# taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: Sternstunde der Kunstvermittlung | |
> Wim Wenders porträtiert den Fotografen Sebastião Salgado. Was seinem Film | |
> fehlt, zeigt Frederick Wiseman: ästhetische Analyse. | |
Bild: Wim Wenders (M.) mit seiner Frau Donata und Koregisseur Juliano Ribeiro S… | |
Bevor am Samstag Abend im Grand Théâtre Lumière die Palmen verliehen | |
werden, möchte ich auf zwei sehr unterschiedliche Filme hinweisen, die sich | |
intensiv mit Bildern beschäftigen. | |
Der erste, „The Salt of the Earth“, läuft in der Nebenreihe Un Certain | |
Régard und stammt von Wim Wenders und Juliano Ribeiro Salgado; die beiden | |
haben den brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado porträtiert, der für | |
spektakuläre Schwarz-Weiß-Bilder bekannt ist. Er fotografiert Schildkröten | |
und Gletscherlandschaften, aber auch Arbeiter an Maschinen, in Minen und | |
Manufakturen oder die Feuerwehrleute aus aller Welt, die 1991 die | |
brennenden Ölquellen in Kuwait zu löschen versuchen. Als Mitte der 80er | |
Jahre in Äthiopien hunderttausende Menschen verhungern, ist er vor Ort; als | |
Hutu-Milizen 1994 in Ruanda Tutsi und moderate Hutu ermorden, hält er den | |
Genozid fotografisch fest. | |
Ein wesentlicher Teil von Salgados fotografischem Werk bildet also Menschen | |
ab, die in Extremsituationen gefangen sind, oft sind es Menschen an der | |
Schwelle zum Tod und jenseits davon. Seine Bilder kosten die Palette | |
zwischen Schwarz und Weiß voll aus, und immer sind sie extrem gut | |
komponiert. In einer Szene des Films sieht man eine Walrossherde, zwei | |
Bullen kämpfen, doch deren Anblick macht nicht viel her. Dem in diesem | |
Moment entstandenen Schwarz-Weiß-Foto dagegen wohnen ein Kontrastreichtum | |
und eine Dramatik inne, als rängen Gott und Teufel höchstpersönlich | |
miteinander. | |
Wenders und Juliano Ribeiro Salgado, der Sohn des Fotografen, hätten die | |
Chance, Salgado zu fragen, warum er seine Bilder so spektakulär anlegt. | |
Welche Reflexionen – ästhetischer wie ethischer Art – gehen der Aufnahme | |
eines toten Körpers voran? Reicht es zu sagen, die Welt müsse den Schrecken | |
sehen? Oder haben nicht auch Hungertote in Äthiopien eine Würde, die | |
verletzt wird, wenn man zeigt, wie sie von einem Bulldozer fortgeschoben | |
werden? | |
Genauso wenig erfährt man über die Entstehungsbedingungen der Fotografien. | |
Einmal wird zwar erwähnt, dass Salgado die Nichtregierungsorganisation | |
Ärzte ohne Grenzen begleitet, ein anderes Mal ist kurz von der UN die Rede, | |
doch nie geht es darum, wie er die Reisen finanziert oder welche | |
Schutzmaßnahmen er braucht, wenn er in Krisengebiete reist. Stattdessen | |
spricht Salgado ausführlich davon, dass er in einer brasilianischen | |
Goldmine glaubte, dem Turmbau von Babel beizuwohnen, oder dass er in Kuwait | |
geradewegs in die Hölle zu schauen meinte. | |
Zum Glück gibt es Frederick Wiseman! Von dem 84 Jahre alten | |
US-amerikanischen Dokumentaristen stammt „National Gallery“, ein Porträt | |
des gleichnamigen Londoner Museums. Es läuft in der Quinzaine des | |
réalisateurs, und es ist eine Sternstunde der Kunstvermittlung. Alles, was | |
bei Wenders und Ribeiro Salgado fehlt, ist hier im Überfluss vorhanden: | |
ästhetische Analyse, Erklärungen zum Entstehungskontext, die profunde | |
Kenntnis von Materialien, Techniken und den literarischen, mythologischen | |
und biblischen Hintergründen der Gemälde. | |
Wiseman macht niemals direkte Interviews, also filmt er Kunsthistoriker, | |
die die Besucher durch die Ausstellung führen, oder Kuratoren, die einem | |
Fernsehteam gegenüber mit leuchtenden Augen ihre Arbeit beschreiben. In | |
einer Szene sieht man Blinde, die sich Camille Pissarros „Boulevard | |
Montmartre, Effet de nuit“ (1897) aneignen. Sie haben eine Tafel vor sich, | |
die die Linien des Bilds mit kleinen Erhebungen wiedergibt, den Rest | |
besorgen die anschaulichen Worte der Kunsthistorikerin, die von v-förmigen | |
Räumen, vertikalen Linien, Lichteffekten und dem Fluchtpunkt in der | |
Bildtiefe spricht. Was eine Freude, ihr zuzuhören! | |
24 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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