Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte Semler über Grundgesetz: Die Angst vor dem Plebiszit
> 1989 wurde die Chance verpasst, die Verfassung zu überarbeiten. Eine
> Revision ist aber bis heute nötig
Dass es sich in einer provisorischen Unterkunft auch auf Dauer einigermaßen
leben lässt, beweist das Grundgesetz, dessen Einführung sich gerade zum
sechzigsten Mal jährt. Seltsamerweise wird dieses Datum in der öffentlichen
Diskussion kaum mit der zweiten Geburtstagsfeier dieses Jahrers, der
zwanzigsten Wiederkehr der friedlichen Revolution in der DDR in Verbindung
gebracht.
Der Grund für diese sorgfältige Trennung der Feierlichkeiten liegt auf der
Hand: Auf beide Feiern fiele ein Schatten. Denn 1989/90 wurde eine große
Chance vertan. Es wäre möglich gewesen, die Revolution in der DDR in eine
neue Verfassung münden zu lassen. Daraus hätte die Initialzündung für eine
Verfassungsdiskussion in beiden deutschen Staaten werden können. Deren
Ergebnis wäre eine neue Verfassung des geeinten Deutschland gewesen. "Wäre,
hätte". Es geht nicht darum, einer verpassten Möglichkeit nachzutrauern.
Sondern Ursachen späterer Fehlentwicklungen im Verhältnis der Ost- zu den
Westdeutschen aufzuzeigen. Wenn möglich, aus ihnen zu lernen.
Folgen wir dieser zweiten Bestimmung, so geht es bei der Verfassungsgebung
um die Selbstverständigung der Gesellschaft über die Grundzüge seiner
gesellschaftlichen Ordnung. In der Verfassung sagt die Bevölkerung "Wir".
"Wir sind das Volk" war daher eine Verfassungsparole. Wir, die wirklich,
auf den Strassen Leipzigs demonstrierende Bevölkerung übt die Staatsgewalt
aus. Und nicht der abstrakte, ungreifbare Begriff in dem Satz "Alle
Staatsgewalt geht vom Volke aus" ."Aber wo", fragte Brecht, "geht sie hin"?
Zwischen der Revolution und der Arbeit an einer Verfassung, die die
Errungenschaften dieser Revolution "fasst" besteht ein notwendiges
Folge-Verhältnis. Erst die Institutionen der Verfassung stabilisieren die
revolutionären Errungenschaften. Eine solche Verfassung muss sozial
inklusiv sein, sie muss alle betreffen und muss durch Volksentscheid
beschlossen werden. Hannah Arendt hat in ihrem Werk "Über die Revolution"
von der Verfassung als gesellschaftlichem Gründungsakt gesprochen, als
"constitutio libertatis". Ohne sie verfüchtige sich nichts weniger als die
revolutionäre Energie.
In der DDR ergriffen die am "Runden Tisch" versammelten Bürgerbewegungen
und Parteien genau diese Möglichkeit. Der Verfassungsentwurf des "Runden
Tisches" thematisierte das Verhältnis von Staat und Gesellschaft neu im
Licht der demokratischen Revolution. Er gab den Bürgerbewegungen
Verfassungsrang, stattete sie mit Informations- und Anhörungsrechten aus,
verpflichte die Staatsorgane zur Aktenöffnung, sicherte den individuellen
Datenschutz. Der rücksichtslosen Ausbeutung der Natur begegnete er mit
Schutzbestimmungen, befestigte die Gleichstellung der Geschlechter. Auch
bei den sozialen Grundrechten beliess er es nicht bei schieren
Programmsätzen, sondern statuierte Verwirklichungsbestimmungen als Teil der
grundrechtlichen Garantien.
Revisionsbedürftige Verfassung
Wäre diese Verfassung von der Bevölkerung der DDR beschlossen worden, so
hätten ihre Vertreter mit selbstbewusster Würde in die Verhandlungen zur
deutschen Einheit eintreten können. Sie hätten eine Vorleistung erbracht.
So aber verhandelte Wolfgang Schäuble die Einigungsdokumente vor allem mit
sich selbst.
Dabei bedurfte das Grundgesetz der Bundesrepublik 1989 einer grundlegenden
Revision. Allzu deutlich haftete ihm das Misstrauen an, das 1949 ihre Väter
(plus drei Mütter im Parlamentarischen Rat) gegenüber jeder Form
unmittelbaren Volkswillens, also der direkten Demokratie hegten. Sie hingen
dem damals populären Irrglauben an, die plebeszitären Elmente der Weimarer
Verfassung hätten Hitler an die Macht gebracht. Das Grundgesetz
berücksichtigte ferner nur rudimentär soziale Grundrechte und seine
"Neutralität" im Bezug auf die Wirtschaftsverfassung war stets scheinhaft
gewesen. In der Frage der Staatsorganisation bedurfte der Föderalismus
einer Neubestimmung.
Schliesslich umging das Grundgesetz weitgehend die Rechte derer, die nicht
für sich selbst sprechen konnten. In erster Linie die "subjektlose" Natur.
Zur Bearbeitung all dieser Fragen bot der Entwurf des "Runden Tisches"
wertvolles Ausgangsmaterial.
Das Diskussionstabu
Man könnte nun sagen, die DDR-Bevölkerung hat es nicht anders gewollt,
während in der Bundesrepublik von vorne herein kein Interesse an einer
neuen Verfassung bestand. Daran ist richtig, dass die März-Wahlen 1990 in
der DDR den Sieg der von der Bundesrepublik gesponserten Parteien brachte,
womit die Grundsätze der westdeutschen Parteiendemokratie adaptiert wurden.
Dieses Argument verdeckt nun die zentrale Rolle, die die konservativen
westdeutschen Politiker und ihre Verfassungsjuristen bei der Abwehr jeder
ernsthaften Verfassungsdiskussion in Deutschland spielten.
Auch nachdem der Weg der Vereinigung über den Anschluss der neu gegründeten
DDR-Länder an das Grundgesetz beschlossen worden war, wäre eine neue
deutsche Verfassung auf dem Boden der Einheit möglich gewesen. Die
schließlich eingerichtete Verfassungskommission versandete und die
nachfolgenden Beratungen des Bundestages brachten kaum nennenswerte
Änderungen zustande. Nichtbeachtung war auch das Schicksal des
Verfassungsentwurfs für einen "demokratisch verfassten Bund deutscher
Länder", der 1991 in der Paulskirche vorgestellt wurde.
Die Folgen des damaligen Fehlschlags wirken auch im Bezug auf
Verfassungsfragen bis heute fort. Dies zeigte sich exemplarisch, als nach
dem Votum Irlands der Lissabonner Vertrag fürs erste gescheitert war.
Damals machten Jürgen Habermas und Daniel Cohn-Bendit den Vorschlag, in der
gesamten Europäischen Union eine Volksabstimmung zum Vertragswerk
durchzuführen. Dadurch hätte sich die Möglichkeit der Selbstverständigung
der Europäer über die zukünftige Gestaltung Europas gegeben. Der Vorschlag
wurde von den politischen Eliten nicht einmal erwogen.
CHRISTIAN SEMLER
20 May 2009
## AUTOREN
Christian Semler
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.