# taz.de -- Strukturwandel in Kohlerevieren: Was nach den Dörfern kommt | |
> Zwei grüne Landtagsabgeordnete aus der Lausitz und dem Rheinland treffen | |
> sich am Hambacher Loch. Können die Reviere voneinander lernen? | |
Bild: Wo früher ein Tagebau war: Terra Nova, Aussichtspunkt in Berrendorf | |
„Gott hat die Lausitz erschaffen, aber der Teufel die Kohle darunter.“ | |
(Sorbisches Sprichwort) | |
ELSDORF taz | Terra Nova, das ist der zauberhafte Name der | |
RWE-Aussichtsplattform nahe dem rheinischen Elsdorf direkt über dem | |
Hambacher Tagebauloch, das sich bis zum Horizont erstreckt. Auf stählernen | |
Liegestühlen hat man beste Sicht in die weiten Tiefen mit monströsen | |
Baggern. Davor selbstlobpreisende Infotafeln, gleich dahinter ein Café mit | |
Live-Musik. Hierhin macht man im ausgesiedelten rheinischen Revier gerne | |
einen Ausflug. [1][Terra Nova], schöne neue Welt. | |
## „Dörfer in Anspruch nehmen“ | |
Heute steht auch Ricarda Budke staunend hier. „Das ist hier schon viel | |
tiefer als bei uns in der Lausitz“, sagt sie. „Riesig das alles. Aber das | |
Gefühl von Wüstenlandschaft ist das gleiche wie bei uns.“ Die 25-Jährige | |
sitzt für die Grünen im Brandenburger Parlament. Und sie ist für die | |
Lausitzer Reviere Mitglied im Landes-Sonderausschuss Strukturentwicklung, | |
der drei Tage zu Besuch im Rheinland war. „Ich habe etwas Neues gelernt: | |
RWE nennt die Pumpen Brunnen, ein sehr eigenes wording; bei uns sind Pumpen | |
Pumpen. Aber ‚Dörfer in Anspruch nehmen‘ statt Dörfer zerstören, das sagt | |
man bei uns auch.“ Besonders viele sorbische Siedlungen wurden in Anspruch | |
genommen. | |
Budke war auf Einladung ihrer Parteifreundin Antje Grothus aus dem | |
NRW-Landtag noch zwei Tage länger geblieben. Beide Frauen sind mit ihren | |
Parteien in Regierungsverantwortung und müssen den Strukturwandel | |
vorantreiben. Können die Regionen voneinander lernen? Budke: „Wir haben | |
viele gleiche Probleme. Was kommt nach der Kohle? Wie können wir die | |
Menschen beteiligen? Im Osten haben wir einen besonders großen | |
Fachkräftemangel. Und eine besonders alte Bevölkerungsstruktur. Wie kriegen | |
wir neue junge Menschen in unsere Region?“ | |
Vor allem: „Wir brauchen internationale Topkräfte.“ Nun ist der Osten | |
AfD-verseucht: „Ein wirklich großes Problem. Wenn sich die Menschen mit | |
ihren Familien in unserer Region nicht willkommen fühlen, dann gehen die | |
gleich woanders hin.“ | |
Manches aber, sagt Budke, laufe in Brandenburg „vielleicht besser, etwa die | |
Einbindung der Zivilgesellschaft. Wir haben Knotenpunkte aufgebaut im Land, | |
wo sich Menschen beraten lassen können, sich vernetzen. Es gibt | |
niedrigschwellige Mitmachprojekte, durch Bürgerfonds gefördert.“ Und das | |
mit reduzierter Bürokratie: „Man kann als Abrechnung einfach Fotos machen.“ | |
## Ein Theater in Senftenberg | |
Vor dem Strukturwandel steht die strukturelle Skepsis der Menschen: „Manche | |
nehmen das als Vertrauensbruch wahr, wenn aus der Kohle früher ausgestiegen | |
werden soll. Man muss zeigen, die Milliarden versickern nicht irgendwo in | |
der Nachfolge-Industrie, sondern helfen in der Lebensrealität. In | |
Brandenburg werden Gelder über Werkstätten verteilt, da sitzen Menschen aus | |
Zivilgesellschaft, Verwaltung, Wissenschaft, Kultur.“ Mitentscheiden zu | |
können, gebe „ein Gefühl der Selbstermächtigung“. Das erste Projekt mit | |
Strukturfördermitteln war ein [2][Theater in Senftenberg], „mitten in der | |
dünnbesiedelten Lausitz. Kunst, Kultur und Kreativwirtschaft – solche | |
angeblich weichen Faktoren machen echt was aus.“ | |
Antje Grothus kann da nur staunen: „Hier werden solche Aktivitäten | |
belächelt, es heißt: Das ist doch kein Standortfaktor! Hier wird es schon | |
als Kunst und Kultur gesehen, wenn nach 2030 Braunkohle-Bagger in die | |
Landschaft drapiert werden.“ Keine Frage, Industriekultur sei wichtig, | |
„aber wir brauchen einen multiperspektivischen Ansatz: Die 40.000 Menschen, | |
die aus über hundert Dörfern umgesiedelt wurden und die Zehntausende, die | |
die Dörfer und den Hambacher Wald gerettet haben, denen muss ein Denkmal | |
gesetzt werden. Damit die Wunden bei allen besser heilen können.“ | |
Ist das weibliches Denken? Der Begriff löst bei beiden Frauen Unbehagen aus | |
– und Einigkeit: Es dürfe nicht nur um typisch männliche Technologie und | |
Wertschöpfung gehen. Sondern auch um das Umfeld, die Um-Welt, um | |
Partizipation. Ricarda Budke: „Männer profitieren von den sogenannten | |
weichen Standortfaktoren genauso, nur fällt es ihnen erst später auf. Aber | |
das Wort weich stört mich. Was ist denn härter als keinen Kitaplatz zu | |
finden?“ | |
RWE Power hat weit unter Terra Nova gerade seinen Tiefpunkt gefeiert – beim | |
Baggern: 411 Meter. Und Rekordgewinne gemacht: netto 4,5 Milliarden Euro im | |
Jahr 2023. Weniger rekordverdächtig: Statt zuletzt 65 Millionen Tonnen | |
Kohle wurden 2023 nur noch 50 Millionen verbrannt. Eine Folge auch der | |
CO2-Politik Richtung Erneuerbare. | |
## Nur 800 Frauen unter 7.400 Mitarbeiter*innen | |
Im Grubenalltag bleibt Braunkohleförderung strikte Männersache, in Ost wie | |
West. Von den 7.400 Menschen, die heute noch für RWE Power arbeiten (80er | |
Jahre: 100.000), sind laut Firmenangaben nur 800 Frauen. Gerade mal 400 | |
Frauen sind in bergbaulich-technischen Funktionen aktiv, die meisten in der | |
Verwaltung. Eine Baggerfahrerin kann RWE nicht bieten. Budke triumphiert: | |
„In der Lausitz gibt es eine.“ „Bei uns“, kontert Grothus, „werden au… | |
RWE-Hauptversammlungen immerhin Frauen, die bei RWE arbeiten, auf | |
Stellwänden präsentiert.“ | |
Der Osten hat schon 20 Seen, die die alten Gruben füllen, im rheinischen | |
Revier soll es 2030 mit dem herbeigepumpten Rheinwasser losgehen. | |
Ökologische Schäden? „Unsere Löcher sind nicht so tief“, sagt Budke, „… | |
wir haben auch so schon große Probleme, die zu fluten, und Probleme mit der | |
Wasserqualität. Es gibt auch Rutschungen.“ In den rheinischen Revieren | |
dominieren Hochglanzprojekte, Strandpromenaden, Haus am See, Jachthäfen. | |
Schöne Phantasien für eine ganz neue Welt. | |
„Was ich mitnehmen werde“, sagt Budke, „offenbar gibt die Mentalität | |
rheinischer Frohnaturen einen optimistischeren Blick als bei uns, da ist | |
eine weniger grundsätzlich negative Einstellung zu dem, was kommt.“ Führt | |
die zu rheinischer Naivität? Budke empfiehlt den Kommunen unbedingt einen | |
Plan B, wenn alles nicht so klappt wie geplant, wenn die Seen durch | |
Trockenheit, hohe Verdunstung und Klimawandel vielleicht nur halbvoll | |
werden. Und es Böschungsbrüche gibt wie im Osten. | |
Und worauf freuen wir uns in zehn Jahren? Antje Grothus: „Natürlich | |
brauchen die Menschen in unserer Region schon heute mehr Lebensqualität. | |
Aber ich freue mich auf einen großen Biotopverbund, dass wir ein Museum zur | |
wechselvollen Geschichte des Hambacher Waldes und der verschwundenen Dörfer | |
eröffnet haben und auf eine tolle Radtrasse am Hambacher Wald, weil wir | |
dann um jedes bisschen Schatten froh sein werden.“ Budke sagt: „Wir haben | |
schon einige neue Radwege, ich freu mich drauf, dass die Menschen, die so | |
unter dem Tagebau und den Folgen leiden, sich in zehn Jahren neu erfunden | |
haben können, mit neuen Chancen und tollen Perspektiven. Daran arbeiten | |
wir.“ | |
21 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bedburg.de/Tourismus-Kultur-und-Freizeit/Bedburg-entdecken/Sehe… | |
[2] https://www.theater-senftenberg.de/theatergeschichte | |
## AUTOREN | |
Bernd Müllender | |
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