# taz.de -- Protest gegen LNG: Kein Anschluss unter dieser Insel | |
> Die Klimabewegung versucht zu beweisen, dass sie mehrheitsfähig ist. Sie | |
> will an der Seite von Bürger*innen kämpfen, die sich für Heringe | |
> einsetzen. | |
Bild: Symbol des Widerstands: Ende-Gelände-Aktivist:innen besetzen Ende Septem… | |
SASSNITZ, FRANKENTHAL, SCHWERIN taz | Was Robert Habeck mit | |
Energiesicherheit meint, spürt Andrea Kähler manchmal unter ihren Füßen. | |
Wenn sie am Strand steht und der Sand unter ihren Fußsohlen vibriert, weil | |
draußen auf dem Meer das ankommende Flüssiggas aufgewärmt wird. Wie ein | |
Technobeat. Auf Rügen will dazu aber kaum jemand tanzen. | |
„Wir sollen uns daran gewöhnen, wurde in der Gemeinderatssitzung gesagt“, | |
erinnert sich Kähler auf einer Podiumsdiskussion im Dorf Frankenthal Ende | |
September. Im Halbkreis um sie herum sitzen Klimaaktivist:innen, die | |
nach Rügen gereist sind, und Menschen von der Insel. Kähler, 62, | |
Gemeinderatsmitglied in Sellin, blaues Leinenkleid, graue Kurzhaar-Frisur, | |
redet hier, weil sie die Tanker vor ihrer Haustür zur Aktivistin gemacht | |
haben. Seitdem im Frühjahr klar wurde, dass nicht nur temporär LNG-Schiffe | |
vor Rügen ankern, sondern ein Flüssiggas-Terminal samt 50 Kilometer langer | |
Pipeline ans Festland gebaut werden soll, setzt sie sich für eine | |
Verhinderung des [1][Projekt]es ein. | |
Neben Andrea Kähler auf dem Podium sitzt Rickie Gärtner, 19, in | |
Vintage-Blazer und weißem Spitzentop. Sie heißt eigentlich anders, Rickie | |
Gärtner ist ihr Aktivist:innen-Pseudonym. „Für mich ist das LNG-Terminal | |
hier ein Symbolbild für die Zerstörung der Natur auf der ganzen Welt“, sagt | |
sie. Ihr Wiener Dialekt verrät, dass sie nicht von der Insel stammt. Sie | |
ist hier, weil Rügen ein Ort ist, an dem die Klimabewegung auf einen Erfolg | |
hofft. | |
Viele Umweltverbände kritisieren die Pläne der Bundesregierung, | |
ausgerechnet dieses sensible Ökosystem mit einer Pipeline zu durchkreuzen. | |
Die Leitung soll durch den Greifswalder Bodden bis nach Lubmin führen. | |
Durch ein Naturschutzgebiet. Genau da lang, wo die Heringsautobahn | |
verläuft, wie sie auf Rügen sagen. Der Hering zieht durch den Bodden in | |
seine Laichgebiete. | |
## Wut aus mehreren Perspektiven | |
Der Schweinswal und die Kegelrobbe, die sich gerade erst wieder in der | |
Region angesiedelt hat, könnten durch den Unterwasserlärm ihre Orientierung | |
verlieren. Aber da Rügen Anfang Juli in das LNG-Beschleunigungsgesetz | |
aufgenommen wurde, darf ohne Umweltprüfung gebaut werden. Bis Ende des | |
Jahres soll die Pipeline verlegt sein. Wenn die Klimaaktivist:innen | |
noch vorher einen Baustopp erringen wollen, bleibt ihnen kaum Zeit. | |
Auf dem Podium in Frankenthal sprechen Andrea Kähler und Rickie Gärtner | |
über ihre Wut. Die beiden blicken aus unterschiedlichen Perspektiven. Da | |
sitzt Kähler, die Juristin, die vor beinahe 30 Jahren auf die Insel gezogen | |
ist und vier Kinder großgezogen hat. Rickie Gärtner hat im vergangenen | |
Sommer ihren Schulabschluss gemacht und ist seit einem Jahr | |
Vollzeit-Aktivistin. | |
Hier auf Rügen will die Bewegung zeigen, dass sie das kann: Koalition | |
zwischen schwerer Bernsteinkette und pinken Blitzohrringen. Neue Mehrheiten | |
bilden über unterschiedliche Fraktionen hinweg. Die, die gegen das | |
kapitalistische System kämpfen gemeinsam mit denen, die fürchten, dass | |
durch das LNG-Terminal weniger Tourist:innen kommen, von denen auf der | |
Insel aber viele Jobs anhängen. Alle gegen LNG. Aber klappt das wirklich? | |
## Wir demonstrieren das Terminal weg, denken sie zu Beginn | |
Theoretisch sind die Voraussetzungen, die Rüganer:innen für den Protest | |
zu mobilisieren, besser als im Braunkohlerevier. Dort ist der | |
[2][Kohlekonzern RWE] seit Generationen einer der wichtigsten Arbeitgeber, | |
er sponsort Sportvereine und Festivals. Die Rüganer:innen sind noch | |
unabhängig von der Deutschen Regas, dem Unternehmen, das das Terminal | |
betreiben soll. Gleichzeitig wird der Tourismus, einer der wichtigsten | |
Wirtschaftssektoren der Insel, durch den Bau bedroht. Es könnte ein | |
Heimspiel für die Klimabewegung sein. | |
Im Frühling, als die Rüganer:innen vom Flüssiggasprojekt vor ihrem | |
Strand erfuhren, war ihr Protest auf der Insel laut. Wir demonstrieren das | |
Terminal weg, dachten die Menschen auf Rügen. Sammeln ein paar | |
Unterschriften, und dann ist der Spuk vorbei. Wie Anfang der 90er, als eine | |
überdimensionierte Werft auf Rügen gebaut werden sollte. | |
Gegen LNG mobilisierte der Tourismusverband, 60.000 Menschen | |
unterzeichneten eine Petition, über 1.200 Einwendungen gegen das Projekt | |
sind beim zuständigen Bergamt in Stralsund eingegangen. Geändert hat das | |
alles nichts. Im ersten Bauabschnitt werden seit Anfang September die | |
Pipelinestücke verlegt. Warum sollten die Rüganer:innen da noch | |
demonstrieren, das ist wie Diätmajo auf fettige Pommes gießen. Das kann | |
man gleich sein lassen – könnte man meinen. | |
Die Klimabewegung hat auf Rügen aber schon einen ersten Sieg gefeiert. | |
Ursprünglich sollte RWE das LNG-Terminal auf der Insel bauen. Ende April | |
kündigte der Konzern aber an, sich aus dem Projekt zurückzuziehen. Sie | |
hätten RWE durch Lützerath die Laune verdorben, sagte Luisa Neubauer. | |
Bilder von zehntausenden Menschen im Rheinland, die gegen einen Konzern | |
sind, haben dem Image geschadet. „Wir sind euer Investitionsrisiko“, | |
erinnert die Klimabewegung fossile Konzerne gerne. | |
Jetzt wollen sie der Deutschen Regas, die das Terminal stattdessen baut, | |
auf die Nerven gehen. Rügen soll zum Symbol im Kampf gegen LNG werden. Das | |
Lützerath des Flüssiggases. Die gelben Kreuze, die einst im Wendland gegen | |
Atomkraft erfunden wurden und zuletzt in dem rheinländischen Dorf den Kampf | |
gegen Braunkohle symbolisierten, sind auf Rügen türkisblau. | |
Im Mai wird das erste Klimacamp auf Rügen veranstaltet. 300 | |
Aktivist:innen zelten auf einer Wiese. Die Klimabewegung will sich mit | |
den Rüganer:innen zusammentun. Vernetzung, das Lieblingswort der | |
Start-Up-Bubble, fällt hier ziemlich oft. Die Aktivist:innen von Ende | |
Gelände ziehen sich wie immer ihre weißen Maleranzüge an, verhüllen ihre | |
Gesichter hinter Sonnenbrillen. Aus dem Lautsprecherwagen schallt Peter | |
Fox, der sich die Zukunft pink malt, über die Strandpromenade. Der | |
Demonstration schließen sich nur eine Handvoll Rüganer:innen an. | |
Vielleicht, weil die Klimabewegung ihr übliches Programm abspult. Popsongs | |
spielen und „Climate Justice“ rufen. Dabei ging es doch eigentlich ums | |
Vernetzen. | |
Deshalb braucht die Klimabewegung ein Gesicht vor Ort. Rickie Gärtner | |
meldet sich, als jemand gesucht wird, der für eine Aufwandsentschädigung | |
die Bewegung mit den Inselbewohner:innen vernetzt. Mit 14 Jahren ging | |
sie zu ihrer ersten Fridays-for-Future-Demo. In Wien machte sie bei der | |
Lobau-Besetzung mit, hauste in einem Verschlag auf einer Baustelle, um zu | |
verhindern, dass das Naturschutzgebiet untertunnelt wird. Mit Erfolg. Dort | |
hat sie gemerkt, dass Aktivismus funktionieren kann. Ohne einen konkreten | |
Ort kommt ihr der Klimaaktivismus manchmal nicht greifbar vor, sagt sie. | |
Hier auf Rügen hat sie wieder ein klares Ziel: Weg mit dem Terminal! | |
Mitte August reist sie deshalb auf die Insel, erstmal für drei Monate. | |
Seitdem fällt sie hier auf. Nicht nur wegen ihres Aussehens, dafür reicht | |
schon ihr Alter. Rügen hat ein Demographieproblem. Die meisten jungen | |
Menschen verlassen die Insel, gehen zum Studieren nach Berlin, Hamburg oder | |
Greifswald. Wenn sie hier jemanden vom Kampf gegen LNG überzeugen will, | |
könnte er wahrscheinlich ihr Opa sein. | |
Klimabewegung, Ende Gelände? „Da fliegen doch Molotowcocktails, die hauen | |
uns sicher alles kaputt“, höre Gärtner manchmal, wenn sie auf der Straße | |
Leute anspricht. Sie sagt ihnen dann, dass sich fürs Klima einsetzen nicht | |
Scheiben einschmeißen bedeutet. | |
Das viel größere Problem aber sei die Resignation. „Ich hab die Hoffnung | |
schon aufgegeben,“ sagen viele, oder auch: „Ich bin doch schon viel zu alt | |
dafür.“ „Das finde ich richtig frech, wenn ein Sechzigjähriger vor mir | |
steht und sagt, er sei zu alt“, sagt Gärtner. Sie erzählt den | |
Rüganer:innen auch vom Lobau, wo schon gebaggert wurde und das Projekt | |
dann doch abgebrochen wurde. Es ist noch nicht zu spät, will sie ihnen | |
damit zeigen. | |
Eigentlich sieht Rickie Gärtner viel Protestpotential auf Rügen. Eine große | |
Mehrheit ist gegen LNG, gegen die Pipeline. In einem Monat habe sie nur mit | |
zwei Menschen gesprochen, die für das Projekt seien. Und die Menschen sind | |
wütend auf die Politik, sagt Gärtner. Aus wütenden Menschen können | |
Aktivist:innen werden, glaubt sie. | |
Doch aus wütenden Menschen, die das Gefühl haben, die Regierenden hörten | |
ihnen nicht zu, können auch AfD-Wähler:innen werden. Das ist Andrea | |
Kählers Befürchtung. All die demokratischen Maßnahmen, mit denen sie | |
versucht haben, das Terminal zu stoppen, die Petition, die Einwände beim | |
Bergamt, die Kundgebungen – „Wir werden ignoriert“, sagt Kähler. | |
In ihrem Beruf hat sie sich auf öffentliches Recht spezialisiert, hat | |
jahrelang die Verfassung seziert. In einem roten Aktenordner hat sie die | |
Gutachten zum LNG-Projekt abgeheftet, mit Klebezetteln sind die wichtigsten | |
Stellen markiert. Auf Veranstaltungen liest sie manchmal daraus vor und | |
wirkt fassungslos, obwohl sie die Stellen genau kennt. Ihre | |
Bürgerinitiative Lebenswertes Rügen hat sich ursprünglich gegründet, damit | |
die Urlaubsinsel nicht von noch mehr Bettenburgen überzogen wird. Bis LNG | |
zum größeren Problem wurde. | |
Anfang Juli will die Bürgerinitiative noch mal versuchen, ihre | |
Landesregierung vom Bau des Terminals abzubringen. Denn in ein paar Tagen | |
wird der Bundesrat darüber abstimmen, ob Rügen in das | |
LNG-Beschleunigungsgesetz aufgenommen wird. Andrea Kähler zitiert gerne den | |
ehemaligen Kanzler Helmut Schmidt: „Als Politiker ist man der Angestellte | |
seines Wählers. Unsere Landesregierung ist also nicht angestellt von der | |
Bundesregierung.“ | |
## „Ich leg mich nicht mit der Polizei an“, sagt ein Mitstreiterin | |
Mit einem Reisebus fährt eine Gruppe der Initiative gemeinsam nach | |
Schwerin. Breite Unterstützung aus der Klimabewegung gibt es diesmal nicht, | |
was daran liegen mag, dass es Montagmorgen ist, es immer wieder schüttet | |
und die Ortsgruppe von Fridays vor Future in Schwerin drei Mitglieder hat. | |
Stattdessen ist Professor Christian von Hirschhausen vom Deutschen Institut | |
für Wirtschaftsforschung angereist. Er hat ein Gutachten seines Instituts | |
dabei, an einer Stelle steht deutlich: Das LNG-Projekt in Mukran „ist | |
energiewirtschaftlich nicht notwendig, es liefert keinen Beitrag zur | |
Vermeidung von Gasmangellagen.“ | |
Mit einer gesicherten Energieversorgung Deutschlands begründet die | |
Bundesregierung, dass auf Rügen schneller und ohne Umweltprüfung gebaut | |
werden darf. Nach der Corona- und der Energiekrise will sich | |
Wirtschaftsminister Robert Habeck nicht darauf verlassen, „dass alles immer | |
gut geht“, sagt er bei einer Rede im Bundestag. | |
Gleichzeitig macht sich Deutschland mit dem Ausbau der LNG-Infrastruktur in | |
der Klimakrise von fossilen Energieträgern abhängig. Die Verträge mit den | |
Gasfirmen laufen 20 Jahre lang. Die in die LNG-Terminals investierten | |
Milliarden fehlen beim Ausbau der Erneuerbaren. Und auf Rügen wird | |
Fracking-Gas ankommen. Dabei ist Fracking in Deutschland selbst verboten, | |
weil es extrem klima- und umweltschädlich ist. | |
Nach dem Termin in der Staatskanzlei ist Kähler sich nicht so sicher, ob es | |
in der Regierung auch Schmidt-Fans gibt. Es habe nicht so gewirkt, als gäbe | |
es noch Verhandlungsspielraum. Der Staatssekretär habe mehr weg- als | |
zugehört und auf seinem Handy rumgetippt. „Als hätten wir keine Chance | |
mehr.“ Es gibt Quarkstullen gegen den Frust. | |
„Vielleicht muss man doch mal den Rügendamm blockieren und es so aussehen | |
lassen, als wäre es eine Autopanne“, sagt Kähler. Vor drei Monaten habe sie | |
solche Gedanken noch nicht gehabt. | |
Gerade das Beschleunigungsgesetz macht Andrea Kähler wütend. Sie | |
argumentiert immer zuerst damit und ist überzeugt, das es rechtswidrig ist. | |
In einer Notlage, wie dem Ende der russischen Gaslieferungen, dürfen laut | |
Grundgesetz zwar Maßnahmen beschlossen werden. Aber wenn es gar keine | |
Notlage mehr gibt? Wenn die Gasspeicher schon Anfang September zu über 90 | |
Prozent gefüllt sind und Gutachten zeigen, dass wir in Deutschland keine | |
Gasnotlage befürchten müssen? „Dann darf so ein Beschleunigungsgesetz nicht | |
länger bestehen“, meint Kähler. | |
Die Gutachten, Zahlen und Gesetze kennen sie in Schwerin und Berlin. Von | |
dem Plan abgerückt sind die Regierungen über den Sommer aber trotzdem | |
nicht. Stattdessen scheint Deutschland im LNG-Fieber zu sein. Nach dem | |
Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine plante Deutschland | |
zunächst den Bau von zwei LNG-Terminals. Mittlerweile sind es elf | |
LNG-Projekte. | |
Die nächste Demonstration auf der Insel soll deswegen größer werden. Und | |
die Demo wird anders, als im Mai von der Bürgerinitiative Lebenswertes | |
Rügen und Ende Gelände gemeinsam veranstaltet. Mit der Initiative haben sie | |
deshalb abgesprochen, keine englischen Sprüche zu skandieren, erzählt | |
Rickie Gärtner. Das könne vor allem die ältere Inselbevölkerung | |
ausschließen. Und es wäre besser, wenn nicht zu krasse Antifa-Parolen | |
gerufen würden – wenigstens nicht gleich zu Beginn. | |
Und dann wäre da noch ein Punkt, der auch im Anschluss an die Diskussion, | |
auf der Kähler und Gärtner gesprochen haben, im Raum steht: Wie geht ihr | |
damit um, wenn sich Rechte den LNG-Protest zunutze machen? „Man sollte beim | |
Thema bleiben“, sagt ein Rüganer. Eine Spaltung in politische Lager hätte | |
dem LNG-Protest auf Rügen nicht gut getan. | |
Im Saal wird es still, Blicke werden ausgetauscht. | |
In diesem Moment hätte eine abendfüllende Diskussion ausbrechen können. | |
Darüber, wie Klimakrise und Rassismen zusammenhängen, dass die | |
Klimagerechtigkeitsbewegung Gerechtigkeit für alle fordert, die AfD | |
hingegen Gruppen bewusst ausschließt, sie diskriminiert. Die Klimabewegung | |
zeigt klare Kante gegen Rechts, wird auch auf der Demo AfDler:innen | |
bitten diese zu verlassen. Zum Streit kommt es hier trotzdem nicht. | |
Für Andrea bleibt vor Samstag noch eine Frage offen: Falls eine | |
Sitzblockade entsteht, macht sie mit oder bleibt sie stehen? Im Kernteam | |
aus Bügerinitiative und Klimabewegung wird diese Option diskutiert. Ihre | |
Bezugsgruppe nennen sie die Heringe. Es wäre ein starkes Zeichen: | |
Klimabewegung und Rüganer:innen blockieren gemeinsam gegen LNG. | |
„Ich lege mich ganz sicher nicht mit der Polizei an“, sagt ein Mitglied der | |
Bürgerinitiative. Einer anderen waren die Aktionen bisher „immer zu lahm“, | |
sie freut sich auf die Demo. Rickie Gärtner hat entschieden am Samstag an | |
keiner Blockade teilzunehmen, weil sie sitzend schwieriger mit Leuten ins | |
Gespräch kommt. Aber eigentlich würde sie gerne. Und Andrea Kähler sagt: | |
„Ich habe Angst.“ Davor, dass sie festgenommen wird, ihr wehgetan wird. | |
Sie wird sich spontan entscheiden. | |
Am Samstagmorgen versammeln sich Demonstrant:innen auf dem Platz neben | |
dem Rügen Hotel in Sassnitz, einem Betonklotz aus den sechziger Jahren. | |
Angereiste und Rüganer:innen. Am Horizont ruht die Hispania, ein | |
LNG-Tanker, wie ein Warnsignal. „Alerta, alerta“, schallt es aus den | |
Lausprechern. Antifa-Songs zu Beginn, das sollte doch nicht sein. Schnell | |
wird gewechselt zu Swing-Gedudel von Parov Stellar, das eckt weniger an. | |
Die Demoleiterin stellt sich ans Mi-krofon, sie freue sich hier mit den | |
Menschen aus Rügen gemeinsam gegen LNG zu protestieren. „Von Rügen! Von | |
Rügen, man!“, schreit ihr eine Frau ins Wort. Nicht alle | |
Insulaner:innen sind erfreut über den Auftritt der Klimabewegung. | |
Manche haben Angst vor Krawallen. Andere haben es möglicherweise nicht | |
geschafft, aus ihrer Wut Aktionismus werden zu lassen, und sind lieber beim | |
Grill geblieben. Von den 700 Demonstrierenden sind etwa 100 von der Insel. | |
Wer nicht vor die Menge treten will, ist Leon Kräusche, Bürgermeister von | |
Sassnitz und Befürworter des in seiner Stadt geplanten LNG-Projekts. Kähler | |
sieht ihn am Rand der Demo stehen und geht spontan zu ihm. Rickie Gärtner | |
folgt ihr. Warum er noch für das Projekt sei, fragt Kähler, es gebe doch | |
keine Gasmangellage. „Das ist ein Bundesprojekt“, sagt er und weist die | |
Verantwortung von sich. | |
Gärtner versucht es auf dem emotionalen Weg. „Meine Generation hat Angst | |
vor der Klima-krise, vor dem klimaschädlichen Gas, das hier ankommen wird.“ | |
Christian von Hirschhausen kommt dazu, er hält das gerade veröffentlichte | |
Gutachten des DIW ausgedruckt in den Händen. Darin steht: Es gebe keine | |
Argumente, die für den Energiestandort Mukran sprechen; das Projekt | |
gefährde die Einhaltung der Klimaziele, und eine perspektivische Umnutzung | |
etwa für die Anlandung von Wasserstoff sei sehr unsicher. Zum Beispiel, | |
weil die LNG-Spezialschiffe, die in Mukran liegen sollen, grundsätzlich | |
nicht auf Wasserstoff umgerüstet werden können. | |
„Bitte lesen Sie es“, sagt der Wissenschaftler. Fast schon verzweifelt | |
wirken die drei, wie sie am Rande der Demo auf den Kommunalpolitiker | |
einreden. „Warum muss ich, der Bürgermeister von Sassnitz, die Welt | |
retten?“, entgegnet er. „Schauen sie sich die Straßen hier an, das Kino da | |
vorne ist eine Ruine.“ | |
Nach rund zwei Stunden bewegt sich der Demozug auf den Hafen von Mukran zu, | |
rechts unterhalb der Brücke liegen die Pipelinerohre, bereit, in der Ostsee | |
versenkt zu werden. Die Heringe werden langsam nervös und gruppieren sich. | |
Dann bricht der erste Teil der Ende-Gelände-Gruppe aus dem Demozug aus, sie | |
stürmen das Hafengelände. Die zweite Gruppe bricht aus, die weißen | |
Maleranzüge rennen auf Andrea Kähler zu, die sich an den Straßenrand | |
rettet. Ihren Schwarm hat sie verloren. | |
Plötzlich steht ihre Tochter neben ihr. Sie ist nicht hier, um zu | |
demonstrieren, sie ist aus dem Auto ausgestiegen, weil sie wegen der Demo | |
nicht durchkommt. „Die blockieren da oben die Straße“, sagt sie zu ihrer | |
Mutter. Andrea Kähler weiß jetzt, wo sie hin muss, und läuft den Hügel | |
hoch. Da sitzen sie, die Heringe, und essen eingerollte Pfannkuchen auf der | |
Straße, hinter ihnen eine Autoschlange. Andrea Kähler hebt den Daumen nach | |
oben. Dann setzt sie sich hin. | |
30 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Proteste-gegen-LNG-Terminal-auf-Ruegen/!5959606 | |
[2] /Braunkohle-mit-Milliarden-gefoerdert/!5946292 | |
## AUTOREN | |
Sophie Fichtner | |
## TAGS | |
Energiekrise | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
wochentaz | |
Zukunft | |
Aktivismus | |
LNG | |
GNS | |
IG | |
IG | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Lützerath | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Energiekrise | |
Zukunft | |
Energiekrise | |
LNG | |
Schwerpunkt Fridays For Future | |
Fischerei | |
Energiekrise | |
Schwerpunkt Ende Gelände! | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Proteste gegen LNG-Terminal auf Rügen: Für den Sofortausstieg aus Gas | |
Bald sollen die LNG-Terminals auf Rügen in Betrieb gehen. Am Freitag gibt | |
es deswegen Proteste in Kassel, Berlin und auf der Ostseeinsel. | |
Klimaschädliche Energieträger: Weißes Haus stoppt LNG-Zulassungen | |
US-Präsident Joe Biden zieht die Reißleine: Für die Genehmigungen von | |
Flüssiggas-Terminals gibt es erst mal ein Moratorium – wegen der | |
Klimakrise. | |
Klimaprotest: Ein Dorf ist komplett verschwunden | |
Vor einem Jahr begann die Räumung von Lützerath. Es kam zu heftigen | |
Zusammenstößen. Polizei und Klimaaktivist*innen ziehen nun Bilanz. | |
Politologe über Kommunalpolitik: „Im Moment eine Abwärtsspirale“ | |
Im Kommunalen gibt es keine Brandmauer zwischen CDU und AfD, sagt | |
Politikwissenschaftler Wolfgang Muno. Dadurch vertieft sich die Krise des | |
Systems. | |
LNG-Boom in den USA: Ein schmutziges Geschäft | |
Die Flüssiggas-Industrie bringt Arbeitsplätze nach Louisiana – und zerstört | |
Umwelt und Gesundheit der Menschen. Auch deutsche Firmen sind beteiligt. | |
Politisches Horoskop für 2024: Für Brokkoli und mehr Emotionen | |
Sie wollen wissen, was Sie 2024 erwartet? Wir haben unsere KI-Kolumnist*in | |
gebeten, ein politisches Horoskop fürs kommende Jahr zu schreiben. | |
Klage der Deutschen Umwelthilfe: Saubere Rohre, dreckiges Wattenmeer | |
Am LNG-Terminal in Wilhelmshaven wird chlorhaltiges Wasser ins Meer | |
eingeleitet. Ist das Ökosystem der Jade und des Wattenmeers in Gefahr? | |
Leck an Gaspipeline Finnland-Estland: Helsinki schließt Sabotage nicht aus | |
Am Wochenende wurde die Gasleitung Balticconnector beschädigt. Laut | |
Finnlands Regierung offenbar absichtlich. Aber auch andere Ursachen sind | |
möglich. | |
Razzia gegen Klimaaktivisten: Protesträume verteidigen | |
Die Polizei hat Daten von Friday-for-Future-Aktivist*innen gesammelt – als | |
„Beifang“. Ein weiterer Schlag gegen zivilgesellschaftliches Engagement. | |
Heringsbestand in der Ostsee: Gefährdete Delikatesse | |
Hering aus dem Bottnischen Meerbusen? No way! Das ist die klare Ansage des | |
WWF-Fischratgebers. Was wird nun aus Schwedens traditionellem Surströmming? | |
Gas für den Winter in Deutschland: Speicher sind fast voll | |
Die Gas-Vorräte wurden vor Beginn der Heizperiode schneller aufgestockt als | |
vor einem Jahr. Am Dienstag erreichten sie die Füllstandsmarke von 95 | |
Prozent. | |
Ende Gelände gegen LNG auf Rügen: „Diese Insel kriegst du nie“ | |
Die Bundesregierung plant den Bau eines LNG-Terminals auf Rügen – und setzt | |
die Energiewende aufs Spiel. Aktivist:innen haben den Hafen besetzt. | |
Energieimporte aus Russland: Europa kauft mehr russisches LNG | |
Das Flüssiggas ersetzt ausgefallene Pipeline-Lieferungen. Auch beim | |
EU-Embargo gegen russisches Öl tun sich Schlupflöcher auf. |