# taz.de -- Schriften zu Anarchie und freier Liebe: Herr Rossi sucht das Glück | |
> Giovanni Rossi gründete 1890 in Brasilien die Kolonie Cecilia. Seine | |
> Berichte erzählen von einer Utopie, die ein schillerndes Experiment | |
> wurde. | |
Bild: Eine Landschaft, die zu utopischen Experimenten einlädt: die südbrasili… | |
Von der Utopie zur Wirklichkeit ist es manchmal gar nicht so weit. Auch | |
wenn das heute schwer vorstellbar scheint, in einer Zeit, in der ernsthafte | |
Diskussionen über revolutionäre Zukunfts- und Gesellschaftsentwürfe oft auf | |
„Thinktanks“ und Universitätsseminare beschränkt bleiben. | |
Noch Ende des 19. Jahrhunderts lag für den 1856 in Pisa geborenen Agronom, | |
Veterinär und Sozialisten Giovanni Rossi die Utopie nur eine Schiffsreise | |
entfernt. Gemeinsam mit einigen Mitstreiterinnen und Mitstreitern bestieg | |
er im Februar 1890 in Genua ein Boot, um wenige Monate später in | |
Südbrasilien, im Bundesstaat Paraná die Kolonie Cecilia zu gründen. | |
Tatsächlich keine Seltenheit zu der Zeit, gerade in Nord- und Südamerika. | |
Anders aber als seine Vorbilder, zu denen unter anderen der Philosoph | |
Charles Fourier und dessen Schüler Victor Considerant zählten, ging es | |
Rossi nicht um die Etablierung der Kolonie an sich, um deren schnelles | |
Wachstum oder um sozialistische Propaganda. | |
Für den Italiener stellte Cecilia vielmehr ein „Teilexperiment | |
socialistischen Lebens“ dar, eine Art Labor zur Erprobung neuer Formen des | |
Zusammenlebens. Denn wie der Utopist Fourier suchte auch Rossi, vor dem | |
Hintergrund der voranschreitenden Industrialisierung, des erstarkenden | |
Kapitalismus und der damit einhergehenden Ausbeutung der Arbeiterinnen und | |
Arbeiter fieberhaft nach alternativen Gesellschaftsformen. Die Ergebnisse | |
seines Kolonie-Experiments hielt der Italiener vor Ort in mehreren Texten | |
fest. | |
Seltsam schöne, kindliche Euphorie | |
Die von Rossis Zeitgenosse und Freund Alfred Sanftleben schon unmittelbar | |
nach ihrer Fertigstellung ins Deutsche übersetzten Schriften aus Brasilien | |
hat der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis jetzt in einem Band versammelt | |
und, benachwortet von dem Lyriker und Übersetzer Tobias Roth, neu | |
herausgegeben. Das ist gut. Denn die etwa 200 Seiten sind im wahrsten Sinne | |
des Wortes merkwürdig. Was nicht nur an der fast kindlichen Euphorie Rossis | |
und an dessen, in den ziemlich dystopischen Zweitausendzehnerjahren schon | |
fast absurd wirkendem, Urvertrauen in die Zukunft liegt. Sondern auch an | |
der unerwarteten Bandbreite der Texte und ihrer Tonlagen – von Brief über | |
Drama bis Tirade. | |
Den Anfang macht ein Bericht von der Gründung der Kolonie. In ihm skizziert | |
Rossi – Agrarwissenschaftler, Tierarzt und Autor – nicht nur penibel genau | |
die in der Kolonie angewandten landwirtschaftlichen Techniken, sondern | |
driftet auch schon mal in eine schwelgend-poetische Sprache ab und verliert | |
sich in ausufernden Landschaftsbeschreibungen. | |
Seinem Entschluss, „frank und frei“ auch von „gewissen unangenehmen | |
Vorfällen“, von den Aufs und Abs Cecilias zu erzählen, scheint Rossi trotz | |
aller Poesie gefolgt zu sein. Nach anfänglichen Erfolgen kommen die ersten | |
Krisen. Als Lebensmittelknappheit der Kolonie zum ersten Mal heftig | |
zusetzt, führt das zum Abschied mehrerer Familien aus Cecilia. Was Rossi | |
wohl nicht ganz unrecht war. Denn die „Familienegoismen“ hatte er schnell | |
als Ursache allen Übels ausgemacht. | |
Dass der Bericht daraufhin zur heftigen Grundsatz- und Brandrede gegen das | |
„Konzept“ Familie mutiert, erscheint deswegen logisch. Für Rossi ist der | |
„familiäre Bannkreis“ Ursprung für Gewalt, Lügen, Korruption und die | |
Unterdrückung der Frau. „In der absoluten Monarchie der Familie“, tobt der | |
Sozialist, „schlägt die Hand des Elenden die Wange der schutzlosen Frau; | |
wachsen die Kinder unter den traurigen Gewohnheiten des Gehorsams auf, in | |
den Gewohnheiten der Verstellung, von dem sehnlichsten Wunsche beseelt, | |
eines Tages auch ihrerseits befehlen zu können.“ | |
Feindbild patriarchale Familie | |
Die Schreckensherrschaft der Familie, das Patriarchat gehöre endlich | |
abgeschafft, schließt Rossi, dessen Worte damit vor dem Hintergrund der | |
gegenwärtigen MeToo-Debatte eine fast unheimliche Aktualität erhalten. Das | |
Gegenrezept? Seiner Tirade lässt der Italiener ein flammendes Plädoyer für | |
die freie Liebe folgen. Auch diese revolutionäre Idee wird in Cecilia – in | |
einer Art Selbstversuch – getestet: Erfolgreich, so Rossi, für den die | |
ungezwungene Verbindung aller mit allen nicht nur freie Entfaltung, sondern | |
insbesondere die Emanzipation der Frau und die Vervollkommnung des eigenen | |
Charakters garantiere. | |
Dass die Kolonie dennoch schon wenige Jahre nach ihrer Gründung in den | |
Wirren des brasilianischen Bürgerkriegs zerfällt, ist für Rossi nicht | |
weiter schlimm. „Meines Erachtens“, schreibt er 1896 in einem Brief an | |
Alfred Sanftleben, „ist Cecilia kein Misserfolg gewesen. Sie war ein | |
Experiment, und ich glaube ein neues in der Geschichte, welches genügend | |
lange gedauert hat, auf dass in ihr die organische Idee der Anarchie auf | |
die Probe gestellt werden konnte. Und sie ist unversehrt hervorgegangen.“ | |
Und doch hat ihn der „Realitätscheck“ Cecilia nicht nur in seinen Ansichten | |
bestätigt. Das zeigt die abschließende, in Roths lesenswertem Nachwort als | |
„gedämpft“ beschriebene, eigenartige „Utopie“ Rossis, mit der er sich … | |
sozialistische Paraná des Jahres 1950 ausmalt. In dem allerdings ist von | |
den cecilianischen Idealen nicht mehr allzu viel übrig. | |
Das Wohl der Menschen scheint vor allem mit der „heiligen Wissenschaft“ | |
verknüpft. Und im Alltag dreht sich vieles um den sozialen Status des | |
Einzelnen, um eine seltsam „klassenähnliche“ Einteilung der Gesellschaft. | |
Ja, Rossis Paraná der 1950er fühlt sich – technisiert, rationalisiert, | |
selbstoptimiert – tatsächlich eher nach heute an und weniger nach | |
Wunschtraum. | |
Doch auch das passt ins Bild. Überhaupt überrascht dieser schillernde Band | |
seine Leserinnen und Leser nicht selten – und bringt sie ins Grübeln. | |
„Cecilia. Anarchie und freie Liebe“ ist ein Versuchslabor gegen die Schere | |
im Kopf und das gesellschaftliche „Immer weiter“. Utopie, wie geht das noch | |
mal? Manchmal hilft das Experiment. | |
29 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Moritz Müller-Schwefe | |
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