# taz.de -- Polizeigewalt in Lützerath: Demokratie erleben, Nase gebrochen | |
> Ein politischer Familienausflug endet mit Verletzungen. In Lützerath hat | |
> nicht nur der Kampf gegen den Klimawandel eine Niederlage erlitten. | |
Bild: Polizeiformation in Lützerath am 14. Januar | |
Als Familie A. am Vormittag des 14. Januar zur Demonstration Richtung | |
Lützerath mit dem Auto fährt, herrscht gute Stimmung. Zwar standen sie am | |
Vormittag mehr als eine Stunde im Stau und mussten im fünf Kilometer | |
entfernten Wanlo parken, aber es fühlte sich irgendwie wie ein | |
Familienausflug mit Sinn an. Ein Selfie zeigt den Ehemann, ein | |
Diplomingenieur Anfang 40, lächelnd mit seiner Ehefrau, einer Ärztin, und | |
dem 14-jährigen Neffen. Der Jugendliche soll hier Demokratie live erleben. | |
Familie A. ist nicht damit einverstanden, dass der Energiekonzern RWE die | |
Braunkohle in der Region fördern will, dafür das ganze Dorf abreißen lässt | |
und das Klima schädigt. Was die Familie zu diesem Zeitpunkt noch nicht | |
ahnt: Wenige Stunden später werden sie alle große Zweifel hegen, nicht nur | |
an der Klimapolitik, sondern auch an dieser Demokratie. | |
Auf dem Familienselfie sind hinten ein paar Demonstrant*innen zu sehen. | |
Drei Menschen mit Kameras, vermutlich Vertreter*innen der Presse, | |
stehen erhöht und überblicken die Menschenmasse am Rande von Lützerath. | |
Danach folgt eine Reihe mit Polizeiwannen, dahinter vier freistehende | |
Gebäude, ein paar kahle Bäume – was halt von dem mittlerweile weltberühmten | |
Dorf noch übrig geblieben ist. Der Zeitstempel in den Metadaten des Selfies | |
gibt den 14. Januar, 15.55 Uhr an. | |
Viele Menschen erheben seit den Zusammenstößen am vergangenen Wochenende | |
s[1][chwere Vorwürfe gegen die Sicherheitsbehörden und RWE]. Sie beklagen | |
unverhältnismäßige Polizeigewalt gegen friedliche Proteste. | |
NRW-Innenminister Herbert Reul verteidigte das Vorgehen seiner | |
Beamt*innen und nannte ihre Arbeit „hochprofessionell“. In Interviews | |
sprach er von „zwei, drei Einzelfällen“, bei denen sich „ein Polizist ni… | |
richtig verhalten habe“ und deswegen „zur Rechenschaft gezogen werden | |
müsse“. Diese Fälle lasse er überprüfen. | |
## Exemplarischer Fall | |
Die Masse der dokumentarischen Videos und Bilder im Netz und der vielen | |
Beschwerden von Demonstrant*innen wirken wie ein krasser Kontrast zur | |
Darstellung des CDU-Innenministers. Vier Tage nach dem Polizeieinsatz in | |
Lützerath haben sich bei der Initiative „Lützerath lebt“ laut eigenen | |
Angaben 145 verletzte Demonstrant*innen gemeldet: 115 seien von | |
Polizist*innen getreten oder geschlagen, 45 Menschen am Kopf verletzt | |
worden, 10 Menschen hätten Knochenbrüche erlitten, 15 Menschen seien vom | |
Notdienst oder im Krankenhaus behandelt worden. [2][Der Fall der Familie A. | |
steht also exemplarisch für eine Debatte rund um Polizeigewalt], die die | |
Klimabewegung, die Sicherheitspolitik, die Polizei und Gerichte in NRW und | |
Deutschland noch lange beschäftigen dürfte. | |
Familie A. möchte nicht mit Klarnamen vorkommen. Sie haben Angst davor, in | |
einen medialen Strudel gezogen zu werden. Sie haben aber auch Angst vor der | |
Polizei. Der taz sind die Klarnamen der Familie bekannt. „Am Anfang war die | |
Atmosphäre locker“, sagt Herr A. Sie seien herumgelaufen, hätten den | |
Ausblick auf die Äcker rund um Lützerath auf sich wirken lassen. Nach ein | |
paar Stunden wollten sie dann den Heimweg antreten, im Stau könnte es ja | |
wieder länger dauern. Dann aber seien sie doch noch spontan auf einen | |
letzten Demonstrationszug aufgesprungen. | |
Auf einmal standen Polizist*innen vor ihnen, erinnert sich das Ehepaar | |
A. im Gespräch mit der taz. Die Beamt*innen hätten die | |
Demonstrant*innen geschubst. „Ich habe spontan ‚Hey, hey, hey!‘ | |
gerufen, daran kann ich mich erinnern“, sagt Herr A. Dann sei alles sehr | |
schnell gegangen. | |
Auf Twitter kursiert ein sechs Sekunden langes Video, der taz liegt eine | |
19-sekündige Version der Aufnahme vor. Zu sehen ist ein am Boden liegender | |
Mann mit blauer Jeans, grauer Jacke, kräftiger Statur. Die Kleidung deutet | |
darauf, dass es sich um Herrn A. handelt, so wie er auf allen Selfies der | |
Familie an diesem Tag aussieht. Ein Polizist hat ihn im Griff und schlägt | |
mit der Faust in Richtung seines Gesichts. Im Video sind Schreie zu hören, | |
jemand ruft laut „Bitte! Meine Güte!“ Ganz vorne steht ein Demonstrant in | |
einer schwarzen Jacke mit dem Rücken zur Kamera. Er hat beide Arme | |
angehoben, so als würde er fragen: What the fuck passiert hier gerade? Ein | |
Polizist kommt von links ins Bild und schubst ihn weg. Vor dieser Szene | |
versucht die Polizeikette die Demonstrant*innen zurückzudrängen. Dabei | |
sind zwei Männer – einer von ihnen Herr A. – offensichtlich zwischen die | |
Fronten geraten. Die Ehefrau und der Neffe, ebenfalls gut an der Kleidung | |
identifizierbar, sind direkt hinter der Polizeikette zu erkennen. | |
## Drei Faustschläge | |
A. sagt, dass er kurz vor der Attacke Augenkontakt mit dem Polizisten | |
gehabt habe. „Wir retten die Welt, was tut ihr?“, hatte A. im Chor mit den | |
anderen Demonstrant*innen gerufen. Kurz danach hätten ihn mindestens | |
drei Faustschläge getroffen. „Ich hatte einfach Angst um meinen Neffen und | |
wollte zu ihm. Ich hätte nie im Leben damit gerechnet, dass die Polizei so | |
extrem mit Gewalt arbeitet“, sagt A. | |
Als der Polizist von A. ablässt, soll er noch gerufen haben: „Hast du genug | |
Großer?“ A. soll immer wieder beteuert haben, dass er nichts getan habe. So | |
stellt es die Familie dar. Danach wurde er von der Polizei abgeführt, von | |
seiner Familie getrennt und – während die Dämmerung einsetzte – ins | |
abgesperrte Gebiet in Lützerath gefahren. „Ich habe quasi eine Führung | |
durch das Dorf bekommen, ich habe die abgerissenen Häuser und Baumhäuser | |
gesehen. Es war alles so absurd“, sagt A. | |
Die Polizei habe ihn auf dem RWE-Gelände in Lützerath durchsucht und seinen | |
Rucksack ausgeräumt. Ein Beamter hat alles in einem Protokoll festgehalten, | |
das der taz vorliegt. Dort steht aufgelistet, was im Rucksack von A. zu | |
finden war: ein faltbarer Miniregenschirm, ein Mobiltelefon, eine | |
Trinkflasche aus weichem Kunststoff, ein Baguette mit eingebackenen | |
Peperoni und Feta und zwei Servietten, mit denen A. später das Blut von | |
seinem Gesicht wegwischen wird. | |
„Der Polizist, der mich geschlagen hat, war die ganze Zeit dabei“, sagt A. | |
Nach mehreren Bitten, ärztlich behandelt zu werden, habe A. ein Kühlakku | |
für sein Gesicht bekommen. Der Polizist soll ein Kühlakku für seine Faust | |
bekommen haben. Einige Stunden habe es gedauert, bis A. entlassen wurde, in | |
dieser Zeit habe sich niemand ernsthaft medizinisch um ihn gekümmert – | |
obwohl er konstant im Gesicht geblutet habe. | |
## Zwei Kühlakkus | |
A. sei dann von einer Polizistin in einem Gefangenentransport mit einzelnen | |
Zellen eingesperrt und an einem Acker abgesetzt worden, sagt A. Die | |
Metadaten eines Selfies, das er kurz danach mit seinem Handy aufgenommen | |
hat, zeigt 20.41 Uhr an. Es ist stockdunkel. Die Nase von A. ist dick | |
geschwollen, aus einer Platzwunde unter seinem linken blau angelaufenen | |
Auge fließt Blut. | |
„Ich war orientierungslos, verdreckt, es hat stark geregnet, es gab keinen | |
Gehweg, und Polizeiwagen rauschten gefährlich nah auf der Piste an mir | |
vorbei“, sagt A. Sein Handy habe ihm angezeigt, dass er bis Wenlo mehr als | |
eine Stunde zu Fuß brauche. Er habe Angst gehabt, habe sich degradiert | |
gefühlt: „Ich wurde wie Abfall behandelt.“ Das Selfie mit den Wunden im | |
Gesicht postet er in die Familiengruppe auf der Messenger-App Signal. Es | |
dauert ab da noch knapp zwei Stunden, bis er erschöpft zu seiner Familie | |
ins Auto steigen kann. | |
Die Verletzungen im Gesicht von Herrn A. werden nach dem Chaos-Samstag in | |
Lützerath in der Uniklinik Düsseldorf begutachtet und genäht. Der taz | |
liegen mehrere medizinische Protokolle und ein rechtsmedizinisches | |
Gutachten der Ambulanz für Gewaltopfer in Düsseldorf vor: eine gebrochene | |
Nase, Hämatome im Gesicht, eine Platzwunde unter dem linken Auge. | |
Die zuständige Pressestelle des Polizeipräsidiums in Aachen lässt einen | |
Fragenkatalog der taz zum Fall der Familie A. und zum Einsatz in Lützerath | |
trotz einer ausreichenden Bearbeitungszeit von mehr als 24 Stunden | |
unbeantwortet. | |
Ein Anwalt rät der Familie, gründlich darüber nachzudenken, ob sich eine | |
Anzeige gegen den Polizisten, der A. die Nase gebrochen hat, lohnt. „Solche | |
Anzeigen führen meistens ins Leere“, sagt der Anwalt. Polizist*innen | |
würden sich gegenseitig decken, Staatsanwaltschaften die Verfahren | |
irgendwann einstellen. Die Erfolgschancen seien aus strukturellen Gründen | |
eher gering. Familie A. überlegt derweil, wie es nun weitergeht. Es gehe | |
ihm den Umständen entsprechend gut, sagt A. Drei Tage nach seiner Odyssee | |
in Lützerath ist er krankgeschrieben. Er sei wenig schmerzempfindlich, | |
frage sich nun aber andauernd, warum die Polizeigewalt in Lützerath so | |
eskaliert sei. Er frage sich nun jeden Tag: Das alles zum Schutz eines | |
Privatgeländes von RWE? | |
19 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Polizeigewalt-in-Luetzerath/!5906163 | |
[2] /Pressefreiheit-in-Luetzerath/!5909691 | |
## AUTOREN | |
Mohamed Amjahid | |
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