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# taz.de -- Klimaprotest: Ein Dorf ist komplett verschwunden
> Vor einem Jahr begann die Räumung von Lützerath. Es kam zu heftigen
> Zusammenstößen. Polizei und Klimaaktivist*innen ziehen nun Bilanz.
Bild: An den Protesten gegen die Räumung von Lützerath vor einem Jahr beteili…
Aachen taz | [1][Ein Jahr ist es her], dass im rheinischen
Braunkohleterrain Garzweiler die große Demonstration stattfand am damals
berühmtesten Dorf Deutschlands: Lützerath. An die 40.000 Menschen liefen am
14. Januar 2023 bis vor die hermetisch abgeriegelte Festung. Dort hatte
drei Tage vorher die Räumung mit fast 4.000 Polizeikräften begonnen.
Nach tagelangem Dauerregen war es eine der matschigsten Demonstrationen der
jüngeren deutschen Geschichte. Hunderte, auch Polizeibeamte, waren auf den
Feldern immer wieder im tiefen Schlamm stecken geblieben, manche hatten
zwischenzeitlich ihre Schuhe verloren. Polizist*innen fielen um und
krabbelten wie Maikäfer umher. Es war ein groteskes Chaos.
Als einige hundert Kohlegegner*innen, laut Polizei 5.000, den letzten
halben Kilometer nach Lützerath durchzubrechen versuchten, wurden die
Maikäfer rabiat: Wasserwerfer, Reiterstaffeln, Gummiknüppelgewalt.
Erfolgreich. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU)
diagnostizierte damals „linksradikale Umsturzpläne“, heute spricht er von
„radikalen Klimachaoten“.
Eine 30-köpfige Ermittlungskommission der Polizei Aachen zog jetzt Bilanz:
600 Straftaten seien von 467 mutmaßlichen TäterInnen begangen worden, ein
Viertel davon sei aufgeklärt – also drei Viertel nicht. Bislang gab es
genau einen rechtskräftigen Strafbefehl.
## Polizei ermittelt gegen Schlammmönch
Auch der „Schlammmönch von Lützerath“ (Rheinische Post) sei endlich
identifiziert, so die Polizei. Der Mann in der Franziskanerkutte schien wie
mit Gottes Hilfe über dem Schlamm zu schweben, statt einzubrechen und hatte
dabei, so der Tatvorwurf der RP, „feststeckende Polizisten absichtlich
umgeworfen und verhöhnt“. Man kann sich das, empört oder belustigt, [2][auf
Youtube angucken.] Dort ging das Video viral.
Vielleicht aber war es wirklich ein Gottesmann auf Rettungsmission der
Schöpfung. Oder eine als Mönch verkleidete Nonne? Jetzt läuft ein
Rechtshilfeersuchen mit Frankreich, wo der angebliche Mönch angeblich lebt.
Nach anderen möglichen Straftätern sucht die Polizei seit dem Sommer auch
mit Fahndungsbildern: „Wer kennt diesen Mann?“, heißt es da. Zu sehen sind
Menschen, oft sehr grobkörnig, manche mit Pudelmütze oder gleich vermummt.
Bis Anfang Januar kamen immer neue Fotos – zwölf insgesamt; die örtlichen
Medien veröffentlichten pflichtschuldig. Vorwurf: „Tätlicher Angriff auf
Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Landfriedensbruch“. Mutmaßlich
identifiziert wurden zwei der zwölf, teilt die Polizei jetzt mit.
## Kaum Verfahren gegen die Polizei
Und die vielfache, unverhältnismäßige Polizeigewalt? 32 Strafverfahren
gegen Polizeibeamte habe es gegeben, mehrheitlich wegen Körperverletzung im
Amt. 21 dieser Verfahren hat die Staatsanwaltschaft schon eingestellt. Zwei
Fälle sind gerichtsanhängig.
Am 15. Januar waren die letzten der gut 500 BesetzerInnen vertrieben, zwei
junge Männer hatten sich in einem Tunnelsystem vergraben und hielten noch
zwei Tage länger durch, bis sie gegen freies Geleit aufgaben. Am 19. Januar
war das letzte Haus abgerissen, der letzte Baum gerodet. Bagger frei.
Wenige Wochen später war Lützerath verschwunden, im Frühjahr auch das
Kundgebungsgelände von 14. Januar, wo unter anderen die berühmte
Klimaaktivistin Greta Thunberg gesprochen hatte. Die benachbarte Straße
samt allen Bäumen und sieben Windkraftanlagen verschwand im Sommer im
Schredder, beim Altmetallhändler, in Schreinereien oder in der Tiefe.
## Kraterlandschaft
Kohle holt RWE hier nicht mehr raus, es geht ausschließlich um Abraum, um
die teils senkrechten Tagebaukanten ringsherum in den nächsten Jahren
abzuflachen. Dieser Abraum ist einer der besten Mutterböden Deutschlands.
Das verbrannte Innere der riesigen Braunkohlegruben schwebt längst zu
Millionen Tonnen CO2 und Feinstaub klimameuchelnd durch die Atmosphäre.
Seenlandschaften sollen entstehen, bis 2070 oder 2100. Und drumherum?
Vieles steht als Absichtserklärung der NRW-Regierung in der
Leitentscheidung vom September: Gewerbegebiete vor allem, neuer
Straßenasphalt. Anrainergemeinden beklagen überall, dass es für sie zu
wenige lokale Handlungsmöglichkeiten gebe. Von klimaschützenden Projekten
wie Radfernwegen oder Biotopverbünde, etwa die Vernetzung der Restwälder,
ganz zu schweigen.
Sechs Siedlungen sollen entgegen früheren Plänen nicht abgegraben werden,
aber einer (Manheim neben dem Hambi) steht noch auf der Vernichtungsliste.
Die letzten Bewohner kämpfen gegen die Enteignung. Hier wird massenhaft
Kies gefördert, mit dem Kohle-Bergrecht.
## Es gibt weiter Proteste
Die geretteten Orte sollen zu „Zukunftsdörfern“ werden. Nur, wie kann man
die teils heruntergerockten Weiler wiederbeleben? Abriss, Neubesiedlung?
Alles Neuland. Unklar ist vor allem, was mit denen wird, die ihre Häuser
zurückkaufen wollen. Sie werden zunächst in Listen erfasst. Und dann? Die
Federführung der Landesregierung hat CDU-Bauministerin Ina Scharrenbach.
Das ist dieselbe Frau, die 2018 für die rechtswidrige Räumung des Hambacher
Walds den fehlenden Brandschutz der Baumhäuser als Vorwand erfunden hatte.
Die Kohlegräber von RWE Power konzentrieren sich mit den Milliardengewinnen
aus Kohleverbrennung derweil auf ihren Umstieg auf Erneuerbare. Und auf die
lukrative Vermarktung der Grundstücke in den weitgehend leeren Siedlungen
und den Ländereien drumherum.
Ein bisschen lebt auch Lützi weiter. BesetzerInnen haben vereinzelt
Stofftiere gerettet, die zu Hunderten als Wächter an der Kante saßen. Oder
den überlebensgroßen Pappmaschee-Ministerpräsidenten, der gleich am ersten
Räumungstag kopfüber im Unrat landete: „Laschet bleibt jeck wie eh und je.�…
Oder das gelbe Straßenschild „Weg der Radikalisierung“.
## Widerstand gegen RWE
Die Mahnwache am Ortsrand von Lützerath, fast drei Jahre lang
Koordinationsstelle des Widerstands, ist umgezogen nach Wanlo, vier
Kilometer nördlich. „Der physische Ort ist nicht mehr da“, [3][heißt es in
ihrer Erklärung], „aber was Lützerath ausmacht, sind WIR. Und wir leisten
weiterhin Widerstand gegen RWE.“ Immer Samstagnachmittag gibt es Austausch
bei Kaffee und Kuchen. Eine Forderung der Unermütlichen: „die Einstufung
von Ökozid als Straftat“.
Vergangene Woche ist direkt neben der neuen Mahnwache nachts der alte Fiat
Punto einer Aktivistin ausgebrannt. Die Polizei ermittelt wegen des
Verdachts auf Brandstiftung.
14 Jan 2024
## LINKS
[1] /Raeumung-von-Luetzerath/!5905323
[2] https://www.youtube.com/watch?v=V_pJUimhi7s
[3] https://mahnwache-luetzerath.org/
## AUTOREN
Bernd Müllender
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