# taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: „Hier ist kein Warum!“ | |
> Godards Wettbewerbsbeitrag „Adieu au langage“ nimmt alles auseinander. | |
> Das beginnt mit dem 3-D-Format, das anders ist als bei anderen | |
> 3-D–Filmen. | |
Bild: Héloïse Godet spielt in dem Film, in dem es so etwas wie einen Plot nic… | |
Jean-Luc Godard reist nicht nach Cannes, lieber bleibt er an seinem Wohnort | |
Rolle am Genfer See. So liegt es am Mittwochnachmittag an seinen | |
Schauspielern Héloïse Godet, Kamel Abdelli, Richard Chevallier und Zoé | |
Bruneau, seinen Wettbewerbsbeitrag „Adieu au langage“ bei der Premiere im | |
Grand Théâtre Lumière zu vertreten. Die Stimmung im Saal ist voller | |
Erwartung. „Godard forever!“, ruft ein Fan, bevor die Vorführung beginnt, | |
Applaus ist die Antwort. | |
Dass sich der 83-Jährige dem Festival verweigert, passt gut zum Film. Denn | |
der legt keinen Wert auf Sinnstiftung und Nachvollziehbarkeit. Nichts nimmt | |
er als gegeben hin, nichts zollt er Respekt, alles nimmt er auseinander und | |
arrangiert es neu. Die Dekonstruktion beginnt mit dem Format. Godard wählt | |
3-D, aber er tut dies ganz anders als alle 3-D-Filme. | |
Beharrlich arbeitet er sich an den Aspekten der Dreidimensionalität ab, die | |
den Sehsinn überfordern. Etwa der instabile Bildrand: Die Einstellungen | |
sind häufig so aufgebaut, dass Gegenstände – ein Stuhl, ein Kübel mit einem | |
Baum, ein Fahrrad – sich am Rand oder in einer Ecke ballen, was den | |
Eindruck erweckt, das Rechteck des Bilds bekomme Beulen und die seien kurz | |
davor zu platzen. | |
Andere Einstellungen reizen die Achse, die sich aus der Tiefe des Bilds bis | |
in den Kinosaal erstreckt, auf übertriebene Weise aus, indem sie zahlreiche | |
Objekte und Figuren darauf anordnen; andere verstärken den Schwindel, indem | |
sie mit Spiegeln oder Smartphone-Displays neue Ebenen ins Bild einziehen | |
und dadurch die Koordinaten von vorne und hinten, oben und unten außer | |
Kraft setzen. Und schließlich gibt es eine Szene, die im Grand Théâtre | |
Lumière spontanen Applaus hervorruft: Aus einem Bild von einem Mann und | |
einer Frau löst sich ein weiteres Bild heraus. Es zeigt den Mann, der nach | |
rechts geht, im ersten Bild bleibt er links bei der Frau. | |
## Überforderte Augen | |
Beide Bildschichten koexistieren in einer komplizierten, fluiden | |
Überblendung, die das Auge überfordert. Mir ist, als spannte jemand meine | |
Sehnerven wie ein Gummi, bevor er sie mit Wucht zurückschnellen ließe. Dann | |
die Farben: Immer wieder verändert Godard das Spektrum, indem er es grell | |
und knallig gestaltet. | |
Das sieht aus, als schaute man eine DVD, ohne dass das Scart-Kabel richtig | |
mit dem Fernseher verbunden wäre. Oder, vielleicht, wie das, was ein Hund | |
wahrnimmt. Dazu passt, dass es ein Hund ist, der durch „Adieu au langage“ | |
hindurchführt: Roxy Mieville, ein mittelgroßes Tier mit langer Schnauze, | |
kurzem Haar und einer schönen Fellzeichnung, in dessen Begleitung man durch | |
die Westschweizer Orte Rolle, Nyon und durch deren Umgebung streift. | |
Die Frage, worum es bei all dem geht, erübrigt sich. So etwas wie ein Plot | |
– zwei Paare, zwei nicht harmonisch verlaufende Beziehungen – existiert nur | |
als Ruine; lieber lässt „Adieu au langage“ Versatzstücke aus Literatur, | |
Theorie und Filmgeschichte zirkulieren. Mal denken die Figuren mit Alain | |
Badiou über postdemokratische Zustände nach, mal über Hitlers Aufstieg an | |
die Macht oder über den sowjetischen Gulag. Auch Tierrechte, die Däumlinge | |
des digitalen Zeitalters und der Mangel an Gleichberechtigung von Mann und | |
Frau kommen vor. | |
## Gleichheit und Kacke | |
Keck gerät in diesem Zusammenhang eine Szene im Badezimmer. „Immer wenn ich | |
von Gleichheit rede“, sagt eine der beiden zentralen Frauenfiguren zu ihrem | |
Geliebten, während er auf dem Klo sitzt, „redest du von Kacke.“ | |
Frankenstein taucht am Ufer des Genfer Sees auf, wo ihn Mary Shelley im | |
Sommer 1816 erfand, einmal deutet einer der Männer an, dass man sich dem | |
Diktat der Schamhaarrasur entziehen könnte. | |
Wie wenig dem Regisseur heilig ist, sieht man in einer Szene, in der eine | |
der weiblichen Figuren folgende düstere Geschichte erzählt: Ein Junge fragt | |
seine Mutter auf dem Weg in die Gaskammer: „Warum?“ Daraufhin schreit der | |
SS-Offizier: „Hier ist kein Warum!“ Der Satz stammt von Primo Levi. Man | |
kann lange darüber grübeln, ob das eine nicht hinzunehmende | |
Geschmacklosigkeit ist oder eher eine Geste, die nachträglich den Terror zu | |
unterlaufen versucht, indem sie sich nicht von ihm in Bann schlagen lässt. | |
23 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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