# taz.de -- Film über Landleben in Brasilien: Ein Herz für Rinder | |
> Ländliches Leben, Viehdiebe, Freundschaft und Rodeo: Davon erzählt der | |
> Spielfilm „Querência“ von Helvécio Marins Jr. | |
Bild: Für Branco (beim Rodeotraining) sind die Politiker „die da oben“, Le… | |
Als die Dämmerung anbricht und die Sonne für einen kurzen Moment den Himmel | |
noch einmal spektakulär in Farbe taucht, bewegen sich die Silhouetten der | |
Landarbeiter vor dem bunten Hintergrund wie in einem Scherenschnittfilm. | |
Bald wird es stockdunkel sein in der abgelegenen Gegend von Unaí. In dieser | |
von Viehzucht geprägten [1][Region Minas Gerais], im Landesinneren | |
Brasiliens, hat der Filmemacher Helvécio Marins Jr. mit einheimischen | |
Laiendarstellern seinen Spielfilm realisiert. | |
Mit der zurückhaltenden Beobachtung eines Dokumentarfilms begleitet die | |
Kamera in „Querência – Heimkehren“ den Alltag des dreißigjährigen Marc… | |
der als Cowboy meist zu Pferd für einen Farmer arbeitet. Einzelne | |
Nahaufnahmen führen den Blick dicht an die dampfenden Körper der buckligen | |
Nelore-Rinder heran oder verfolgen die geschickten Handgriffe der | |
Rinderhirten. | |
Tausende Kilometer von den lärmenden Megametropolen Rio de Janeiro und São | |
Paulo entfernt, leben Marcelo, seine Kollegen und Freunde im Landesinneren | |
in enger Verbundenheit mit den Tieren und der Landschaft ein Leben ohne | |
WLAN und mit schlechtem Handyempfang. | |
## Die ländliche Idylle ist nicht paradiesisch | |
Ihren Kühen geben sie Namen: Keks, Lampion, Lila oder Japan. Doch die | |
ländliche Idylle ist nicht paradiesisch. Marcelos Leben ist im Umbruch, | |
nachdem er Opfer eines brutalen Überfalls geworden ist. Organisierte | |
Viehdiebe hatten den Cowboy mit Waffengewalt gezwungen, die ihm anvertraute | |
Rinderherde in die bereitstehenden Trucks zu verladen. | |
Danach will Marcelo die Hühner verkaufen und seine eigenen Kühe versteigern | |
lassen. Den Job auf der Rinderfarm hat er gekündigt, und er zieht aus dem | |
Haus, wo sich der Vorfall ereignet hat, aus. In dieser Lebenskrise rettet | |
ihn seine Begeisterung für das Rodeo. Unter ihrem Motto „Treme terra“ („… | |
Erde soll beben“) organisieren Marcelo und seine Freunde den beim Publikum | |
so beliebten Wettbewerb. Das Gatter öffnet sich, die Reiter preschen für | |
Sekunden auf den wild gewordenen Bullen in die Arena zu. | |
Ausstaffiert mit neuem Hut und kariertem Hemd, heizt der sonst | |
introvertierte junge Mann die Stimmung der Zuschauer an: „Ich bin Cowboy | |
und Rodeoansager. Ich bin schlau wie ein Fuchs, stark wie ein Pferd. Für | |
die, die mich nicht kennen: Ich bin Marcelo de Sousa!“ Gemeinsam mit seinem | |
Kumpel Kaic rappt er über ihre Herkunft, das Leben auf dem Land und die | |
Politik. | |
Es ist 2016, das Jahr der umstrittenen Amtsenthebung der brasilianischen | |
Präsidentin der Arbeiterpartei, Dilma Roussef. Die Verbitterung angesichts | |
der politische Situation in dem Land ist deutlich spürbar. Trotzdem deutete | |
sich der dramatische Machtwechsel, wie ihn Brasilien mit der Wahl des | |
rechtsextremen Jair Bolsonaro 2018 erleben musste, noch nicht an. | |
## Politiker, das sind „die da oben“ | |
„Die denken, wir sind dumm.“ Politiker, das sind für Marcelo, Branco und | |
Kaic „die da oben“ – Leute aus der Stadt, die das Leben in der Provinz | |
nicht kennen und nicht verstehen. Nach Feierabend in der Runde machen sie | |
Witze über die „Happy Hour“ der „Yuppies“ in der Stadt. Ihre Realität… | |
am Rio Urucuia ist eine andere. Im Radio läuft ein Gitarrensong von Tavinho | |
Moura – kein Samba, kein Bossa Nova. | |
Im Forum der Filmfestspiele in Berlin feierte „Querência“ im Februar 2019 | |
seine Premiere. In dem überzeugenden Festivalbeitrag lenkt Helvécio Marins | |
Jr. höchst aktuell die Aufmerksamkeit auf eine politisch vernachlässigte, | |
entlegene Region Brasiliens, deren Bewohner in bescheidenen Verhältnissen | |
unbeirrt der täglichen Arbeit auf dem Land und mit dem Vieh nachgehen. | |
Eine besondere dramaturgische Stärke beweist „Querência“ in seiner | |
narrativen Offenheit. Durch Beobachtung erschließen sich dem Zuschauer die | |
vage formulierten Beziehungen der Protagonisten zueinander. Auch die | |
Zusammenhänge von Marcelos Handeln und die Chronologie des Überfalls werden | |
erst allmählich deutlich. Spannungsvoll werden knappe Andeutungen und | |
Gespräche unter Freunden schließlich am Ende durch eine überraschenden | |
Meldung in den Abendnachrichten ergänzt. | |
Gemeinsam mit dem Kameramann Arauco Hernández Holz und im Zusammenspiel mit | |
den lokalen Darstellern gelingt es dem 1973 in Belo Horizonte geborene | |
Filmemacher, mit starken Bildern und sparsamen Dialogen eine komplexe und | |
facettenreiche Geschichte über eine abgehängte Gesellschaft in einer | |
Landschaft voll spröder Schönheit zu erzählen. In deren Zentrum stehen | |
Marcelo de Sousa, seine Aufrichtigkeit, seine Freundschaft und | |
Leidenschaft. | |
21 Nov 2019 | |
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[1] /Debatte-Semler-ueber-Grundgesetz/!5162803 | |
## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
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