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# taz.de -- Filmemacher über Dokumentarfilm: „Ihr ganzes Leben ist eine Werk…
> In der „Hauptstadt der Jeans“ in Brasilien arbeiten die Menschen als
> Sklaven ihrer selbst. Marcelo Gomes porträtiert sie in seiner Doku.
Bild: Mag Menschen: der brasilianische Filmemacher Marcelo Gomes
taz: Marcelo Gomes, mit „Estou Me Guardando Para Quando O Carnaval Chegar“
(Waiting for Carneval) sind Sie zum dritten Mal mit einem Beitrag auf der
Berlinale vertreten. 2017 präsentierten Sie [1][ihren historischen
Spielfilm „Joaquim“] im Wettbewerb. Ihr aktueller Dokumentarfilm führt nun
nach Toritama, in die „Hauptstadt der Jeans“ im Nordosten Brasiliens. Gibt
es eine Verbindung zwischen diesen so unterschiedlichen Formaten?
Marcelo Gomes: Ich mag es als Filmemacher, unterschiedliche Wege zu
beschreiten. Alle meine Filme sind verschieden, gleichzeitig haben sie aber
auch etwas gemeinsam – ich mag Menschen und in den fiktionalen Filmen
verfolge ich ihre Entwicklung.
Das Städtchen Toritama im Nordosten Brasiliens lernten Sie als Kind in den
siebziger Jahren kennen. Was verbinden Sie mit dieser Gegend?
Weil ich das jüngste von sechs Kindern war und meiner Mutter immer viel
Arbeit machte, begleitete ich meinen Vater regelmäßig auf seinen
Dienstreisen von Recife in die Region Agreste im Inneren des Bundesstaats
Pernambuco. Diese ersten Reisen haben mich als Kind stark beeindruckt. Das
war eine komplett neue Welt für mich. Die Leute wohnten abgeschieden, weit
voneinander entfernt. Sie waren ärmer und lebten traditioneller, aber
begegneten mir mit großer Herzlichkeit. Anders als an der Küste, ist die
Landschaft sehr trocken.
Und wie entstand die Idee zu dem Dokumentarfilm?
Nach vielen Jahren machte ich auf dem Weg zu einem Filmfestival in der Nähe
wieder in Toritama Halt. Dort hörte ich diese Geschichte vom Karneval, die
mich sofort begeisterte.
Die Kleinstadt ist vor allem für ihre Jeansproduktion bekannt. 20 Millionen
Stück von dem „blauen Gold“ werden dort jährlich hergestellt. Was ist das
Besondere an diesem Ort?
Es gibt sicher viele Dokumentarfilme über Sweatshops in China oder Indien.
Aber in Toritama gibt es einen Karneval und das ist etwas ganz Großes in
Brasilien. Ein einziges Mal jedes Jahr werden die Regeln des
Neoliberalismus übertreten. Und du sagst dir, ganz egal, ich verkaufe alles
und geh da hin. Danach fängst du wieder von neuem an zu arbeiten und
Kapital zu akkumulieren. Aber wenigstens hast du etwas nur für dich selbst
gemacht.
Die Gegend war immer sehr arm. Wenn es Arbeit gab, waren die Leute bereit,
sich selbst auszubeuten. Das machen sie heute auf so radikale Weise, dass
sie sich selbst versklaven. Sie sind begeistert davon, ihr eigener Chef zu
sein, ein selbstständiger Arbeiter. Aber das ist eine Lüge, sie arbeiten
als Sklaven ihrer selbst.
Anders als in der Textilindustrie in China oder Bangladesch findet die
Produktion nicht in großen Fabriken, sondern in sogenannten „Factions“
statt – umgebauten Hühnerställen, ehemaligen Garagen und in Wohnungen.
Ihr Esszimmer, ihre Küche, ihr ganzes Leben ist eine Werkstatt. Auf die ein
oder andere Weise repräsentiert dieser Mikrokosmos eine Welt, in der wir in
der Falle der Selbstversklavung sitzen. Dank Internet und WhatsApp gehst du
nicht mehr von neun bis fünf in eine Fabrik. Nein, du arbeitest von neun
bis neun und die E-Mails beantwortest du samstags und sonntags.
Wie sind Sie mit den Bewohnern in Toritama ins Gespräch gekommen?
Als ich mit meinem Team ankam, fragten mich die Leute, „woher kommst du?“
Ich antwortete: „Meine Familie stammt aus San Caetano, hier in der Nähe.“
Das kannten sie und hörten meinen ähnlichen Akzent. Vielleicht klappte die
Annäherung dadurch einfacher und sie fassten Vertrauen zu mir. Ich wollte
auch keine denunzierende Dokumentation machen – „schaut her wie schrecklich
ist diese Arbeit.“ Ich wollte die Menschen dahinter zeigen, ihre Träume und
Wünsche im Leben.
Einer von ihnen ist Leo, der sich seine ganz eigenen Gedanken über die
Arbeit und den Kapitalismus macht.
Toritama ist anachronistisch und Leo ist ein Schelm und eine Art Prophet
dieser widersprüchlichen Welt. Die Interviews, die wir mit ihm während der
Arbeit inmitten all der anderen arbeitenden Personen führten, zeugen von
großer Intimität. Und als dann der Zeitpunkt kam, den Karneval zu filmen,
dachte ich, es wäre sehr viel schöner, ihm und seiner Familie eine
Videokamera mitzugeben, um diese freie Zeit mit ähnlicher Vertrautheit
festhalten zu können. Sie waren damit einverstanden.
Der Karneval ist der einzige Moment in Toritama, an dem die Nähmaschinen
stillstehen. Der ganze Ort scheint für die Feiertage ans Meer aufzubrechen.
Trotzdem reicht für viele das Geld am Ende nicht, um diese Tage am Strand
verbringen zu können, und so verkaufen sie ihre Kühlschränke, Motorräder
oder Fernseher.
Noch mehr beeindruckte mich, festzustellen, wie schwierig es war, jemanden
zu finden, der bereit war, darüber zu sprechen. Du verkaufst vielleicht
dein Sofa oder deinen Kühlschrank, aber du sagst niemandem, dass es für den
Karneval ist. Denn dann hättest du versagt.
Wenn man im Internet nach Jeans aus Toritama sucht, stellt man fest, dass
nur wenige Produzenten eine eigene Website unterhalten und kaum jemand von
ihnen einen Vertrieb anbietet. An welche Kundschaft wird die Ware verkauft?
Im Vergleich zum Südwesten ist der Nordosten Brasiliens immer schon ärmer
gewesen. Hier produziert man zu günstigeren Preisen, vielleicht mit etwas
niedrigerer Qualität. Die Leute, die in den Ortschaften im Nordosten kleine
Läden betreiben, kaufen dafür in Toritama ein. Etwas hochwertigere Jeans
werden inzwischen auch nach Afrika, Portugal und Spanien exportiert. Aber
ursprünglich wurde die Ware ausschließlich für den Verkauf in den Läden der
Region hergestellt. Und der Markt am Sonntag lebt hauptsächlich von diesen
Leuten. Der Nordosten Brasiliens hat immerhin 40 Millionen Einwohner.
Auffällig am Sortiment ist die ganz eigene Vorstellung von Mode.
Sie produzieren Sachen, wie etwa diesen Rock für die evangelikale Frau. Für
die Hersteller ist es wie in einer Lotterie. Wenn ein Entwurf sich nicht
verkauft, ist das Geschäft kaputt und die Fabrik pleite. Ein ständiges Auf
und Ab.
Gibt es denn so etwas wie evangelikale Mode?
In Toritama gibt es circa zwölf evangelikale Kirchen, auch der
Bürgermeister ist ein Evangelikaler. Die Pfingstgemeinden sind in Brasilien
zu einer mächtigen Lobby geworden, die starken Einfluss auf die Wahl des
neuen Präsidenten genommen haben.
Was erwarten Sie als Filmemacher und Kulturschaffender von der [2][neuen
Regierung Bolsonaros]?
Jair Bolsonaro ist erst seit Kurzem im Amt und ich bin kein Hellseher mit
einer Kristallkugel. Aber es gab in diesen wenigen Wochen schon
Entscheidungen der Regierung, die anschließend durch den Druck der Medien
und durch andere Faktoren zurückgenommen wurden. Ich denke, das zeigt die
Unsicherheit eines Politikers, der nicht darauf vorbereitet ist, ein so
komplexes Land zu regieren.
15 Feb 2019
## LINKS
[1] /Joaquim-auf-der-Berlinale/!5381850
[2] /Lebensraum-von-Indigenen-in-Brasilien/!5556416
## AUTOREN
Eva-Christina Meier
## TAGS
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