# taz.de -- Spätwerk von Jean-Luc Godard: Aus tausend Fäden vernäht | |
> „Bildbuch“, ein Essayfilm von Jean-Luc Godard, ist aus Fragmenten und | |
> Bruchstücken zusammengebaut. Ein Bild-, Sprach- und Musikwirbel. | |
Bild: Aus den wirbelnden Bildern hier eines in leuchtenden Farben | |
Jean-Luc Godard geht wieder auf Montage, und alle sind sie dabei: die fünf | |
Finger der Hand, die fünf Sinne, die fünf Weltteile, die Bildarchive des | |
Abendlands, und nicht nur des Abendlands, die Tonarchive auch, die Denk- | |
und die Spracharchive erst recht. Die Tonarchive mit sehr viel Musik: der | |
große Scott Walker zum Beispiel, ganz am Anfang kurzer Auszug aus einem | |
Film über ihn, der nach einem Walker-Song den Titel „30 Century Man“ träg… | |
Als „Bildbuch“ in Cannes lief, da lebte Walker noch, jetzt läuft postume | |
Walker-Musik. Wie alle Musik in diesem Film hat sie keine Chance auf | |
Vollendung: Godard spielt sie an, es schwillt (Beethoven), es perlt (Arvo | |
Pärt), es kratzt und schnarrt (Arditti Quartett), schroff oder elegisch, es | |
strebt einer Auflösung entgegen, die niemals kommt, denn abrupt, ganz | |
abrupt bricht die Musik mittendrin, wie man es von Godard kennt, wieder ab. | |
„Nur das Fragment ist authentisch“, zitiert Godard Brecht gegen Ende. Falls | |
das wirklich ein Brecht-Zitat ist, bei Godard weiß man nie. Aus Fragmenten, | |
Bruchstücken, Ausrissen eher, ist dieser Film gebaut, Godards Kollaborateur | |
für Schnitt und Regie dabei: Fabrice Aragno. Das „Bildbuch“ haut sich | |
einem als Verhau aus heranrauschendem, kurz aufgeblendetem, dann gleich | |
wieder verschwundenem Material um Augen, Hirn, Ohren. | |
## Alles andere als maulfaul | |
Manches kehrt wieder, gerade die Musik, aber leitmotivisch wäre schon zu | |
viel gesagt. Niemand kommt all dem hinterher, nicht jedenfalls, wenn eine | |
Deutung gesucht wird für das, was mit diesem Bild-, Sprach-, Musikwirbel | |
gesagt sein könnte über das hinaus, was der Bild-, Sprach-, Musikwirbel, | |
alles andere als maulfaul, in Fragmenten und Zitaten ohnehin die ganze Zeit | |
sagt. Es ist verführerisch, das Brecht-Zitat als Montage-Anleitung zu | |
verstehen, in Wahrheit ist es wohl auch nicht mehr als einer der tausend | |
Fäden, aus denen das „Bildbuch“ zu einem Buch aus Fragmenten vernäht ist. | |
Und was heißt schon „authentisch“. | |
„Montage interdit“, „Montage verboten“, steht da zum Beispiel einmal als | |
Einblendung. Man weiß nicht, woher das stammt, man weiß nicht, wie es sich | |
zum Film als Ganzem verhält, der sich gar nichts und schon gar nicht die | |
Montage verbietet. Zur Methode gehört ihr Dementi. Man kann Dialektik dazu | |
sagen, aber der schiere Selbstwiderspruch war für Godard schon immer die | |
leichteste Übung. Niemand nagelt ihn fest, als neulich in ihrem vorletzten | |
Film die nun auch verstorbene Agnès Varda an seine Tür klopfte, blieb die | |
zu. | |
## Als spräche er aus dem Grab | |
Als es jetzt darum ging, eine deutsche Fassung seines in Cannes mit einer | |
Goldenen Spezial-Palme ausgezeichneten Films zu erstellen, stand die Tür | |
wieder offen: Godard hat die Zitate auf Deutsch aus dem Off eingesprochen, | |
mit der Stimme des alten Mannes, der er ist, es ist, als spräche er aus dem | |
Grab. Am Ende ein Husten, er lacht. | |
Godard zitiert und zitiert, immer wieder auch sich selbst, als wollte er in | |
diesen Film den ganzen Godard noch einmal fassen. Aber auch Google ist als | |
Quelle im lakonisch Namen um Namen nennenden Abspann genannt, und wo alles | |
Zitat ist, ist nichts mehr Zitat. Es ist alles beim Nennwert zu nehmen, und | |
nichts. | |
Es gibt immerhin, wenn nicht Ordnung, so doch eine Struktur. Fünf Kapitel, | |
wie die fünf Finger, wie die fünf Sinne, wie die fünf Erdteile: „Remakes“ | |
heißt das erste, ein zweites „Die Soireen von St. Petersburg“, das dritte | |
„Diese Blumen zwischen den Gleisen, im wirren Wind der Reisen“ (angeblich | |
ein Rilke-Zitat; dieses Kapitel ist voller großartiger Ausschnitte aus | |
Szenen mit Zügen in den diversesten Filmen), „Der Geist der Gesetze“ (nach | |
Montesquieu) das vierte. Das letzte, längste, wichtigste trägt den Titel | |
„La région centrale“, wie ein Film von Michael Snow, aber wer weiß, wohin | |
dieser Verweis wieder führt. | |
## In einem fiktiven Golfstaat | |
Das fünfte Kapitel jedenfalls führt in den Osten, in den arabischen Raum. | |
Es ist fast etwas wie eine Verfilmung, in gefundenen und oft verfremdeten | |
Bildern und Bildfragmenten, eines wenig bekannten Romans des ägyptischen, | |
auf Französisch schreibenden Autors Albert Cossery. Er spielt in einem | |
fiktiven Golfstaat namens Dofa. Hier verdichten sich Bilder aus dem | |
arabischen Raum, auch Aufnahmen des IS, Handy-Filme von Anschlägen mischt | |
Godard unter. „Können die Araber sprechen?“, lautet einmal die Frage auf | |
der Tonspur, Anspielung auf Gayatri Spivaks postkoloniales Schlüsselwerk | |
„Can the Subaltern Speak?“ | |
Godard spricht hier nicht „für“ den arabischen Raum, wie er ohnehin nicht | |
„für“ etwas spricht, nicht einmal oder schon gar nicht: „für sich selbs… | |
Aber wie er in diesem Spätwerk nun die Archive des Westens für den | |
arabischen Raum öffnet, das lässt sich auch als Umwendung des Abgesangs auf | |
das Abendland lesen, der der „Film Socialisme“ von 2010, war. Vielleicht | |
lautet Godards letztes Wort in diesem Film nicht umsonst: espérance. Also | |
Hoffnung. Das letzte Bild: Frenetischer Tanz (ein Ophüls-Film), bis einer | |
umfällt. | |
3 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
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