# taz.de -- Film und Inklusion: Freiheit inklusive | |
> „Mae goes away“ haben Menschen mit und ohne Behinderung verwirklicht. Der | |
> Film macht Mut, ist aber nur ein erster Schritt. | |
Bild: Schauspielerin Elizabeth Dinh alias „Mae“ macht mal alles anders | |
Irgendwann hat Mae die Faxen dicke und sagt Chris, wie es wirklich war. | |
Dass sie abgetrieben hat. Weil die Vorstellung, ausgerechnet mit ihm ein | |
Kind zu haben, für sie noch schlimmer ist als ein Schwangerschaftsabbruch. | |
„Das“, sagt die Schauspielerin Elizabeth Dinh alias Mae, „ist die zentrale | |
Szene des gesamten Films.“ | |
„Mae goes away“ heißt dieser Film und genau darum geht es: dass eine Frau | |
namens Mae einfach fortgeht, sich aus der Umklammerung ihrer kaputten | |
Beziehung mit dem besitzergreifenden Chris befreit, sich überhaupt von | |
ihrem gewohnten Alltag loslöst, neue Freunde und ein neues Leben | |
kennenlernt und auf der Flucht die Freiheit sucht. | |
Nun wäre dieses Ende des vergangenen Jahres erschienene Roadmovie ein Film | |
unter vielen, wäre er nicht zugleich eine Metapher für Freiheit an sich. | |
Denn „Mae goes away“ ist ein inklusiver Spielfilm. Ausgedacht, geschrieben, | |
gespielt, produziert und präsentiert von Menschen mit und ohne körperliche, | |
geistige und psychische Behinderungen. | |
Die Macher dieses Films entstammen der „[1][compagnons cooperative | |
inklusiver film]“, einem nach Selbstdefinition „internationalen | |
Zusammenschluss von Menschen mit und ohne Handicap, die vor und hinter der | |
Kamera miteinander arbeiten“. „Mae goes away“ ist das zweite gemeinsam | |
realisierte Filmprojekt. Jürgen J. Köster, Diplom-Pädagoge und | |
Gesamtkoordinator bei den compagnons, sagt: „Diese Momente der Befreiung, | |
nach denen Mae im Film auf der Suche ist, spielen für Menschen mit einem | |
Handicap von Geburt an eine ganz besondere Rolle. Es ist kein Zufall, dass | |
sich gerade dieses Thema zum zentralen Element des Films entwickelt hat.“ | |
## Was als schön gilt | |
Köster hat schon 1989 mit Menschen zusammengearbeitet, die „in der | |
Langzeitpsychiatrie weggesperrt waren“, er pflegt einen sehr direkten | |
Umgang mit der Inklusion im Kulturbetrieb. „Auch das ist eine der | |
Botschaften unserer Arbeit: dass es verdammt nochmal echt normal werden | |
sollte, dass Menschen mit Handicap Bücher schreiben, als Journalisten | |
arbeiten, Theaterstücke schreiben oder eben Filme drehen.“ | |
Die Norm ist das aber eben noch lange nicht, im Gegenteil. Was auch und vor | |
allem an der ästhetischen Wahrnehmung und Katalogisierung seitens der | |
Rezipienten liegt. | |
Ein Beispiel für diese Problematik nennen die Autoren des Artikels „Im | |
Zwischenraum: Kunst, Behinderung und Inklusion“ auf der Homepage | |
[2][kubi-online.de]: „Rekonstruieren lässt sich die Reichweite der | |
Irritation in einem Reflexionsbericht einer Studentin, die am Fotoworkshop | |
‚Nobody is perfect – Die Ästhetik der Unvollkommenheit‘ teilgenommen hat… | |
‚Was ich auf dem einen Bild sah, empfand ich nicht als schön, eher im | |
Gegenteil und im ersten Moment war ich enttäuscht. Doch auf dem zweiten | |
Blick nahm ich Abstand von meiner Person und betrachtete es von innen. Und | |
da spürte ich, dass Kunst nicht sichtbar sein muss, sondern lediglich ein | |
kreativer Prozess ist.‘“ | |
„Mae goes away“ löst ähnliche Reaktionen aus, und Regisseur Köster wird … | |
sogar ganz recht sein: „Mag sein, dass der eine oder andere den Film | |
unterschiedlich bewerten wird, aber uns geht es darum, dass man Menschen | |
mit Handicap aus ihrer Isolation rausholen kann, um mit ihnen so etwas | |
Tolles wie einen kompletten Spielfilm zu erschaffen.“ | |
## Das Loch der Norm | |
Inklusion als Haltung. Diese Haltung als Fundament für einen Prozess hin zu | |
einer Gesellschaft, in der „Menschen mit und ohne Behinderung | |
repressionsfrei auf Augenhöhe miteinander arbeiten können“. Sagt Achim | |
Ballhausen, Produktionsleiter bei den compagnons, der stolz auf die | |
insgesamt 85 Schauspieler/innen und 21 Set-Mitarbeiter/innen verweist, die | |
an 29 Drehtagen 121 Szenen einspielten: „Zum Casting kamen mehr als 100 | |
Menschen, einige von ihnen waren teilweise gar nicht mobil. Wir haben | |
niemanden weggeschickt.“ Ohne Profis von außen ging es nicht, Kameramann | |
Michael Dreyer filmt normalerweise Bundesligaspiele und war für ARD und | |
ZDF bei der Fußball-WM in Russland im Einsatz, sein Kollege Roland Mayer | |
stand unter anderem für das französische Fernsehen hinter der Kamera, als | |
in Hamburg die Elbphilharmonie eingeweiht wurde. | |
Welche Bedeutung die Arbeit an „Mae goes away“ für die Mitarbeitenden | |
hatte, zeigte sich laut Ballhausen auch daran, dass „nach den Dreharbeiten | |
erst mal viele in ein Loch fielen“. Befreiung auf Zeit – inklusive | |
Kulturleistungen haben in Deutschland weiterhin Seltenheitswert. | |
Die Journalistin Elisabeth Gregull hat sich mit diesem Thema für einen | |
Beitrag auf [3][kultur-oeffnet-welten.de] auseinandergesetzt. Ihr Fazit: | |
„Nicht der Gesundheitszustand an sich ist eine Behinderung, sondern das | |
Umfeld, das keine Zugänge schafft.“ Sie zitiert aus einem Vortrag des | |
tauben Patrick Marx, der als Evaluator für Nueva arbeitet, einem | |
Onlinekatalog, der Menschen mit Behinderung Wohnungen und Arbeitsplätze | |
vermittelt: „Wenn ich als tauber Mensch ins Museum gehe, dann sage ich an | |
der Kasse: Ich möchte mir gerne die Ausstellung anschauen. Ich sage das in | |
Gebärdensprache, aber die Frau an der Kasse versteht mich nicht. Dann | |
schreibe ich vielleicht auf, was ich möchte. Später stehe ich vor | |
Ausstellungsstücken mit komplizierten Beschreibungen, möglicherweise in | |
einer winzigen Schrift. Diese Texte müsste man eigentlich in leichter | |
Sprache formulieren. In Videos fehlen oft die Untertitel.“ | |
Alltägliche Probleme, die sich auf sämtliche Einrichtungen des kulturellen | |
Lebens übertragen lassen – Ausnahmen bestätigen die Regel. Von Hubert | |
Hüppe, dem ehemaligen Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von | |
Menschen mit Behinderungen, gibt es ein dazu passendes Zitat: „Wer | |
Inklusion will, findet Wege; wer sie verhindern will, sucht Begründungen.“ | |
Jürgen J. Köster weiß genau, was Hüppe damit meinte. Seit drei Jahrzehnten | |
sucht er diese Wege, „Mae goes away“, passenderweise ein Roadmovie, ist ein | |
Meilenstein auf dieser Reise ins Ungewisse. „Menschen mit Behinderungen“, | |
sagt er, „werden ständig abgewertet. Ob bewusst oder unbewusst. Warum | |
werden Menschen mit Handicap in Filmen von Schauspielern ohne Handicap | |
dargestellt? Warum sitzt nicht mal eine Frau oder ein Mann mit Downsyndrom | |
bei den ‚Tagesthemen‘ und liest die Nachrichten vor?“ | |
Apropos Behinderung: Ohne die Förderung der Initiative zur sozialen | |
Rehabilitation e. V. und die Aktion Mensch wäre dieser Film gar nicht | |
möglich gewesen, klassische Filmförderung unterstützt inklusive Filme in | |
der Regel nicht. Am Ende klappt kreative Inklusion vor allem dann, wenn man | |
die Dinge so sieht wie die Mae-Darstellerin Elizabeth Dinh. „Wer sich | |
befreien will“, sagt sie am Ende des Gesprächs, „muss sein Leben schon | |
selbst in die Hand nehmen.“ | |
17 Feb 2019 | |
## LINKS | |
[1] http://www.compagnons-film.com | |
[2] https://www.kubi-online.de/ | |
[3] https://www.kultur-oeffnet-welten.de/startseite.html | |
## AUTOREN | |
Alex Raack | |
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