projekt. | |
| Warum? | |
| Wir sind eine kleine Gruppe, die aus einer dieser unschönen politischen | |
| Spaltungen hervorgegangen sind. Wir sind alle sehr enttäuscht über das | |
| linke Beharren auf undurchdachten Normen. | |
| Welche linken Normen? | |
| Es gibt diese standardisierten Ideen davon, wie Kampf und Unterdrückung | |
| bildlich darzustellen sind. Ein Stil fast wie eine kitschige Nachahmung | |
| bolschewistischer Propaganda von 1917. Außerdem existiert in der britischen | |
| linken Kultur zu viel Moralismus und Engstirnigkeit. Wir wollen Teil einer | |
| gesünderen linken Kultur sein, in der man auch widersprechen kann, ohne als | |
| Ketzer gesehen zu werden. | |
| Was fehlt Ihnen? | |
| Es fehlt an Demut, an Neugier, es fehlt an nicht-traditioneller Kunst und | |
| Kultur. Vieles in der linken Kultur, in der radikalen Linken | |
| Großbritanniens, ist durch Niederlagen sklerotisch und engstirnig geworden. | |
| In Ihrem in Deutschland neu erscheinenden Buch schreiben Sie über eine | |
| Gruppe Surrealisten, die in einem alternativen Zweiten Weltkrieg gegen ein | |
| von Nazis und Dämonen kontrolliertes Paris kämpft. Was ist für Sie die | |
| Macht des Surrealismus? | |
| Ich erinnere mich immer noch an meine erste Begegnung mit dem Surrealismus, | |
| daran, als Junge in das Museum zu gehen und wie es mir den Atem verschlug, | |
| als ich das Gemälde „Europa nach dem Regen“ von Max Ernst sah. Diese | |
| Verbindung der Politik und des Unbewussten ist wirklich bemerkenswert. Ich | |
| liebe jegliche Kunst, die mich vom Alltäglichen entfremdet, und | |
| Surrealismus ist die Herkunft solcher Kunst. Es ist kein Zufall, dass viele | |
| Surrealisten radikale Aktivisten waren. | |
| Für viele radikale Linke waren Surrealisten einfach Dummschwätzer. | |
| Auf einige trifft es auch zu. Aber viele waren militante | |
| Widerstandskämpfer. Was antikolonialistisches und queeres Denken angeht, | |
| waren ihre Ideen denen anderer Linker Jahrzehnte voraus. Ein Fehler | |
| klassischer Linker ist, dass sie oft so tun, als seien Ästhetik und | |
| Emotionen nur nebensächliche Zusätze der Politik. | |
| Warum sind sie das nicht? | |
| Ästhetik sollte nicht der Ausgangspunkt für Politik sein, aber Politik ist | |
| zwangsläufig auch ästhetisch. Im besetzten Frankreich haben Linke ebenfalls | |
| gesagt, jetzt sei nicht die Zeit, Gedichte zu schreiben. Die Antwort der | |
| Surrealisten war: Das Überflüssige setzt das Notwendige voraus. Man kann | |
| das Notwendige nur machen, weil man das Überflüssige macht, und umgekehrt. | |
| Im Faschismus wurden Emotion und Ästhetik instrumentalisiert. Was ist | |
| falsch daran, wenn Linke in der Politik auf Vernunft setzen? | |
| Es ist gefährlich, wenn Emotionen Anfangs- und Endpunkt der Politik sind. | |
| Aber es gibt keinen Widerspruch zwischen Intellekt und Emotion – | |
| intellektuell zu sein, heißt emotional zu sein. Emotionen in ein | |
| intellektuelles Projekt einzubinden, ist unausweichlich. | |
| Als Ressource? | |
| Als Faktor. Ressource klingt für mich zu zynisch. Die Linken in | |
| Großbritannien hegen oft diese Antipathie für absonderlich blumige Sprache, | |
| aber das ist ein Fehler. Es fehlt eine Art der starken und blumigen | |
| Sprache, die intellektuelle Strenge und die emotionale Kraft von Wörtern | |
| sprachlich verbindet. | |
| Sie wollen Linke mit Kunst und Emotionen versöhnen? | |
| Die Mission von Salvage ist es, Teil einer Bewegung zu sein, die die linke | |
| Kultur offener und belebter und aufregender und radikaler zu machen | |
| versucht. Was Sie gesagt haben, ist ein Teil davon. | |
| Das US-amerikanische linke Jacobin Mag hat Sie gelobt, weil Sie Arbeitern | |
| in Ihren Werken Platz geben. Warum kommt das sonst oft zu kurz? | |
| Das gilt für den Roman ganz allgemein, für den Film auch. Der bürgerliche | |
| Roman ist das Urbild dieses elitären Schreibens, in dem Arbeit und | |
| Arbeiterklasse nur als unsichtbares Anderes aufscheinen. In Fantasy und | |
| Science-Fiction geht es aber oft auch um den Außenseiter, der seinen | |
| eigenen Weg geht, und das ist dann wieder antielitär. | |
| Braucht die Linke heute positive Erzählungen von Autoren wie Ihnen? Eine | |
| Utopie? | |
| Eine utopische Fantasie ist für jede radikale Bewegung von entscheidender | |
| Bedeutung. Aber mit der Idee, die Fantasie solle Linken eine Darstellung | |
| der Zukunft geben, habe ich ein riesiges Problem. | |
| Warum? | |
| Diese Planmodelle sind oft die uninteressantesten Werke. Sie sind | |
| respektlos gegenüber dem, das wir als Revolutionäre erreichen wollen, denn | |
| sie gehen nur wenig über unseren Alltag hinaus. Sie stumpfen das Gefühl des | |
| Anderen ab, das enorm wichtig für jedes emanzipatorische Projekt ist. | |
| Was ist dieses Andere? | |
| Die Bauernutopien vom Schlaraffenland, mit Flüssen aus Wein und Bergen aus | |
| Gebäck, diese Utopien der Sehnsucht und der Leidenschaft für Erholung und | |
| Überfluss, die sind für mich enorm bewegend und ein besonders wichtiger | |
| Teil meines radikalen Erbes. Sie greifen nach diesem besonderen Anderen. | |
| Sie reden von einem Märchen. | |
| Der Neoliberalismus versucht, die Menschen zu bestrafen, wenn sie es wagen, | |
| sich etwas anderes als das Gegebene vorzustellen. Wir müssen die Grenzen | |
| des Möglichen ausweiten. Der Slogan „Eine andere Welt ist möglich“ ist | |
| deshalb für mich enorm wichtig. Er tut gar nicht so, als ob er etwas | |
| Konkreteres ist als allein diese Sehnsucht. | |
| Was ist so wichtig an dieser Sehnsucht? | |
| Sehnsucht ist für mich der Dreh- und Angelpunkt einer ernsten Linken in der | |
| heutigen Zeit. Zwischen Freude, Verzweiflung, Sehnsucht und Realismus zu | |
| vermitteln – es hat fast etwas religiös Anmutendes. Dass ich irgendwie | |
| nicht intellektuell genug wäre, nur weil für mich Sehnsucht eine | |
| unverzichtbare Heuristik ist, ist für mich ein Versagen der sozialistischen | |
| Fantasie. Und der sozialistischen Analyse. | |
| 8 Nov 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Schulz | |
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