| # taz.de -- Leben in Anarchie: Lützi blieb | |
| > Am Rande des Tagebaus leben drei Menschen selbstbestimmt in einer | |
| > Gemeinschaft. Entsteht hier ein Gesellschaftsmodell für die Zukunft? | |
| Bild: Neben dem Dorf Wanlo baggert RWE jeden Tag hunderttausende Tonnen Kohle ab | |
| Wanlo taz | Es brummt in Wanlo. In dem 1.000-Seelen-Dorf mitten im | |
| Rheinland klingt es wie in einer Großstadt. Richtig still ist es in dem | |
| kleinen Ort nie, nicht einmal nachts. Aber das Brummen kommt hier nicht von | |
| Zügen oder Autos, sondern von einem gigantischen Kohlebagger, der im Osten | |
| von Wanlo den Boden wegfrisst. | |
| Elli hört das Dröhnen gar nicht mehr, sie muss sich darauf konzentrieren, | |
| um es wahrzunehmen. „Etwa 500 Meter ist das Loch von hier entfernt“, sagt | |
| die 32-Jährige. Elli spricht rheinischen Dialekt. Sie hat weißblonde Haare, | |
| trägt einen grünen Hoodie und kuschelt mit einem goldbraunen Huhn, das sie | |
| im Arm hält. Sie ist in Wanlo aufgewachsen. „Das Loch“ nennt Elli den 3.000 | |
| Hektar großen Braunkohletagebau Garzweiler, einen der größten Tagebaue in | |
| Deutschland. In seiner Mitte heben sechs Schaufelbagger täglich bis zu | |
| 880.000 Kubikmeter Kohle aus – das ist mehr, als das größte Containerschiff | |
| der Welt auf einmal transportieren kann. | |
| „Auch Wanlo sollte einmal abgebaggert werden. Das wurde aber ganz früh | |
| verhindert, weil die Menschen sich zur Wehr gesetzt haben“, sagt Elli. | |
| [1][Sie ist Anarchistin]. Mit zwei Freund*innen, Ramu und Samu, lebt sie in | |
| einer Gemeinschaft. Sie alle wollen anonym bleiben und in der Zeitung bei | |
| ihren Spitz- und Vornamen genannt werden. Die drei haben sich im ehemals | |
| von Aktivisti [2][besetzten Dorf Lützerath] kennengelernt. Nach der Räumung | |
| im Frühjahr 2023 sind sie auf Ellis Grundstück nach Wanlo gezogen und haben | |
| dort ihre eigene anarchistische Gemeinschaft gegründet. | |
| Der Bewegungsgarten – so nennen die Bewohner*innen das Grundstück – | |
| liegt direkt an einem der Eingänge des Dorfes. Es ist ein ungewöhnlich | |
| warmer Herbsttag Ende September. Beim Gang durch das kniehohe Gras werden | |
| die Hosenbeine nass. In der Feuerstelle in der Mitte des Gartens steht das | |
| Metallgestell eines Stuhls. In einem Baum hängen ausgelatschte Schuhe. | |
| „Spende für anarchistisches Wohnprojekt“ steht auf einem Schild am Balken | |
| eines selbstgebauten Holzgerüstes. | |
| [3][Anarchistisch bedeutet herrscher*innenlos]. Viele | |
| Anarchist*innen wie Elli, Ramu und Samu lehnen jegliche Autorität durch | |
| Vorgesetzte, die Polizei und den Staat ab. Wie Studienergebnisse zeigen, | |
| sind sie nicht die einzigen jungen Menschen, die grundsätzlich mit dem | |
| System hadern: In einer Befragung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung | |
| von 16- bis 30-Jährigen aus diesem Jahr sagte über die Hälfte der | |
| Befragten, dass es keine Partei gibt, dessen Angebot sie überzeugt. Sie | |
| sorgen sich um ihre Zukunft, wünschen sich soziale Kontakte, finanzielle | |
| Absicherung, Klimaschutz, mehr Steuern für Reiche und Gleichberechtigung. | |
| Könnte die Lösung der Anarchismus sein? | |
| ## Politische Teilhabe zurückholen | |
| Olaf Briese prägte innerhalb der Forschung den Begriff der anarchistischen | |
| Doppelhelix. Demnach ist Anarchie laut dem einen Strang ablehnend und laut | |
| dem anderen Strang bejahend. Abgelehnt werden Herrschaft, Kapitalismus und | |
| zum Beispiel die Dominanz RWEs über eine komplette Region. Bejaht werden | |
| die Werte, für die Anarchist*innen einstehen: soziale Gerechtigkeit, | |
| Umverteilung, der Aufbau einer Gemeinschaft. | |
| Schließlich geht es Anarchist*innen im Kern um Problemlösungen. | |
| Bürger*inneninitiativen und Genossenschaften sind die praktischen | |
| Beispiele für den Versuch, sich Selbstbestimmtheit und politische Teilhabe | |
| zurückzuholen. Briese glaubt: „Praktisch gelebte Anarchie, zum Beispiel in | |
| einer anarchistischen Gemeinschaft, ist immer ein positiver, also | |
| bejahender Anarchismus.“ | |
| Bevor die anarchistische Gemeinschaft hier einzog, lebte auf dem Grundstück | |
| eine Gruppe von Klimaaktivist*innen. „Das waren die Menschen, die dann die | |
| Besetzung Lützeraths gestartet haben“, erzählt Elli. Sie seien es auch | |
| gewesen, die den Ort „Bewegungsgarten“ nannten. | |
| Das Grundstück gehörte damals schon ihrer Mutter, mittlerweile gehört es | |
| ihnen beiden. Erst interessierte sich Elli gar nicht so recht für den | |
| Kohlekonflikt. Aber dann wurde ihr die Dominanz von RWE im Rheinland zu | |
| viel. Sie gab ihren Job in der Pflege auf und schloss sich der | |
| Protestgemeinschaft im Bewegungsgarten an. „Es hatte einfach Sinn, hier zu | |
| sein“, sagt sie. | |
| ## Bewegungsgarten als Auffangort | |
| Heute gehören zu der Gemeinschaft im Bewegungsgarten außer den Menschen und | |
| einem Hund noch ein halbes Dutzend Hühner, die sich im Garten frei bewegen. | |
| Sie haben einen kleinen Verschlag für die Nacht, aber kein Gehege. Auch sie | |
| sollen hier [4][nicht beherrscht werden]. „Cracky frisst zum Beispiel total | |
| gerne Styroporkügelchen, die hier manchmal so rumliegen. Was soll ich | |
| machen?“, sagt Elli schmunzelnd und verscheucht zwei Hühner aus dem Wagen, | |
| in dem sich die gemeinsame Küche befindet. „Irgendwann bieten wir auch Eier | |
| aus anarchistischer Haltung an.“ | |
| Die ersten, die sich selbst als Anarchist*innen bezeichneten, waren | |
| Arbeiter im 19. Jahrhundert. Sie organisierten sich global und unabhängig | |
| von Parteien. Im 20. Jahrhundert machten Jugend- und Studierendenbewegungen | |
| die anarchistische Bewegung aus. „Den einen Anarchismus gibt es nicht“, | |
| sagt der Anarchismusforscher Olaf Briese. Er sagt, der Anarchismus ist | |
| gleichermaßen eine Theorie, eine soziale Bewegung und eine praktische | |
| Lebensform. | |
| „Wir wollen nicht nur selber so leben. Wir wollen auch anderen zeigen, dass | |
| man selbstbestimmter leben kann“, erklärt Ramu. Der Bewegungsgarten soll | |
| auch solchen Menschen ein Zuhause bieten, die es woanders nicht so leicht | |
| haben, eine Gemeinschaft zu finden. Die Strukturen und Regeln sollen sich | |
| immer an denjenigen orientieren, die am verletzlichsten sind. In der Praxis | |
| kann es aber je nach Situation unklar sein, wo gerade wessen Bedürfnisse | |
| wichtiger sind. | |
| Auch im Bewegungsgarten gab es deswegen Konflikte. „Da hinten stand mal | |
| eine Holzhütte,“ Samu deutet hinter sich. „Die hat jemand mal wie im Wahn | |
| gebaut.“ Alle ließen ihn machen. Am Ende war die Hütte undicht und Ratten | |
| hatten sich in dem kleinen Häuschen breitgemacht. Die Person hat den Garten | |
| verlassen und andere Bewohner*innen mussten es wieder abbauen. | |
| ## Am Ende braucht es Geld | |
| Menschen haben oft Dinge – teilweise achtlos – im Bewegungsgarten | |
| zurückgelassen. Sogar Laptops waren dabei. Groll auf sie hegen Elli, Samu | |
| und Ramu aber nicht. Sie sehen es eher pragmatisch. So sei das eben, wenn | |
| man jedem eine Chance gibt und keiner den Ton angibt. „Wir haben gesagt, | |
| wenn wir sie nicht verkaufen können, dann bauen wir uns aus den Laptops ein | |
| Dach“, sagt Elli achselzuckend. | |
| Auch Menschen und Strukturen außerhalb der Gemeinschaft sollen so wenig | |
| Herrschaft über sie haben wie möglich. Wo und wie sie leben, womit sie ihre | |
| Zeit verbringen und wo ihr Geld hinfließt, das wollen sie selbst | |
| entscheiden. Ihre Lebensmittel bekommen sie daher von einem Bauern und | |
| einer Bäckerei aus der Gegend – jeweils das, was übrig ist. | |
| Bei der Frage, ob sie deswegen unabhängig sind, schütteln alle den Kopf. | |
| „Du kannst in diesem Land gar nicht leben, ohne dich in | |
| Abhängigkeitsverhältnisse zu begeben“, sagt Samu. Er hat eines der Hühner | |
| auf dem Schoß. „Außer du wirst nie krank, kannst du all dein Essen selbst | |
| produzieren und kannst auf einem Fleckchen Land leben, was groß genug für | |
| einen selbst ist“, zählt er auf. „Und auch das nur, wenn du keine | |
| Gesellschaft brauchst“, fügt Elli hinzu. Denn sobald man in Gesellschaft | |
| leben möchte, braucht man Platz, Strukturen, Essen, Häuser und am Ende eben | |
| oft Geld. | |
| ## RWE gibt den Ton an | |
| Leichter krank wird man auch, wenn man mit mehreren Menschen auf relativ | |
| kleinem Raum lebt, sich Küche und Bad teilt und alle noch dazu häufig | |
| unterwegs sind. „Ich hoffe, dass Ramu uns nicht wie letzten Winter wieder | |
| irgendeine Krankheit anschleppt.“ Elli setzt sich mit einer Tasse auf einen | |
| Hocker neben dem Herd. „Da saßen wir hier in feuchten Hütten bei Regen mit | |
| dieser Seuche und ohne Krankenversicherung“, erinnert sich auch Samu. | |
| „Seitdem ist an Ketchupflaschen nuckeln verboten“, sagt Elli lachend und | |
| nimmt einen Schluck Tee. | |
| Ramu und Samu seien mittlerweile wieder krankenversichert. Sie selbst | |
| aktuell nicht, sagt Elli. | |
| Man könne über vieles im Leben selbst entscheiden, wie etwa darüber, wie | |
| man miteinander umgehen will, wie man sich anzieht, wer man ist. Eine | |
| komplette Unabhängigkeit gebe es aber innerhalb des bestehenden politischen | |
| und gesellschaftlichen Systems in Deutschland nicht, sagt Elli. | |
| Im Rheinland bekommt man die Abhängigkeit besonders zu spüren, denn dort | |
| gibt RWE den Ton seit Jahrzehnten an. Im frühen 19. Jahrhundert wurde hier | |
| das erste Mal Braunkohle abgebaut. Zwei Jahrhunderte später ist das | |
| Rheinische Braunkohlerevier das größte Europas und das Rheinland eine | |
| durchlöcherte Mondlandschaft. | |
| Die Frage, ob der Rohstoff Kohle auch dann aus dem Boden gegraben werden | |
| darf, wenn auf diesem Boden ein Dorf steht, regelt das Bergrecht. Es | |
| übertrumpfte in den letzten Jahrzehnten Denkmalschutz und menschliche | |
| Interessen: Die Würde des Bergrechts war unantastbar. Das Grundstück vor | |
| dem Bewegungsgarten, das dahinter, alle Wiesen links und rechts, sogar der | |
| kleine Grünstreifen neben der [5][Landstraße gehören RWE]. Der | |
| Bewegungsgarten wirkt darin wie das gallische Dorf von Asterix und Obelix, | |
| welches umgeben ist von einem Imperium. | |
| Aber RWE darf nur noch bis 2030 Kohle fördern. Viele Menschen wollen | |
| deshalb in den alten Dörfern etwas Neues aufbauen. Platz ist da, sogar | |
| leerstehende Immobilien gibt es. Und es gibt genug Menschen, die soziale | |
| Kontakte suchen. Der Bedarf, dies in einem anarchistischen Umfeld zu tun, | |
| wächst – davon sind Elli, Samu und Ramu überzeugt. | |
| „Jetzt ist der Zeitpunkt, um die Werte, die wir in Lützerath geteilt haben, | |
| in die Tat umsetzen“, sagt Elli. Viele einstige Besetzer:innen von | |
| Lützerath leben noch immer in der Gegend. „Alle reden heute davon, wie | |
| schön Lützerath war, und haben gar keine Ahnung, wie viele junge Menschen | |
| hiergeblieben sind. Viele von ihnen konnten nach der Räumung nirgendwo | |
| anders hin“, sagt Elli. Deswegen wollen die drei sich dafür einsetzen, dass | |
| hier in der Gegend bald ein queeres Jugendzentrum entsteht. Und damit | |
| fangen die drei auch direkt an. Am nächsten Tag findet im Nachbardorf | |
| Kuckum eine Konferenz zur Zukunft der rheinischen Dörfer statt. | |
| Elli, Samu und Ramu stellen hier ihr Projekt vor und wollen bereits | |
| Hinweise sammeln, wo sie das Jugendzentrum aufbauen können. „Wenn Leute | |
| erst einmal merken, was sie von unten tun können, in ihrer Familie, ihrer | |
| Schule, ihrer Dorfgemeinschaft, dann können sie richtig was verändern“, | |
| meint Ramu. | |
| RWE hat allerdings selbst Pläne für das Rheinland. Rund um Wanlo ragen | |
| umzäunte Rohre aus dem Boden: Pumpen, die das Wasser aus dem Tagebau | |
| fernhalten. In nicht einmal zehn Jahren soll das Wasser den genau | |
| umgekehrten Weg gehen: Die Tagebaufläche soll renaturiert und das riesige | |
| Loch mitten im Rheinland zu einem See werden. Fünf der Dörfer, die | |
| ursprünglich weggebaggert werden sollten, konnten gerettet werden. | |
| RWE soll den ursprünglichen Eigentümer*innen der Häuser in diesen | |
| Dörfern ihr früheres Eigentum zum Rückkauf anbieten, bevor es wieder auf | |
| den Markt kommt. Die 2022 geretteten Dörfer Keyenberg, Kuckum, Ober- und | |
| Unterwestrich sowie Berverath sollen laut Politik zu „Orten mit | |
| Zukunftsperspektive“ werden – das zumindest steht in der Leitentscheidung | |
| der Landesregierung von Mitte September. | |
| ## Anarchismus als einzige Alternative | |
| Die meisten Häuser, die in diesen Orten noch stehen, müssten allerdings | |
| inzwischen kernsaniert werden. Einige Häuser in Keyenberg sind seit 2016, | |
| dem offiziellen Beginn der Umsiedlung des Dorfes, verlassen. Die wenigsten | |
| einstigen Bewohner:innen werden zurückkommen. | |
| Für die Gegend [6][sei Anarchismus die] einzige richtige Alternative, | |
| findet Ramu. Wenn RWE sich nicht um die Dörfer, das verschmutzte Wasser und | |
| die zerstörten Felder kümmere, dann bestehe die Lösung eben darin, all dies | |
| selbst zu verwalten und wieder aufzubauen. | |
| Zwei Tage nach der Konferenz steht Elli in einer der verlassenen Straßen | |
| von Keyenberg. Von hier aus hat man direkten Blick auf das, was einmal | |
| Lützerath war. Sie zeigt auf ein Haus. „Das hier wollen wir für das | |
| Jugendzentrum!“, sagt sie. Einige der Glasfragmente, die die Eingangstür | |
| des weißen Hauses umrahmen, sind zerbrochen, andere fehlen ganz. An der | |
| Hauswand über den Fenstern im ersten Stock steht die Hausnummer zwanzig | |
| ausgeschrieben – als Wort und nicht als Zahl. Kein anderes Haus hier hat | |
| das. Das gefällt Elli. | |
| 26 Oct 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Annika Reiß | |
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